Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters

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Das Geheimnis der Madame Yin - Nathan Winters


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sie in einen unruhigen Schlaf gefallen.

      Sie träumte von New York, ihren Eltern, ihrem Bruder, ihrem Zuhause. Eine Erinnerung, die langsam verblasste und nur in Träumen mit Macht wiederkehrte.

      Sie sah sich in ihrem Zimmer stehen, die Birken vor ihren Fenstern wiegten sich im Wind und die Zeisige bauten ihre Nester in den Astgabeln. Die Tür öffnete sich und ihr Bruder trat ein. Er sah wunderbar aus in seiner blauen Uniform mit den weißen Handschuhen.

      Die jungen Damen der hohen Gesellschaft waren ganz vernarrt in sein spitzbübisches Lächeln, den Schalk in seinen Augen und die tiefe Stimme, mit der er ihnen schöne Worte zuflüsterte.

      Er kam, um sich zu verabschieden. In ihrem Traum versuchte sich Celeste zu erinnern, was sie zueinander gesagt hatten, aber es gelang ihr nicht. Sie strich ihm über die Uniformjacke. Er lachte und kniff sie in die Wange. Die Wehmut dieses Augenblicks traf sie selbst im Schlaf und sie wurde unruhig. Ihr großer Bruder war immer für sie da gewesen, und nun ging er fort, um in einem Krieg Bruder gegen Bruder, Freund gegen Freund zu kämpfen. Die Sklaverei hatte Amerika entzweigerissen und Thomas hielt es für seine Pflicht, dem Ruf zu folgen. Das Wort Freiheit war in aller Munde.

      In ihrem Traum hielt sie ihn fest, klammerte sich an ihn. Ein dumpfes Klopfen lenkte sie ab und brachte das Konstrukt ihres Traums ins Wanken. Dann klopfte es wieder und wieder und ihr erwachender Verstand begriff, dass jemand an ihrer Zimmertür war. Sie richtete sich auf, schlug die Decke über ihre Habseligkeiten und stand auf. Ein Blick auf die kleine Uhr, die sie an einer Kette um den Hals trug, verriet ihr, dass es bald Mitternacht war.

      „Ja, bitte?“, rief sie schläfrig.

      „Ich bitte um Verzeihung, Madam. Ich bin es, Francine. Ihr Gepäck ist eingetroffen.“

      Er waren vier kräftige Personen nötig, um Celestes gesamtes Gepäck zu tragen, das aus zwei Schrankkoffern, einer großen Überseetruhe und diversen Hutschachteln bestand. Francine war die Glückliche, die nur zwei Reisetaschen und ein Kulturköfferchen zu tragen hatte.

      „Bitte stellen Sie es dort ab.“ Celeste zeigte auf den freien Platz vor dem Kleiderschrank. „Haben Sie vielen Dank.“

      Nachdem sich auch Francine ihrer Last entledigt hatte, fragte sie: „Haben Sie noch einen Wunsch, Madam?“

      „Ich muss eingeschlafen sein. Könnte ich noch etwas zu essen bekommen und vielleicht ein Glas Milch? Ich sterbe vor Hunger.“

      Francine seufzte müde und lächelte dann. „Ich bringe Ihnen ein paar Sandwiches … und ein Glas Milch.“

      Das Dienstmädchen machte einen Knicks und ging. Celeste wandte sich verwundert dem Berg von Koffern zu. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, so viel eingepackt zu haben.

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       8. September 1877 Früh am Morgen

      In der Nacht hatte es geregnet. Nun rannen die letzten Tropfen an den Fensterscheiben herab oder tropften in gleichmäßigem Rhythmus von den Vordächern. Die tiefhängenden Wolken hatten sich aufgelöst. Die Sonne brach durch. Von den Straßen stieg Dampf auf, über der Themse schwebten Nebelbänke.

      So gut hatte Celeste schon lange nicht mehr geschlafen. Die Arme von sich gestreckt öffnete sie die Augen und blinzelte.

      Sie fühlte sich kräftig und ausgeruht. Voller Tatendrang schwang sie die Beine aus dem Bett und zog an der Klingelschnur, die neben dem Sekretär hing.

      Ein anderes Dienstmädchen, nicht Francine, kam und begann sie zurechtzumachen. Celestes Haar war von der Reise arg in Mitleidenschaft gezogen worden und das Mädchen hatte ihre liebe Mühe, ihr nicht jedes einzelne Haar vom Kopf zu reißen. Zu gerne hätte sich Celeste von den Schmerzen abgelenkt, der ihr die Tränen in die Augen trieb, und die Zeit genutzt, um mehr über das Haus Ellingsford und seine Bewohner zu erfahren. Doch mehr als ein „Ja, Madam“, oder ein „Nein, Madam“, oder „Wie Sie wünschen“, kam dem jungen Ding nicht über die Lippen.

      Immerhin: Ihr Name war Harriet, so viel gab sie dann doch von sich preis.

      Nach einer Stunde war Celeste fertig frisiert, geschminkt und angekleidet. Das Mädchen hatte sich mit dem Hinweis verabschiedet, dass das Frühstück bereit stehe. Nun stand Celeste alleine vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer, klippte die bernsteinfarbenen Ohrringe an ihre Ohrläppchen und überprüfte ein letztes Mal den Sitz ihres Kleides.

      Zufrieden mit dem Resultat verließ sie ihr Zimmer.

      Auf dem Weg zur Treppe hörte sie Dorotheas aufgeregte Stimme aus einem der anderen Zimmer. Celeste zögerte nicht lange und schlich sich an die Tür heran, aus der die Stimmen drangen. Ein letzter wachsamer Blick den Flur entlang – niemand war zu sehen.

      „Wie konntest du nur zu so etwas deine Einwilligung geben, Mutter?“

      Die Antwort war zu leise, um sie zu verstehen.

      „Das ist ein Albtraum! Warum hasst er mich so?“

      Wieder folgte eine leise Antwort.

      „Ach nein?!“ Dorotheas Stimme überschlug sich. Celeste hatte sie während ihrer ganzen Bekanntschaft noch nicht so aufgeregt erlebt. „Er gibt mich weg wie irgendein unfähiges Dienstmädchen. Ich kenne diesen Mann nicht einmal! Vater zerstört mein Leben, aber das ist ihm völlig egal.“

      „So beruhige dich doch …“ Mehr verstand Celeste nicht, auch wenn sie ihr Ohr nun flach gegen die Tür presste.

      „Er hat mich nur zurückgeholt, weil ich nützlich bin. Ein gutes Geschäft!“

      Schritte näherten sich der Tür und Celeste stolperte zurück, doch sie kam nicht schnell genug weg. Dorothea stürzte ihr entgegen und prallte gegen sie.

      Ohne Celeste eines Blickes zu würdigen, drängte sie sich vorbei und rannte schluchzend in ihr Zimmer.

      Celeste blieb überrascht stehen, bis sie das helle Quietschen von Metall dazu brachte, in das Zimmer zu sehen.

      Lady Ellingsford war in ihrem Rollstuhl näher gerollt. In ihrem Blick lag eine Mischung aus Interesse und Skepsis.

      „Ich … ich“, begann Celeste mühsam. „Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mich bei Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu bedanken. Sie … Sie haben ein wunderbares Haus.“

      Lady Ellingsford nahm das Kompliment schweigend hin. „Sie wollten zu mir?“

      „Ja … ich meine, nein. Ich hatte Dorotheas Stimme gehört. Ich wollte sie … bitten, mir London zu zeigen. Aber wie mir scheint … kam ich unge …“

      „Wie gut kennen Sie meine Tochter?“, unterbrach sie Lady Ellingsford.

      „Ich habe sie bei Mrs. Roover getroffen. Vor etwa einem halben Jahr. Wir hatten uns unterhalten und eine Partie Krocket im Park gespielt. Ich hatte gar keine Chance.“ Celeste lachte verlegen.

      Lady Ellingsford sah sie einen Moment lang nachdenklich an, dann lächelte sie matt. Celeste wusste es nicht zu deuten, bis ihre Ladyschaft sagte: „Ich denke, es ist gut für sie, dass Sie da sind.“

      „Ich fürchte nur, Ihr Mann ist da anderer Meinung.“

      „Das überrascht mich nicht. Aber er sorgt sich um mich. Wegen meiner Krankheit … und er möchte es vermeiden, mich allzu sehr aufzuregen. Er gibt meinen Wünschen meist nach. Deswegen durften Sie bleiben.“

      „Sie haben dafür gesorgt?“

      „Ich und meine Tochter. Sagen Sie, wann sind Sie geboren?“

      Celeste verwirrte die Frage und sie musste tatsächlich einen Moment lang nachdenken.

      „Ich wurde am 30. August 1848 geboren.“

      „Also sind Sie Jungfrau. Das habe ich mir gedacht“, sagte Lady Ellingsford. „Sie besitzen ein gutes Herz. Meine Tochter


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