Ins Arktische Amerika. Franklin John
Читать онлайн книгу.Da, während die Männer noch über ihre neuen Einsatzorte rätselten, wurde die »Bellerophon« tatsächlich nach Cádiz beordert, wenig später nach Malta und kurz darauf nach Cartagena. Lord Nelson, der unterdessen das Kommando über das mit vierundsiebzig Kanonen bestückte Schiff übernommen hatte, jagte die französische Flotte mitsamt der Armada ihres Verbündeten Spanien. Bis er sie am 21. Oktober 1805 bei Trafalgar stellen konnte.
Da gingen dreiunddreißig Linienschiffe gegenüber Nelsons siebenundzwanzig in Position. Und wieder begann nun das große Töten, wurde Breitseite um Breitseite abgefeuert. Seinem Schwager Booth gab Franklin einen detaillierten Bericht: »Gleich zu Beginn verfingen sich die Masten der ›Bellerophon‹ in denen des französischen Linienschiffes [›L’Aigle‹]. Und obwohl die Rahen somit oben ziemlich dicht beieinander waren, klaffte unten eine Lücke – freilich nicht weit genug, als dass die Franzosen nicht versucht hätten, die ›Bellerophon‹ zu entern. Doch sobald sie Hand an die Reling unseres Schiffes legen wollten, bekamen sie von uns gehörig eins auf die Finger. Auf diese Weise stürzten Hunderte von Franzosen zwischen die Schiffe und ertranken.«
Auch Nelson fiel in dieser Schlacht. Seine Soldaten aber siegten und machten England auf Jahrzehnte zum Gebieter über alle Weltmeere. »Rule, Britannia …!« John Franklin hatte zu diesem Triumph sein Teil beigetragen. Er war der Signalgast der »Bellerophon«. Ist es daher nicht eine bestrickende Vorstellung, dass er es war, der Nelsons Tagesbefehl hinausgesandt hatte, der bald zum geflügelten Wort werden sollte: »England erwartet, dass jeder Mann seinen Dienst tut«?
Das viel zitierte und oft auch ironisierte Diktum galt für die Marine selbstverständlich fort. Aber Ereignisse wie jenes vor Kopenhagen oder bei Trafalgar fanden, genau besehen, lange nicht mehr statt, weil sich das Kräftemessen der Nationen künftig vor allem zu Lande vollzog, in den großen Feldschlachten: Austerlitz … Jena und Auerstedt… schließlich Leipzig … und dann Waterloo …
So spielte die Navy auf der Bühne der Weltgeschichte nur mehr die Rolle eines Komparsen. Sie stellte Geleitschutz, begleitete allfällige Bodenkämpfe durch Entlastungsangriffe vom Meer aus, unterstützte Blockaden und trug logistisch zur Expansion des britischen Kolonialismus in Indien und Nordamerika bei. Denn nachdem Napoleon im Gegenzug zu seiner Niederlage bei Trafalgar die Häfen des weitgehend von ihm dominierten Europas 1806 durch die Kontinentalsperre für Schiffe unter englischer Fahne geschlossen hatte, musste sich Großbritannien seine Märkte in Übersee suchen.
Der Lebenslauf John Franklins spiegelt die großen historischen Prozesse im Kleinen wider.
Sobald die »Bellerophon« in Plymouth überholt war, diente Franklin anderthalb Jahre lang als Obermaat auf ihr bei Patrouillen zwischen dem nordspanischen Kap Finisterre und der bretonischen Île d’Ouessant. Und als sich Portugal mit Rücksicht auf seine einträgliche Weinausfuhr nach England weigerte, die von Napoleon verhängten Abriegelungsmaßnahmen seinerseits anzuwenden und daraufhin im November 1807 französische Truppen gegen Lissabon vorrückten, machte sich die dortige Königsfamilie zur Flucht bereit. Das Schiff, das ihr die englische Regierung zur Verfügung stellte, trug den Namen »Bedford«, und John Franklin befand sich – mittlerweile zum Bootsmann befördert – in der begleitenden Crew. Das Ziel war Rio de Janeiro.
Im Geiste spielte er um Weihnachten 1808 durch, was die Geschwister im nebligen England wohl von ihm sagen mochten: »›Jetzt aalt sich unser Bruder in einem der reichsten Länder unter der Sonne, wo schon der geringste Aufwand bei Ackerbau und Viehzucht mit Riesenerträgen üppigst belohnt wird und der Boden die ergiebigsten Gold- und Silberminen bereithält …!‹« Und er hätte für solch einen neidvollen Seufzer Verständnis gehabt: War doch seine Familie an eine Umgebung gebunden, in der die Menschen, wie er schrieb, »all ihr Sinnen und Trachten auf die teuren und überhöhten Märkte in ungesunden und übervölkerten Städten richten müssen«.
Da lobte er sich das bunte, heute beschauliche, morgen stürmische Dasein zur See, die frische Luft, das Abenteuer.
Sieben Jahre lang diente er auf der »Bedford«. Einmal dümpelte sie in tropischen Gewässern, ein andermal fuhr sie zu einer Spritztour quer über den Atlantik nach Madeira, dann wieder lief sie nochmals Rio de Janeiro an oder tauchte zur Verstärkung von Belagerungsstreitkräften vor der Küste der Niederlande auf, um sich als Nächstes in den 1812 ausgebrochenen Krieg zwischen England und den Vereinigten Staaten von Amerika einzuschalten. In der bis heute (und sei es auch nur durch das übermütige Lied des Country-Sängers Johnny Horton) berühmten Battle of New Orleans gelang es der »Bedford« zwar 1814, eine Anzahl feindlicher Kanonenboote vom Lake Borgne zu vertreiben – das Ringen selbst aber ging für die Briten, »the bloody British«, verloren.
Es bildete im Soldatenleben John Franklins so etwas wie den Schlussakkord. Denn als die »Bedford« heimgesegelt war und Franklin sie am 5. Juli 1815 verlassen und mit der ihm eigenen Promptheit zwei Tage später als Leutnant zur See das Deck der »Forth« betreten hatte, steuerte die Welt auf eine Zeit des Friedens zu.
Napoleon war endgültig geschlagen. Er hatte am 22. Juni abgedankt und begab sich am 15. Juli auf der »Bellerophon«, Franklins einstigem Schiff, in die Hände der Engländer. »Ich komme wie Themistokles«, sagte er mit dem Pathos dessen, der Plutarchs Parallelbiographien (um 110) gelesen hatte, »um mich an den Herd des englischen Volkes zu setzen.«
Zugegeben: Die Bedeutung der beiden Männer ist ungleich. Aber auch Franklin, der seine Epoche auf verblüffende Weise immer wieder verkörpert, musste sich nun – bei halbierten Bezügen – »an den Herd des englischen Volkes« hocken. Der Marine mangelte es an Aufgabenfeldern. Und so kehrte der Erste Offizier der Royal Navy John Franklin Ende 1815 in den Schoß der Familie nach Spilsby zurück. Er war jetzt neunundzwanzig Jahre alt und zur Untätigkeit verdammt.
Er hatte Muße, das Buch Matthew Flinders über Die erste Umsegelung Australiens (1814) zu lesen, und begann bei der Lektüre von einer neuen Expedition zu träumen. Als Robert Brown, der Botaniker der »Investigator«, vor einigen Wochen mit derselben Idee an ihn herangetreten war, hatte Franklin noch gezögert, denn er wollte seine militärische Karriere nicht durch einen neuerlichen ›Forschungsurlaub‹ aufs Spiel setzen. Doch nun, da die Admiralität ihm demonstrierte, wie wenig ihr sein Pflichtbewusstsein galt, wartete er brennend darauf, die von Tag zu Tag unerträglicher werdende Vita contemplativa gegen eine Vita activa einzutauschen.
Die Gelegenheit kam im Frühjahr 1818.
Nachdem die Navy darauf verfallen war, die alten Pläne von 1745 zur Erschließung »einer Nord-West-Passage durch die Hudson-Straße zu den Westlichen und Südlichen Meeren Amerikas« wieder aus der Schublade zu holen, hatte sie quasi als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vier Schiffe bereitgestellt, auf denen jenes bisher nie erreichte Tor nunmehr aufgestoßen werden sollte. Während also die »Isabella« und »Alexander« Richtung Baffin Bay losgeschickt wurden, war der »Dorothea« und der »Trent« eine Route über Spitzbergen befohlen worden. Der Schiffsführer der Brigg »Trent« war John Franklin.
In einem Brief vom 6. April 1818 gestand er bei der Schilderung seiner Begegnung mit einer Reihe von Arktisspezialisten: »Es kommt mir schon ein wenig lächerlich vor, wenn ich mich in der Gesellschaft dieser Leute betrachte und daran denke, wie wenig ich von den Dingen verstehe, die Gegenstand ihrer Unterhaltung sind.«
Der Satz hatte prophetischen Charakter. Denn der Törn stellte sich binnen Kurzem als so etwas wie eine ins ewige Eis verlagerte Donquichotterie heraus: Der Eifer war groß, die Kenntnis der Fakten gleich null. Das zeigte sich am drastischsten daran, mit welcher Unbefangenheit die Männer ihre Fahrzeuge vorübertreibenden Eisbergen näherten. Einmal, berichtete später der Erste Offizier der »Trent«, Frederik William Beechey, in seiner Voyage of Discovery towards the North Pole (»Entdeckungsreise zum Nordpol«, 1843), wäre er mitsamt John Franklin um ein Haar von der Welle überspült worden, die ein kalbender Eisberg verursacht hatte. »Das Stück, das sich losgelöst hatte, verschwand zunächst gänzlich unter dem Wasserspiegel, und man konnte nichts sehen als die gewaltig brodelnde Flut und das Aufsteigen von Sprühnebel-Wolken, so wie es am Fuße eines hohen Kataraktes auftritt. Aber dann, nach wenigen Sekunden, schoss es auf einmal mit seiner Spitze hundert Fuß aus der Tiefe empor, und das Wasser strömte auf allen Seiten herunter, und jetzt tobte und wühlte es,