Leben in der Spur des Todes. Pamela Katharina Körner

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Leben in der Spur des Todes - Pamela Katharina Körner


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empfand das als ungerecht.

      Nach den Sommerferien brachte ich Anna und Lina in den Vorkindergarten, in dem auch mein Sohn gewesen war. Wir betraten das Gebäude und als erstes fiel mein Blick auf eine große, bunte Foto-Collage an der Wand, die fröhliche Kinder auf einem Ausflug zeigt – Karl mitten in der Gruppe auf einem Baumstamm sitzend und in die Kamera lächelnd. Die Kindergärtnerinnen hatten damit gerechnet und die Bilder von der Wand nehmen wollen. Aber sie hatten es vergessen. Jetzt war es zu spät, meine Augen füllten sich mit Tränen, in meinem Hals bildete sich ein riesiger Kloß. Ich ließ die Mädchen im Kindergarten, eilte ohne ein Wort zum Auto und fuhr direkt in einen Wald.

      Allein und umgeben von Bäumen und Sträuchern schrie ich mir dort den Schmerz aus dem Körper. Dieser war so heftig, dass ich glaubte, daran zugrunde zu gehen. Ich schrie oft, aber, wie sich später herausstellen sollte, nicht oft genug.

      Situationen dieser Art erlebte ich noch oft. Kinder, die Karl kannten, liefen auf mich zu und fragten nach ihm. Aber wie erklärt man Kindern den Tod? Ich sagte, dass Karl jetzt im Himmel und ein Engel sei: „Nein, er kommt nicht wieder...“ Manchmal fuhr ich auch in eine andere Stadt, um auf andere Gedanken zu kommen. Meine Kinder im Zwillingswagen zogen die Aufmerksamkeit auf sich und ich war dort, obwohl fremd, mit anderen Menschen, besonders mit Müttern schnell im Gespräch – ob ich wollte oder nicht. „Haben sie noch andere Kinder?“, wurde ich oft gefragt. Da stand ich nun, nicht wissend, was ich sagen sollte. Ich wollte nicht jedem „meine Geschichte“ erzählen, doch wollte ich auch nicht sagen, dass Anna und Lina meine einzigen Kinder sind, ich empfand es als Verrat an Karl. Ich habe drei Kinder, eines ist nicht hier auf der Erde, wo immer er auch ist, er ist mein Kind, ich habe ihm das Leben geschenkt. Heute entscheide ich meine Antwort situationsabhängig.

      Einige Wochen nach dem Unfall stellte ich ein Kreuz an der Unfallstelle auf. Da auf das Kreuz drei Namen passen mussten, benötigte ich eines, das sonst bei Seebestattungen üblich ist. Ich stellte es auf, weil ich die Hoffnung hatte und habe, dass besonders die Motorradfahrer nicht mehr so schnell die berühmte Schwarzwaldhochstraße entlang rasen würden. Ich dachte an die vielen Eltern. Keine Mutter sollte das erleben, was ich gerade durchmachte.

      Aber ich wurde eines Besseren belehrt. Ich stand oft auf diesem kleinen Rastplatz, an dem meine Familie den Tod gefunden hatte, und alle rasten sie an mir vorbei, die Autofahrer und vor allem die Motorradfahrer. Nach einem Jahr baute ich das Kreuz wieder ab.

      Mein Kreuz schreckte niemanden ab.

      Der Tod bedeutet eigentlich nichts.

      Ich bin nur in den nächsten Raum hinübergewechselt.

      Bete, lächle, denk an mich, bete für mich.

      Lass meinen Namen zu deinem Wortschatz gehören,

      sprich ihn aus, ohne große Dramatik, ohne eine Spur von Schatten auf ihm.

      Warum sollte ich aus deinen Gedanken verschwinden,

      nur weil ich deinen Augen entschwinde?

      Ich warte auf dich, während einer kurzen

      Unterbrechung, irgendwo, sehr nahe.

      Alles ist gut.

       Henry Scott Holland

      4

      Es dauerte eine ganze Zeit, bis ich mich in meiner neuen Welt zurechtgefunden hatte. Überall alleine hingehen, alles alleine entscheiden: Ich tat mich damit zunächst ziemlich schwer. Ich musste erst lernen, alleine zu leben. Heute weiß ich: Nur wer alleine sein kann, kann auch in einer Partnerschaft einen guten Platz einnehmen.

      Die Wochenenden waren über viele Monate hinweg das Schlimmste. Wochenende ist Pärchenzeit. Der Anblick von glücklichen Paaren war mir unerträglich geworden. Ich war unfreiwillig in der Kategorie „alleinerziehend“ gelandet. Meine Freundinnen hatten alle Partner. Und das fünfte Rad am Wagen wollte ich nicht sein. Da Baden-Baden ein beliebtes Ausflugsziel am Wochenende ist, verließ ich mit den Kindern an diesen zwei Tagen meist die Stadt. Häufig in mein Elternhaus, zu meinem Vater. Er beschäftigte sich mit den Kindern, damit ich ein wenig zur Ruhe kommen konnte, denn ich trug nach wie vor sehr schwer am Leben.

      Je mehr sich das „Unfalljahr 2005“ seinem Ende näherte, desto schwerer wurde mein Herz. Ich wusste, das Fest der Liebe, Weihnachten, steht vor der Tür, und ich verdrängte diese Tatsache, so gut es ging, bis mich ab Oktober die Weihnachtsdekoration in den Geschäften unfreiwillig auf dieses Ereignis vorbereitete. „Oh du fröhliche, oh du seelige...“ erklang vom Weihnachtsmarkt, den ich seit seines Aufbaues in der Nähe des Kurhauses mied, so weit es irgendwie möglich war. Mir war weder nach Glühwein noch nach Plätzchenbacken, ich wollte mir nur zu Hause die Decke über den Kopf ziehen, nichts hören, nichts sehen.

      Anna und Lina brachten vom Kindergarten selbstgebastelte Weihnachtssterne nach Hause, ich schmückte für meine Mädchen ein wenig unsere Wohnung, aber zum Kauf eines Weihnachtsbaumes konnte ich mich nicht überwinden. Der Heilige Abend war kein Fest, sondern eine Zwangsveranstaltung, die ich schnell beenden wollte. Keine Kirche, kein Singen. Für meine Kinder und meinen Vater ein schönes Essen, Geschenke, dann ins Bett, damit ich meinem Schmerz freien Lauf lassen konnte.

      Ich weinte die halbe Heilige Nacht.

      Am nächsten Morgen war mir leichter. Ich dachte nur: „Es ist geschafft!“ Doch die nächste Hürde war eine Woche später zu nehmen – Happy New Year. Mit wem sollte ich anstoßen und auf was? Auf ein neues Jahr – zwangsweise. Es kam, ob ich es wollte oder nicht. Glücklich? Konnte es gar nicht werden. Mein Kind war tot. Mein Lebensgefährte war tot. Mein Bruder war tot. Wie sollte ich da jemals wieder glücklich werden? Es schien mir aussichtslos. Ich entschied mich, mit meinen Kindern um acht Uhr ins Bett zu gehen und einfach alles zu verschlafen. Das klappte vorerst gut, bis mich das Neujahrs-Feuerwerk am Himmel mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss und mit der Realität konfrontierte.

      Ich war gezwungen, sie anzuschauen. Ein neues Jahr beginnt – ohne Kai, Karl und Stephan. Ich küsste meinen Mädchen die Stirn und wünschte ihnen ein gutes neues Jahr, nicht wissend, wie ich dieses neue Jahr schaffen sollte.

      Ich war froh, als endlich die ganze Weihnachtsdekoration vor meinen Augen verschwunden und der Neujahrstrubel vorüber war. Der Frühling würde sich bald ankündigen und mein Herz erneut zerreißen. Im März wurde Karl geboren, im April 2006 wäre Kai 39 Jahre alt geworden, im Mai mein Bruder. Drei Monate hintereinander Geburtstage, keine Zeit zum Luftholen, keine Zeit zum Tränentrocknen. Ein Trauermarathon stand mir bevor. Ich spüre noch heute den Kloß in meinem Hals, wenn ich an den Geburtstag von Karl denke im Jahr 2006. Ich fuhr am Morgen meine Kinder in den Kindergarten, danach holte ich ein Herz aus roten Rosen vom Floristen ab und ging zum Friedhof. Statt Geburtstagskuchen und Geschenke eine Grabkerze. Ich stand fassungslos vor dem Grab und konnte immer noch nicht glauben, in welches Leben ich geraten war. Das Ritual mit Rosenherz und Grabkerze wiederholte sich noch zwei Mal.

      Über ein Jahr nach dem Unfall versuchte ich, für uns drei wieder ein Stück gemeinsame Normalität zu schaffen. Im September 2006 flog ich das erste Mal alleine mit den Kindern in den Urlaub. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Das erste Mal ohne Mann und ohne Karl. Freude vermischte sich mit Traurigkeit. Ich wählte den Robinson Club in Griechenland, weil ich die Hoffnung hatte, in diesem Club auf andere alleinerziehende Mütter zu treffen, was dann auch tatsächlich der Fall war. Uns allen tat die Wärme gut und das Wasser. Ich liebe das Meer. An keinem anderen Platz kann ich mich so gut erholen. Anna und Lina waren den ganzen Tag im Kinderpool. Es machte mir große Freude, in ihre glücklichen Augen zu sehen. Ich habe viel gelesen oder einfach nur im Sand gesessen und aufs Meer geschaut. Gerade in den ersten Jahren nach dem Unfall taten mir diese Clubreisen gut. Es gab ein Programmangebot für Anna und Lina und ich hatte Zeit, auch etwas für mich zu tun und neue Kräfte zu sammeln.

      Das Leben kostete mich nach wie vor sehr viel Kraft.

      Weihnachten 2006 war dann etwas harmonischer als das im Jahr davor. Ich kaufte einen Baum, buk mit den Kindern Plätzchen, und das Beisammensein am Heiligen Abend hatte nicht mehr die Schwere vom letzten Jahr. In die


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