Gestohlene Identität - Roland Benito-Krimi 5. Inger Gammelgaard Madsen
Читать онлайн книгу.wüsste, ob Sara die Tabletten auch geschluckt hätte. Vielleicht hatte sie sie einfach wieder ausgespuckt, weil sie geplant hatte zu fliehen. Glücklicherweise hatte er die Oberärztin dazu überreden können, einen Zettel mit den Namen zu schreiben und wie viel Milligramm die Patientin an dem Abend eingenommen hatte, und er hatte gerade mit Henry Leander gesprochen, dem zuverlässigsten Arzt, den er kannte, auch wenn er der Arzt von Toten war, und es nicht viel ausmachte, wenn er einen verkehrten Schnitt setzte. Er bekam nie Beschwerden von einem Patienten. Aber er hatte sachlich beurteilt, dass es mit diesen Stoffen intus – also falls Sara sie eingenommen hatte – so gut wie unmöglich wäre, einem anderen Menschen die grausamen Verletzungen zuzufügen, die er im Obduktionsbericht beschrieben hatte.
Sara Dupont hatte an diesem Abend nur zweimal Besuch gehabt: Ihren Mann Kasper, der gegen 20 Uhr schnell wieder verschwunden war, und danach war eine Christina Toft Hansen als Freundin der Familie registriert. »Nettes Mädchen«, hatte Mai Andersen hinzugefügt und auf seine Aufforderung hin eine kurze Beschreibung gegeben, die auf nahezu jedes Mädchen heutzutage zutreffen konnte. Aber hier war kein Zeitpunkt registriert, wann sie die Abteilung verlassen hatte. Mai Andersen meinte, das müsse ein Versehen gewesen sein. Roland hatte Mikkel gebeten, das Mädchen ausfindig zu machen.
Es fiel ihm schwer, nicht auf den alten Bericht zu schielen, den Morten Holsted über die Kindstötung angefertigt hatte. Er war ein sehr kundiger Kollege und machte nie Fehler, daher zweifelte Roland nicht daran, dass in dem Mordfall korrekt ermittelt worden war. Aber irgendwie fehlte etwas. Er beschloss, sich mit Morten über den Fall zu unterhalten, auch wenn Kurt Olsen, als er ihm gegenüber die Sache erwähnte, ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht hatte, dass seine Priorität die Suche nach Sara Dupont sei. Aber konnte er die beiden Fälle trennen? Konnte er Sara finden, ohne die ganze Geschichte hinter ihrem Schicksal zu kennen?
Als das Telefon klingelte, war er ein wenig überrascht, dass es Henry Leanders Stimme war, die er wieder am Ohr hatte. Er hatte doch gerade erst aufgelegt.
»Kannst du gleich mal in die Rechtsmedizin kommen, Roland? Wir bekommen etwas rein, das sicher auch dich angeht.«
»Etwas? Was denn?«
»Ein Jogger hat im Fløjstrupper Wald einen makabren Fund gemacht. Das Gesicht ist weg und der Körper ziemlich zugerichtet. Aber es heißt, es sei eine Frau. Rothaarig. Schlank. Das könnte vielleicht die Gesuchte sein.«
Roland stand so schnell auf, dass der Bürostuhl über den Boden rollte und gegen die Wand knallte.
12
September, ein Jahr zuvor
»Bitte schön, trink das hier! Das Ganze!«
Benedikte Steenberg reichte ihrer Tochter auf dem Sofa, wohin sie sie beordert hatte, ein Glas Wasser. Wie immer verhätschelte sie ihr einziges Kind mehr als notwendig, obwohl Sara der Grund dafür war, dass sie das einzige Kind geblieben war. Während der Geburt waren Komplikationen aufgetreten, die dazu führten, dass sie ihr anschließend die Gebärmutter entfernen mussten, was natürlich ausschloss, dass Sara Geschwister bekam. Sara hatte nie gefragt, was eigentlich schiefgegangen war, wohl hauptsächlich wegen der Schuldgefühle, die sie wegen dieser Tragödie hatte, aber sie hatte trotzdem genügend von großen Fibromen, grünem Fruchtwasser und der Angst ihrer Eltern, sie zu verlieren, gehört. Aber das war nichts, worüber irgendeiner von ihnen Lust hatte zu sprechen. Erst recht nicht jetzt. Sara wollte nicht einmal daran denken.
»Mama, dass mir ein bisschen schwindelig ist, hat nichts zu sagen. Das ist ganz normal.«
»Denkst du daran, Eisen zu nehmen?«
»Natürlich. Frag einfach meinen Bauch danach.« Pflichtschuldig trank sie aus dem Glas.
»Iss ein paar Dörrpflaumen.«
»Ja, ja, Mama.«
Benedikte wrang den Lappen über dem Putzeimer aus und warf wieder einen besorgten Blick auf Sara, die aufstehen und weiterputzen wollte.
»Du bleibst schön sitzen, Fräulein. Ich bin richtig froh, dass ich hergekommen bin, als du mitten am Großreinemachen warst. Will Kasper das denn nicht für dich tun?«
»Doch, sicher bereitwilliger, als Papa es für dich tut. Aber ich will ja keine schwangere Ehefrau sein, die gar nichts kann.«
»Du bist im dritten Monat, Schätzchen. Du arbeitest die meiste Zeit des Tages und solltest dich ausruhen, wenn du heimkommst …«
»Heute ist mein freier Tag«, unterbrach sie.
»Eine Fehlgeburt innerhalb der ersten Monate ist recht häufig, wenn man nicht aufpasst. Das weißt du doch. Kasper sollte dir verbieten, so ein Projekt im ganzen Haus im Alleingang anzufangen. Aber so wie ich dich kenne, weiß er das bestimmt nicht mal«, fuhr ihre Mutter beharrlich fort.
Sara zuckte bloß die Schultern, stand auf und stellte das leere Wasserglas in die Spüle. Dann brachte sie den Müll raus, das dürfte sie ja nicht belasten.
Der Garten sandte Herbstdüfte in den dunstigen Vormittagssonnenschein. Das Laub mancher Bäume färbte sich schon golden. Die frische Luft ließ den Schwindel verfliegen. Erleichtert setzte sie sich auf die Bank beim Gartentisch und schloss die Augen, das Gesicht der Sonne zugewandt, immer noch mit der warmen Glut des Sommers, aber nicht so intensiv. Sie faltete die Hände über dem Bauch, wie um den kleinen Fötus vor den Sonnenstrahlen zu beschützen. Er war jetzt fast acht Zentimeter groß und die kleinen Fingerchen hatten bereits einen persönlichen Fingerabdruck gebildet. In nur sechs Monaten würde das Kind ein Teil ihres Lebens sein. Ein kleiner Mensch, der total abhängig von seinen Eltern war. Wie oft hatte sie nicht versucht, eine nervöse Mutter zu beruhigen, die Angst hatte, der Verantwortung nicht gerecht zu werden. Aber sie hatte überhaupt nicht gewusst, wie sich diese Angst anfühlte. Bis jetzt nicht. Plötzlich war sie nicht länger diejenige, die auf Baby-Blogs im Internet Ratschläge gab, jetzt war sie diejenige, die sie suchte. Ihre Mutter war keine Hilfe. Im Gegenteil. Selbstverständlich könnte sie abtreiben, aber wieso sollte sie?
»Genau! So sollst du dich entspannen.« Benedikte setzte sich neben sie auf die Bank und zog ein paar hellblaue Haushaltshandschuhe aus. »Jetzt ist das Schlimmste überstanden. Die Böden glänzen, sodass man sich darin spiegeln kann.«
»Danke, Mama.« Sara drückte ihre Finger, trotzdem dankbar für die Hilfe, die anzunehmen sie unerwartet gezwungen war. Sie genossen die Stille und die vermutlich letzte Wärme des Herbstes. Der Gesang der Amseln war längst verklungen.
»Was hat es mit diesem Schmuck auf sich?«, fragte Benedikte plötzlich aus heiterem Himmel.
»Welchem Schmuck?«
»Der, von dem du ein Bild auf Facebook gestellt hast. Dieses kleine Schmuckstück mit den sonderbaren Schnüren. Hat sich der Besitzer gemeldet?«
»Ach, das.« Unwillkürlich zog Sara ihre Hand von der ihrer Mutter weg, als ob die Berührung verraten würde, was sie selbst vor Kasper verborgen gehalten hatte. Manchmal vergaß sie, dass alle auf Facebook diese Posts sehen konnten, nicht nur die, für die sie sie gedacht hatte.
»Wie hast du den gefunden?«
»Ähm, das ist lange her, ich kann mich gar nicht daran erinnern. Ist ja auch egal. Willst du einen Kaffee? Es ist doch schönes Wetter. Wir können hier draußen sitzen.«
»Kein Kaffee für dich, Fräulein. Mein Enkelkind verträgt kein Koffein.«
»Nein, Mama. Natürlich nicht.« Sie eilte in die Küche und füllte den Wasserkocher. Draußen am Tisch hatte ihre Mutter eine Zigarette angezündet. Das tat sie nicht, wenn Sara in der Nähe war. Wegen des Kindes. Sollte sie das Foto wieder löschen? Niemand hatte sich als Besitzer des Schmuckes gemeldet. Vielleicht hätte sie es herausbekommen können, falls er dem Dieb gehörte. Dem, der die Tasche in Venedig gestohlen, deren Inhalt samt ihrem Portemonnaie mit Kreditkarten und ihrem Pass geleert und sie wieder zurückgegeben hatte. Hatte diese diebische Person ihren Schmuck darin verloren, ohne es zu wissen? Sie beschloss das Bild zu löschen. Sie hatte es vor zwei Monaten hochgeladen, und wenn sich bis jetzt keiner gemeldet hatte, war es wohl auch für niemanden von Bedeutung.
»Kaffee