Das Geheimnis der Madame Yin. Nathan Winters
Читать онлайн книгу.auch immer. Ich werde sie besuchen.“
„Gibt es noch irgendetwas Neues wegen Madame Yin?“
„Ich wollte gleich zu ihrem Haus in die Newcomen Street fahren, um mich da etwas umzusehen.“
„Nun gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden, Robert.“
„Mach ich das nicht immer, Sir?“
„Nein, eigentlich machen Sie das nie.“
Edwards wandte sich zum Gehen, doch DeFries hielt ihn auf. „Sergeant Fulston ist in seinem Büro.“
„Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn nehme, Sir.“
„Nein, das haben Sie nicht. Aber da das Gespräch schon auf ihn gekommen ist, halte ich es für eine gute Sache. Fulston wird Ihnen nützlich sein, außerdem kann es ihm nicht schaden, wenn er ein wenig Erfahrung sammelt.“
„Aber, Sir … ich …“
„Guten Tag, Inspector.“
Edwards ließ theatralisch den Kopf sinken. „Wie Sie meinen, Sir.“ Er schloss die Tür hinter sich.
Fulston tat ihm jetzt schon leid. Er selber war ein grauenhafter Untergebener gewesen und glaubte nicht, dass er als Vorgesetzter besser sein würde. Mit Riesenschritten stapfte er in das Büro seines neuen Sergeant. „Fulston!“, donnerte er mit tiefer Stimme.
„Sir!“ Der junge Polizist fuhr erschrocken zusammen. Ein paar Aktenblätter wirbelten um ihn herum und segelten nun langsam zu Boden. Die Augen hinter den runden Brillengläsern wirkten riesengroß.
„Klopfen Sie sich den Staub ab, Sergeant. Sie kommen jetzt mit mir. Chief Inspector DeFries hat Sie mir zugeteilt.“
„Ihnen, Sir?“ Fulston bekam hektische Flecken. Ein Gang zum Schafott hätte für ihn vermutlich nicht schrecklicher sein können, wie Edwards grinsend feststellte.
„Wir werden sicher gut zusammenarbeiten. Ich freue mich schon darauf, Sie in Aktion zu erleben.“
„Ich … ich … hab … noch zu tun … Sir. Diese Akten …“
Edwards nahm eine davon vom Stapel und sah auf den Deckel. „1870? Die Fälle sind ja uralt. Kommen Sie, ich habe etwas Aktuelleres für Sie.“
Ohne auf den erneuten Protest zu achten, ging Edwards aus dem Büro hinunter ins Foyer.
„Wohin fahren wir denn?“ Fulston beeilte sich, Schritt zu halten, während er versuchte, den rechten Ärmel seines Mantels zu erwischen.
„Zuerst nach Bedlam.“
„Was tun wir denn da?“
„Sie gar nichts. Sie warten, während ich mit Mrs. Wiggins spreche.“
„Sie ist im Irrenhaus? Was wollen Sie denn da erfahren?“
Edwards blieb abrupt stehen und sah seinen Sergeant strafend an. „Das werde ich Ihnen wohl erst sagen können, wenn ich mit Ihr gesprochen habe.“
„Natürlich, Sir.“
Edwards ging weiter. „Danach fahren wir nach Lambeth.“
„Was? Lambeth? Wieso denn ausgerechnet da hin?“
„Was wissen Sie über den Fall, Sergeant?“
„So gut wie gar nichts, Sir.“
„Sie können sich in die Akten einlesen, während ich mit Mrs. Wiggins rede. Gehen Sie und holen Sie die Akte aus meinem Büro, sie liegt auf meinem Schreibtisch.“
Als Fulston mit der Akte wieder zurückgeeilt kam, sprach Edwards weiter, als wäre dieser gar nicht weg gewesen. „Also, das zweite Opfer hieß Madame Yin. Sie war eine Größe in der Londoner Unterwelt. Prostitution, Opium und was weiß ich noch alles. Sie war sehr umtriebig. Sie wohnte in Lambeth und da werden wir uns mal umsehen.“
„Wenn Sie meinen, Sir.“
„Jetzt machen Sie mal nicht so ein Gesicht. Sie werden da nicht gleich gefressen. Wir ermitteln ein wenig, befragen die Leute, vielleicht nehmen wir jemanden fest, oder wir schlagen ein paar Köpfe aneinander. Sie werden sehen, es wird Ihnen gefallen.“ Edwards freute sich diebisch über die Panik, die in Fulstons Gesicht fröhliche Kapriolen schlug.
„Köpfe zusammenschlagen?“
Edwards grinste. „Sind Sie bewaffnet?“
„Bewaffnet? Nein, Sir.“
„Wo ist denn Ihre Waffe?“
„Ich … ich besitze keine.“
„Das ändern Sie bis morgen. Verstanden?“
„Aber ich kann nicht schießen.“
Edwards wischte die Bemerkung beiseite. „Das lernen Sie schnell. Keine Sorge. Ich werd's Ihnen zeigen.“
Fulston nickte stumm.
Während sie die Stufen zum Foyer hinabstiegen, musste Edwards an Dyers denken. Der Mann hätte sein rechtes Bein und seine rechte Hand dafür gegeben, um an den Ermittlungen beteiligt zu werden. Es tat Edwards leid, ihn enttäuschen zu müssen, und er beschloss, ihn persönlich über die Absage zu informieren.
Sie steuerten gerade auf den Ausgang zu und hatten die Tür schon fast erreicht, als Doktor Aegelwoods Assistent aus dem Keller heraufkam. „Ah, Inspector Edwards!“ Er lief ihnen nach.
„Morgen, Willoughby. Was gibt es denn so Dringendes?“
„Es geht um die Tote. Madame Yin. Der Doktor hat die Untersuchungen abgeschlossen.“
„Sehr gut. Hören wir mal, was uns der gute Doktor zu sagen hat. Kommen Sie, Fulston.“
„In den Leichenkeller?“ Sofort kamen die hektischen Flecken zurück.
„Keine Angst. Die da unten werden Sie schon nicht beißen. Es sei denn Dr. Aeglewood hat mal wieder einen schlechten Tag. Dann würde ich ihm allerdings nicht die Hand geben.“
„Meinen Sie, Sir?“
„Unbedingt.“
Sie betraten die Kellerräume, in denen es nie wärmer als zwölf Grad wurde, und folgten einem langen Flur aus weiß gekalkten Backsteinen. Gaslampen beleuchteten die Wände.
Willoughby führte die beiden Beamten durch eine Doppeltür, die beim Hin- und Herschwingen leise quietschte, in einen mit weißen Fliesen gekachelten Raum. Hier lagen vier Leichen auf Bahren aus Metall. Saubere Leinenlaken bedeckten die Körper.
Es war so still, dass jedes laute Geräusch wie ein Sakrileg erschien.
In solchen Momenten geschah es, dass die Toten die Lebenden daran erinnerten, dass sie da waren.
Dann glucksten und blubberten sie. Manche rülpsten sogar, wie nach einem guten Essen. Faulgase waren dafür verantwortlich. Aeglewood hatte eine poetischere Bezeichnung dafür gefunden: Die Toten sangen ein letztes Mal.
Er erwartete sie bereits.
Seine Nase war tiefrot und wund, als sie näher traten, schnäuzte er sich zum wiederholten Mal in ein Taschentuch. „Meine Herren. Ich bin mit Yins Untersuchung fertig.“ Dann stockte er. „Sergeant Fulston? Ist Ihnen nicht wohl?“
„Geht … schon“, brachte dieser nur mühsam heraus.
Aeglewood sah ihn zweifelnd an. „Wollen Sie sich lieber setzten?“
„Nein, es geht mir gut, wirklich“, blieb Fulston hartnäckig, „es ist nur dieser … Geruch.“
„Irgendwann gewöhnt man sich daran.“ Mit diesen Worten zog Aeglewood das Leichentuch beiseite, damit sie einen Blick auf den nackten Leib der Toten werfen konnten.
Ihre Haut wirkte merkwürdig weiß, nur an der Unterseite ihres Körpers hatten sich große dunkle Flecken gebildet. Ihr Mund stand ein wenig offen, sodass Edwards die