Michael Endes Philosophie. Alexander Oberleitner

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Michael Endes Philosophie - Alexander Oberleitner


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seiner Idee entsteht Weltliteratur.

      Als Die unendliche Geschichte im Herbst 1979 in einer Auflage von nur 20.000 Exemplaren erscheint, ist Ende der Stoff unter den Händen zu einem hochkomplexen Roman mit kunstvoll ineinander verschachtelter innerer und äußerer Handlung gewachsen, der gleichzeitig durch die Unmittelbarkeit und Vitalität seiner Bilder besticht. Die Vorsicht des Verlags, der eine Überforderung der Leserschaft befürchtet, erweist sich bald als völlig unbegründet: Nicht nur wird der Roman mit Preisen regelrecht überhäuft, auch die Verkaufszahlen steigen rasch in schwindelerregende Höhen. Übersetzungen in alle Weltsprachen und damit der internationale Durchbruch lassen nicht lange auf sich warten. Auch Momo wird nun in zahlreiche Sprachen übersetzt, wobei sich vor allem die Übertragung ins Japanische als folgenreich erweist: Die massiv von Phänomenen der Entwurzelung bedrohte japanische Gesellschaft saugt das kapitalismuskritische Märchen Endes geradezu auf. Auf diesem Höhepunkt des Erfolges tritt der Produzent Dieter Geissler mit dem Projekt einer Verfilmung der Unendlichen Geschichte an den Autor heran. Nach langem Zögern willigt Ende unter der Bedingung ein, daß die künstlerische Botschaft seines Romans gewahrt bleiben müsse. Geissler indes wählt – ohne Ende davon in Kenntnis zu setzen – die Neue Constantin von Bernd Eichinger (Das Boot) als Partner, der Die unendliche Geschichte rücksichtslos zu einem sinnfreien Actionspektakel Hollywoodscher Prägung pervertiert. Als der Autor dies zu spät bemerkt und die Notbremse ziehen will, droht ihm Eichinger wütend mit einer Schadenersatzklage in Millionenhöhe. Ende kann schließlich den (kommerziell sehr erfolgreichen) Film The Neverending Story, dessen Handlung aus Marketinggründen in eine amerikanischen Großstadt verlegt worden ist, nicht verhindern: Ein Prozess, den er gegen die Produktionsfirma anstrengt und der ihn an den Rand des finanziellen Ruins bringt, geht verloren. Daß das Gericht dabei sinngemäß feststellt, die erwiesenermaßen grobe Verzerrung von Endes Roman sei nicht weiter relevant, da dieser sich vorwiegend an jugendliches Publikum wende, muß Ende, der sich sein Leben lang gegen die Stigmatisierung als »Kinderbuchautor«, ja gegen die Einteilung von Literatur in »hochwertige« Erwachsenen- und »unterhaltende« Kinderliteratur als solche wehrt, als besondere Verhöhnung empfinden.34 Seine schwerste Prüfung steht ihm indes noch bevor: Seine energische Frau Ingeborg, die sich bis zuletzt mit ganzer Kraft gegen The Neverending Story gestemmt hat, stirbt, unmittelbar nachdem sie den Film in einem italienischen Kino gesehen hat, völlig unerwartet an einer Lungenembolie. Erschüttert bricht Ende die Zelte in Italien ab und kehrt nach München zurück, wo er erfährt, daß er durch betrügerische Machenschaften seines Steuerberaters vor dem endgültigen Bankrott steht. Er sieht sich gezwungen, nicht nur Möbel und Bilder seines Vaters, sondern auch die Zeichentrickfilmrechte zu Jim Knopf, Momo und Die unendliche Geschichte zu verkaufen.

      Halt findet der unermüdliche Ende, der 1983 inmitten des zeit- und kraftraubenden Streits um The Neverending Story einen anspruchsvollen, bemerkenswert düsteren Erzählband mit dem Titel Der Spiegel im Spiegel vorgelegt hat, in neuen Projekten. Gemeinsam mit dem befreundeten Komponisten Wilfried Hiller verfaßt er mehrere Opern und Singspiele, wie das bis heute gern gespielte Traumfresserchen oder Der Rattenfänger, eine Auftragsarbeit des Theaters Dortmund – wobei Ende den weltbekannten Sagenstoff unvermutet zu einem »Aufschrei gegen das materialistische Denken« (Hocke/Neumahr)35 umgestaltet, was speziell bei den irritierten Einwohnern Hamelns auf wenig Begeisterung stößt. Als wichtigstes »Alterswerk« Endes gilt indes – zu Recht – sein Roman Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch (1989), sein zweifellos humorvollstes Werk, hinter dessen leichtfüßiger Ironie sich jedoch unschwer schärfste Zivilisationskritik erkennen läßt. Die Mischung aus Tierfabel und Schauerroman, die Themen wie Umweltzerstörung oder Geldgier Erwachsenen wie Kindern unmittelbar zugänglich macht, wird zu einem seiner meistgelesenen Bücher, dessen Theaterfassung unter der Intendanz von Endes Jugendfreundin Ruth Drexel mit großem Erfolg am Münchner Volkstheater aufgeführt.

      In jene Zeit fällt auch die Heirat Endes mit Mariko Sato, der japanischen Übersetzerin seiner Werke, mit der ihm indes nur noch sechs Jahre seines Lebens vergönnt sind. Seit 1992 verschlechtert sich seine Gesundheit zusehends; im Juni 1994 erfährt er, daß er an Magenkrebs erkrankt ist. Operationen und Chemotherapien bleiben ohne Erfolg. Am 28. August 1995 stirbt Michael Ende in der Filderklinik bei Stuttgart und wird am 1. September im kleinen Kreis auf dem Münchener Waldfriedhof beigesetzt. Über den Trauergästen ertönt ein Chor aus Endes einzigem in bairischer Mundart verfaßtem Werk, der Oper Der Goggolori: »Unsa Lem is zkurz und gar boid kummt da Dod, und is deangaschd [dennoch] a himmlische Gnadn.«

       2.Exkurs: Über die Anthroposophie und Endes Verhältnis zu ihr

      Wenn auch, wie oben betont, diese Arbeit keine Untersuchung der philosophischen und weltanschaulichen Quellen für Endes Werk sein kann und will, so wäre es doch methodisch zumindest fragwürdig, Endes Verhältnis zur Anthroposophie Rudolf Steiners völlig auszublenden. Neben der Prägung durch die Eltern ließen ihn wohl vor allem seine beiden letzten Schuljahre an der Freien Waldorfschule Stuttgart 1945–47, die er nach dem Martyrium des autoritären nationalsozialistischen Schulsystems als wahre Befreiung empfand (s. o.), der Person und den Ideen Steiners zeitlebens aufgeschlossen gegenüberstehen. Obgleich es keinen Beleg dafür gibt, daß Ende jemals Mitglied der Deutschen Anthroposophischen Gesellschaft gewesen wäre, bleibt doch als Tatsache bestehen, daß er in Podiumsdiskussionen und anderen Gesprächen wiederholt und dezidiert Positionen Steiners als die eigenen vertrat.36 Dies in Verbindung mit dem durchaus zweifelhaften Ruf, den Steiners Lehren (nicht nur) in akademischen Kreisen genießen, läßt es geraten erscheinen, die Anthroposophie als solche sowie Endes Verhältnis zu ihr genauer zu durchleuchten.37

      Unter »Anthroposophie« versteht man jene spirituelle Weltanschauung, die auf die Lehren des Österreichers Rudolf Steiner (1861–1925) zurückgeht und deren Impulse bis heute in vielfältiger Weise, etwa in den Bereichen der Landwirtschaft (Demeterbund), der Pädagogik (Waldorfschulen) oder des Finanzwesens (Gemeinschaftsbanken), fortwirken. Obwohl Steiner als promovierter Philosoph in logisch-begrifflichem Denken durchaus geschult war (Dissertation: »Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre«, Rostock 1891), überschreitet vieles an seiner Lehre die Grenzen des rational Begründbaren. Tatsächlich rücken die Berufung auf »okkulte Erkenntnisse« sowie die Tendenz zur Ausbildung sogenannter »Geheimlehren« wesentliche Teile der Anthroposophie in die Nähe dessen, was heute gemeinhin als »Esoterik« bezeichnet wird. Auch der ausgeprägte weltanschauliche Eklektizismus Steiners, der u. a. Elemente des Deutschen Idealismus, der erfahrungswissenschaftlichen Methodik, der christlichen Mystik und der hinduistischen Reinkarnationslehre in sein Denken integrierte, kann als typisches Merkmal »esoterischer« Systeme und Bewegungen gelten.38 Bei all dem Synkretismus verwundert es auch nicht, daß sich Steiners zugrundeliegendes, nach Eigendefinition »christliches« Menschenbild stark an Friedrich Nietzsche orientiert, über den er eine vielgelesene Monographie verfaßte (Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit; 1895) und dessen Konzeption des »Willens zur Macht« als Wesenskern des Menschen im Ansatz Steiners deutlichen Widerhall findet (vgl. auch Teil III dieser Untersuchung). Die daraus resultierende Betonung des Individuell-Schöpferischen, die freilich innerhalb des Steinerschen Denkens in einem latenten Spannungsverhältnis zur Idee »geschauter« oder »geoffenbarter« Wahrheiten steht, grenzt die Anthroposophie von zahlreichen anderen, meist kurzlebigen »spirituellen« Bewegungen des Fin de siècle ab und macht sie bis heute nicht zuletzt für Künstler und Kunsttheoretiker attraktiv, die einen weit überproportionalen Teil ihrer Anhängerschaft bilden. Neben Michael Ende waren etwa die Schriftsteller Christian Morgenstern, Saul Bellow und Andrej Bely, die bildenden Künstler Joseph Beuys und Wassily Kandinsky oder die Komponisten Viktor Ullmann und Bruno Walter in unterschiedlichem Maße von den Ideen Steiners beeinflußt.

      Eine Analyse der bis heute äußerst kontroversiell diskutierten Lehren Steiners39 ist im Rahmen der vorliegenden Untersuchung selbstverständlich nicht möglich. Unumgänglich erscheint es hingegen, Endes Verhältnis zur Anthroposophie zumindest in vorläufiger Weise zu klären, nicht zuletzt,


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