Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters

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Das Geheimnis der Madame Yin - Nathan Winters


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      „Es … es tut mir sehr leid, Sir, aber Inspector Kippwell ist ohne ein Wort zu sagen davon. Ich wusste nicht …“

      „Das sieht ihm ähnlich.“ Edwards zeigte auf die Akten. „Sammeln Sie alles ein. Ich nehm es jetzt mit. Beeilen Sie sich.“

      Während Dyers die losen Blätter aufraffte, lehnte Edwards am Türrahmen, verschränkte die Arme und beruhigte sich wieder. Schließlich war Dyers nicht Kippwell, und der Sergeant hatte seine üble Laune nicht verdient.

      „Was haben Sie da gemacht?“, fragte er freundlicher und bückte sich, um eines der Papiere vom Boden aufzuheben.

      Dyers zupfte seine Weste glatt. „Ich wollte vorbereitet sein.“

      „Vorbereitet? Auf was? Man hat der L-Division den Fall weggenommen.“

      „Das weiß ich, Sir. Es ist nur …“ Er zögerte.

      „Nur Mut.“

      „Ich habe das Mädchen gesehen. Estelle Wiggins, meine ich. Ich will diesen Dreckskerl schnappen.“

      „Tut mir leid, wie's jetzt gekommen ist. Bedanken Sie sich bei Ihrem Vorgesetzten. Er muss sicher irgendeinen Unsinn gemacht haben, sonst hätte er den Fall noch.“

      „Sir. Ich möchte zu Ihnen versetzt werden. Ich kann Ihnen helfen.“

      Edwards hob überrascht eine Augenbraue. „So einfach ist das nicht. Wie stellen Sie sich das vor?“

      „Vielleicht könnten Sie ein gutes Wort für mich einlegen, Sir?“

      „Ich versteh' Sie ja. Aber ich fürchte, Sie überschätzen meine Möglichkeiten. Außerdem arbeite ich alleine.“

      „Bitte, Sir. Nur dieses eine Mal.“

      „Kippwell würde Ihnen den Kopf abreißen, Sergeant.“

      „Das kann auch nicht schlimmer sein, als es jetzt ist.“

      „Ich weiß, was Sie meinen. Kippwell ist ein Holzkopf. Trotzdem können Sie nicht so mir nichts, dir nichts ins Yard wechseln.“

      „Hier bin ich nicht mehr als ein Handlanger. Ich weiß, ich kann mehr leisten. Ich will es beweisen.“

      Das war Edwards nicht unbekannt. Kippwell hatte die Angewohnheit, seine Untergebenen wie Lakaien zu behandeln und sie nicht mehr wissen zu lassen, als er für richtig hielt. „Ich war vor einigen Jahren in der gleichen Lage wie Sie. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich Sie gut verstehen kann.“

      Dyers sagte nichts, aber sein Blick sprach Bände.

      Edwards seufzte. „Also schön. Ich werde mit Chief Inspector DeFries sprechen. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Doch eins will ich Ihnen sagen: Wenn Sie sich bei mir lieb Kind machen wollen, um für Kippwell zu spionieren, dann Gnade Ihnen Gott.“

      „Sicher nicht, Sir. Danke, Sir.“ Dyers strahlte, als hätte er gerade in der Lotterie gewonnen.

      „Danken Sie mir nicht zu früh.“

      Edwards Blick fiel auf die Pappschachtel und er trat näher heran, um den Deckel anzuheben.

      „Die Habseligkeiten der Toten“, erklärte Dyers. „Sie hatte nicht viel bei sich.“

      In diesen Schachteln lagen die Dinge, die einen Menschen vom Leben in den Tod begleitet hatten. Diese Habseligkeiten machten die Person aus, verrieten manchmal, wen sie geliebt hatte, was sie mochte und was sie getan hatte, kurz vor dem Tod.

      Edwards Herz schlug heftiger, als er den Deckel anhob und in die Schachtel blickte.

      Er nahm ein Medaillon heraus, klappte es auf und betrachtete es nachdenklich. Es war aus Gold.

      Die Fotografie darin war vom Themsewasser zerstört worden, dennoch konnte er noch die Umrisse zweier Personen erkennen.

      „Die Eltern“, sagte Dyers tonlos.

      „War Estelle das einzige Kind?“

      „Ja. Sie hatten noch einen Sohn, aber der ist schon seit zehn Jahren tot.“

      Edwards legte das Medaillon beiseite. In der Schachtel fand er noch eine Halskette aus Perlen und einen Ring, in den ein Granat eingefasst war. Sie halfen ihm nicht weiter und verrieten ihm nur, dass der Mörder kein Interesse an wertvollen Gegenständen gehabt hatte. Zuletzt nahm er das gelbe Stück Stoff und die Haarlocke an sich. „Wie bei Madame Yin. Finden wir den Zusammenhang, haben wir eine verdammt gute Spur.“

      Edwards kniff die Lippen zusammen. „Der gleichfarbige Stoff, die Haarlocke, der langsame Tod durch Strangulation. Ich müsste mich sehr täuschen, wenn das ein Zufall ist. Ich denke, ich werde noch einmal mit den Eltern sprechen.“

      „Das wird nicht ganz einfach sein, Sir.“

      „Wieso nicht?“

      „Die Mutter ist zur Kur nach Brighton und ihr Vater ist kurz nach dem Begräbnis nach Indien gereist.“

      „So plötzlich? Und wieso ausgerechnet Indien?“

      „Er besitzt dort einige große Teeplantagen. Haben Sie noch nie von J. W. Teas gehört?“

      „Doch, doch. Schon. Aber wieso lässt er seine Frau alleine zurück?“ Auf Edwards Gesicht zeigte sich Unverständnis.

      „Es ging ihr nicht besonders gut. Die Nerven.“

      „Ein Grund mehr, bei ihr zu bleiben. Nur Feiglinge fliehen“, zitierte er einen alten Spruch aus seiner Militärzeit, während er die Sachen in die Schachtel zurücklegte.

      Dyers reichte ihm eine Fotografie in einem Rahmen. Es zeigte eine junge Frau mit Blumen im Haar, einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen und einem Kanarienvogel, der auf ihrem ausgestreckten Zeigefinger saß. „Ihre Mutter hat es mir gegeben. Mir … und nicht Inspector Kippwell. Das verstehe ich nicht.“

      Edwards schwieg.

      „Sie war sehr schön, nicht wahr, Sir?“

      „Ja, das war sie.“

      „Und jetzt ist sie tot“, murmelte Dyers.

      „Ich denke ich weiß, warum die Mutter Ihnen die Fotografie gegeben hat.“

      „Tatsächlich, Sir?“

      „Sie hat Ihren Blick gesehen. Ihr Mitgefühl gespürt. Kippwell hat das nicht, hat er nie gehabt. Die arme Frau gab Ihnen das Kostbarste, was sie noch von ihrer Tochter hatte. Eine Erinnerung.“

      „Wenn Sie das so sehen, Sir.“

      „Ich muss jetzt gehen“, sagte Edwards abrupt. „Sie hören von mir, Sergeant.“

      Eine Viertelstunde später hatte Edwards eine Droschke gefunden und befand sich auf dem Rückweg nach Scotland Yard. Sein abwesender Blick ruhte auf der träge dahinfließenden Themse, als die Kutsche Vauxhall Bridge überquerte. Vereinzelte Dampfboote stampften durch die Fluten. Der Nieselregen war in Regen übergegangen und die Fassaden der Häuser spiegelten sich in den Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster.

      Während der Fahrt hatte er Estelle Wiggins' Bild in die Hand genommen und betrachtete es. „Ich finde diesen Wahnsinnigen“, sagte er leise zu sich selbst.

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       London Paddington Station Acht Uhr abends

      Celeste glaubte, nur kurz die Augen geschlossen zu haben, als sie jemand an der Schulter berührte und sanft weckte. Sie blinzelte verschlafen und konnte spüren, wie der Zug seine Fahrt verlangsamte. Bremsen quietschten, begleitet vom Pfeifen der Lokomotive. Schwarzer Kohlenrauch wirbelte am Fenster vorbei und Dampf umwallte die Wartenden am Bahnsteig.

      Auf den Bahnsteigen brannten Laternen. Die Uhr über einem der Wartesäle schlug acht Mal zur Abendstunde.


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