Michael Endes Philosophie. Alexander Oberleitner

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Michael Endes Philosophie - Alexander Oberleitner


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weder Momo noch Die unendliche Geschichte dies in irgendeiner Weise nötig. Beide sind auf ihre jeweilige Weise großartige Bücher, welche weder einer philosophischen noch einer psychologischen noch auch einer literaturwissenschaftlichen Analyse bedürfen, die ihren Wert erst zweifelsfrei und »objektiv« zu beweisen hätte. Ohnehin gilt ewig, was Hermann Broch in den Notizen zum »Tod des Vergil« schreibt: »Ein Kunstwerk rechtfertigt sich nicht durch theoretische Erwägungen, sondern durch sich selbst.«2

      Nichtsdestoweniger würde ich es natürlich begrüßen, wenn diese Arbeit, indem sie das philosophische Denken Michael Endes kritisch zu würdigen versucht, auch dabei helfen könnte, einen zugleich tieferen und umfassenderen Blick auf sein Werk zu ermöglichen. Dies wäre mir umso mehr ein Anliegen, als die (öffentliche) Ende-Rezeption diesen Blick bisher eher verstellt hat: Es scheint, daß gerade Michael Ende einer jener Autoren war, die am meisten unter oberflächlicher, verständnisloser und oft auch überheblicher Kritik zu leiden hatten.3 Zwar gibt es, vom Gilgamesch-Epos aufwärts, wohl kaum ein bedeutendes literarisches Werk, über das nicht jeden einzelnen Tag irgendein selbsternannter »Experte« im Brustton der Überzeugung haarsträubenden, hanebüchenen Unsinn von sich gibt. Dennoch macht es schlicht zornig, wenn ein zutiefst systemkritisches Werk wie Momo in der Rezeption auf eine Stufe mit primitiven Esoterik-Büchlein à la »Buddhismus für Manager« gestellt wird;4 mehr noch, wenn ein Roman wie Die unendliche Geschichte, der einige der tiefsten Fragen des Menschengeschlechts in großartige Bilder faßt, in der Verfilmung gegen den erbitterten Widerstand des Autors zu einem plumpen, dumpfen, völlig sinnfreien Actionspektakel verwurstet wird, dessen einziger Zweck es ist, den Kinobesuchern das Geld aus der Tasche zu ziehen;5 und am meisten, wenn dann von ihrer intellektuellen Überlegenheit allzu überzeugte »Kritiker«, die das Buch selbst offenbar gar nicht gelesen haben, sich berufen fühlen, auf Basis dieses filmischen Machwerks in nasalem Tonfall über Michael Ende zu richten.6 Wenn diese Untersuchung nur ein klein wenig dazu beitragen könnte, Rezensenten wie diese vor ihrer eigenen Ignoranz zu schützen, würde mich das von Herzen freuen.

      Wie Endes Werke selbst und ein Großteil der verwendeten Sekundärliteratur, so wurde auch diese Arbeit nach den Regeln der sogenannten Alten Rechtschreibung verfaßt, um möglichst einheitliche Orthographie zu gewährleisten.

Wien, im August 2020 Alexander Oberleitner
TEIL I GRUNDLAGEN

       A.Einleitung

      […] es ging ihm in der Hauptsache um das Denken. Es war ein Denken in Bildern, ein Denken, das versuchte, die Welt auf einen Nenner zu bringen. […] Er war indessen alles andere als verschwommen-schwärmerisch; die Welt schien ihm vielmehr ein Rätsel, das man mit logischem Werkzeug lösen könne […]. – Rainer Lübbren über Michael Ende –

       1.Motivation

      Gibt es ein philosophisches Denken, das sich in Michael Endes Werken spiegelt? Die Frage allein mag in manchen Ohren absurd klingen – scheint sich doch die Kritik bis heute noch nicht einmal einig zu sein, ob Ende ein Schriftsteller von Rang und Bedeutung ist. In literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerken sucht man seinen Namen meist vergeblich;7 wo überhaupt, taucht er in der Regel als »[e]rfolgreicher Kinder- und Jugendbuchautor«8 oder dergleichen auf. Abgesehen davon, daß letzteres als Pauschalurteil ganz entschieden Unsinn ist (wie jeder weiß, der auch nur einen kurzen Blick in Endes Erzählband Der Spiegel im Spiegel geworfen hat), implizieren derartige Punzierungen gemeinhin, daß das betreffende Werk wohl zu banal und oberflächlich sei, um als »ernsthafte Literatur« gelten zu können – eine Haltung, die selbst von beträchtlicher Oberflächlichkeit zeugt und nicht selten dazu dient, dem Kritiker die konkrete Beschäftigung mit diesem Werk zu ersparen. Das überlegene Lächeln, mit dem sich manch selbsternannter Literaturexperte zu »Endes außerordentlich populären Romanen« herabließ und -läßt, um sie nach kaum einem halben Blick in wenigen Worten abzutun,9 gehörte denn auch zu jenen Dingen, die den Autor zeit seines Lebens am meisten erzürnten – und das wohl zu Recht. Angenommen selbst, Die unendliche Geschichte wäre tatsächlich ein »Kinder- und Jugendbuch« (was äußerst fragwürdig ist):10 Würde dies ihre literarische Bedeutung etwa von vornherein herabsetzen? Wäre deshalb etwa ausgeschlossen, daß sie tiefe Gedankengänge birgt, die einer näheren Betrachtung durchaus wert sind? Wenn wir im 21. Jahrhundert immer noch nicht gelernt haben, uns von solchen Vorurteilen zu lösen, sollten wir auf die Kritik literarischer Werke besser gänzlich verzichten. Uns Philosophen sollte derartige Kurzsichtigkeit, die weit eher den Kritiker als den Kritisierten entlarvt, jedenfalls von Berufs wegen fremd sein.

      Daß Michael Ende ein (nicht nur) philosophisch gebildeter Mann war, wissen wir aus zahlreichen direkten wie indirekten Belegen. Friedrich Nietzsche etwa, der dem Autor wohl schon durch die anthroposophische Prägung seiner Jugendzeit vermittelt wurde (s.u.), wird in der Unendlichen Geschichte sogar wörtlich zitiert;11 eine kurze Passage in Momo erweist sich bei genauerem Hinsehen als ironische Anspielung auf den Marxismus,12 mit dem Ende durch sein großes Vorbild Bertolt Brecht in Berührung kommen mußte. Seine intensive Auseinandersetzung mit anderen Denkern, wie z. B. Kierkegaard,13 ist durch das Zeugnis von Freunden und Bekannten belegt; über den Widerhall einer beinah lebenslangen Beschäftigung mit fernöstlichen, v. a. japanischen Denkschulen in seinen Büchern wurde viel geschrieben.14 Endes Werk nach dem philosophischen Denken des Autors zu befragen, ist vor diesem Hintergrund wohl kaum abwegig. Wäre es nicht vielmehr seltsam, eine strikte Trennlinie zu ziehen zwischen dem Menschen Ende, dem es »in der Hauptsache um das Denken [ging]« (Rainer Lübbren), und dem Schriftsteller, in dessen Werk sich nichts von alledem spiegeln sollte?

      Ein weiterer, nicht weniger evidenter Grund, nach dem Denken Michael Endes zu forschen, findet sich im Charakter seines Werkes selbst. Entsprechend der spezifischen Poetologie des Autors, an die wir uns im Rahmen dieses Teils der Untersuchung noch annähern werden,15 regen seine Bücher praktisch in ihrer Gesamtheit dazu an, gleichsam einen Blick hinter die Kulissen zu werfen; ja, sie verleiten den Leser geradezu, poetische Bilder nicht etwa für sich stehen zu lassen, sondern nach zugrundeliegenden Ideen und Konzeptionen zu fragen. Die Art und Weise dieses Fragens kann, je nach dem Interesse des Lesers, ganz verschieden sein – so mag der Psychologe oder Sozialwissenschaftler einen völlig anderen Zugang zum Denken Endes finden als der Philosoph. Daß aber der Grundcharakter des Endeschen Werkes, den Leser zum Mit- und Nachdenken anzuregen, nicht etwa bloß im Auge des Betrachters, sondern in der Intention des Autors liegt, erläutert Ende selbst z. B. in Die Archäologie der Dunkelheit, wo es heißt:

      Im Großen und Ganzen verharrt der jetzige Leser in einer konsumtiven Haltung. Während es mir gerade darum zu tun ist, Bildergeschichten zu finden, […] die den Leser eintreten lassen, um ihn zum Mitwirkenden zu machen. (AD 52 f.)

      Können wir nicht dieselbe aktive Rolle, die Ende hier dem Leser seiner Werke zuweist, für uns in Anspruch nehmen, wenn wir auf wissenschaftliche Weise nach seinem Denken forschen? Zu diesem Zweck wollen wir zuallererst die bisher vorliegende Literatur zu unserem Thema in den Blick nehmen.

       2.Auswahl bisher vorliegender Veröffentlichungen zum Forschungsbereich

      Die Michael-Ende-Forschung, schon zu Lebzeiten des Autors ein weites Feld, hat nach seinem Tod 1995 noch an Bedeutung zugenommen und ist mittlerweile kaum mehr zu überblicken. Indes geht die überwiegende Mehrzahl jener Untersuchungen, die ein Mindestmaß an Seriosität aufweisen,16 von primär literaturwissenschaftlichen Fragestellungen aus, welche für


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