Leben in der Spur des Todes. Pamela Katharina Körner

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Leben in der Spur des Todes - Pamela Katharina Körner


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herum ersparen. Auch Silvester 2006 verbrachte ich auf eine neue Weise. Statt den Übergang ins Neue Jahr bewusst zu verschlafen, begann ich vor Mitternacht zu meditieren und fühlte mich Kai, Karl und Stephan sehr nah. Ich fühlte mich mit ihrer Welt verbunden. Es machte mich glücklich, es beruhigte mich. Und ich spürte, wie ich sachte begann, mich dem Leben wieder zuzuwenden. Ein wenig Hoffnung, etwas Zuversicht? Ich wusste nicht, was kommen würde, was das Leben noch für mich bereithalten würde, aber ich begann nun, meine Arme zu öffnen für das kommende Leben, ich war bereit, zu empfangen.

      Der Weg meiner Ausbildungen, meiner Heilung begann.

      Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Ich stärke dich, ich helfe dir, ich halte dich an meiner Hand.

       Jesaia 41,10

      5

      Im September 2009 wurden Anna und Lina eingeschult. Solch einmalige Ereignisse schmerzen mich noch heute. Es tut mir weh, dass Kai diesen wichtigen Moment nicht erleben durfte, dass meine Kinder und ich solche Erlebnisse nicht mit ihm teilen können. Ich weiß, dass Anna und Lina immer auf die Papis von den anderen Kindern schauen und traurig sind, dass ihr Papa nicht mehr da ist. Ich erzähle ihnen dann immer, dass Kai, Karl und Stephan von oben, vom Himmel aus auf sie schauen – ich weiß, es ist ein schwacher Trost, der sie nicht wirklich trösten kann.

      Aber was soll ich auch sagen?

      Im August 2010 schließlich erfüllte ich mir einen großen Wunsch: Ich flog mit den Kindern auf die Insel Sylt und verbrachte dort zwei Wochen Urlaub. Am fünften Todestag war ich dieses Mal auf Sylt und es war schön. Ich liebe diese Insel. Das Meer dort hat einen ganz besonderen Duft. Im Sand zu liegen, dem Meer zu lauschen und den Möwen beim Fliegen zuzuschauen, ist einfach nur schön. Ich war im September 2001 das erste Mal auf Sylt gewesen, als ich mit Karl schwanger war. Ich verliebte mich sofort in die Insel. Kai und ich waren danach noch zwei Mal mit den Kindern, mit meinem Bruder und meinem Vater dort; zuletzt, als Anna und Lina ein Jahr alt waren. Ich wäre gerne schon eher nach Sylt gefahren, aber ich hatte zu viel Angst vor den Plätzen der Erinnerung. Es war klar, dass ich irgendwann Anna und Lina die Insel noch einmal zeigen würde, wusste aber nicht, wann ich dazu in der Lage sein würde.

      Ich buchte also für mich und meine Mädchen ein Familienhotel, weil in solchen Häusern Kinder auch noch Kinder sein dürfen. Die Tischzuteilung in den Restaurants war früher ein Horror für mich. „Sie sind alleine? Oder kommt noch jemand dazu?“ „Nein, es kommt niemand mehr.“ Das vierte Gedeck wurde dezent abgeräumt. Heute macht es mir nichts mehr aus, alleine in ein Restaurant zu gehen oder alleine an einem Tisch zu sitzen. Wenn Anna und Lina nach dem Essen in das Kinderparadies gehen oder mit anderen Kindern spielen, lese ich ein Buch und genieße die Zeit nach dem Essen. Ich stelle meist fest, dass ich glücklicher bin als manche Paare um mich herum. Sich anschweigen, lieblose Blicke, verlegenes Umherschauen durch den Speisesaal. Dann doch lieber alleine mit meinem Buch. Nach dem Abendessen ging ich mit meinen Kindern meist noch einmal zurück ans Meer, um den Sonnenuntergang anzuschauen. Selbst das Licht der untergehenden Sonne auf Sylt ist für mich besonders. Das waren meine Glücksmomente und sie sind es heute wieder. Ich war mit Anna und Lina an allen Plätzen, an denen ich auch mit Karl und ihrem Vater war. Ich zeigte ihnen, wo ich mit Karl ein Fischbrötchen gegessen und wo wir eine Sandburg gebaut hatten. Wir bauten genau an dieser Stelle noch einmal eine – für Karl. Eine Journalistin fragte mich einmal, wie ich das Gefühl beschreiben würde, wenn ich an Karl denke. In mir ist eine Traurigkeit, weil mein “erster Sonnenschein“ nicht länger leben durfte.

      Du bist nicht gestorben

      Du lebst in den wunderbaren Wehen des Windes

      Du lebst in den Liedern der Vögel

      Du lebst in der strahlenden Sonne

      Du lebst im friedlichen Dunkel der Nacht

      Du lebst auf einem Stern, der am Himmel steht

      Du lebst in den Wellenbergen und -tälern des

      Meeres

      Du lebst im Duft von Blumen und Gras

      Du lebst im schnell schwindenden Sommer

      Du lebst im Schmerz meines Herzens

      Du bist nicht tot, nur etwas weiter weg

      Wir können dich nicht berühren.

       Aus: Das Leid umarmen (von Deborah Cornell)

      Irgendwann jedoch kommt der Tag X, dem niemand entfliehen kann. Dieser Tag, dem ich mich stellen musste und von dem ich wusste, dass ich ihn ganz in einem tiefen Loch verbringen würde. Dieser Tag, an dem ich die Kleider und die privaten Dinge von Kai, Karl und Stephan wegräumen musste. Egal, an welchem Platz ich mich in unserer Wohnung aufhielt: Irgendein Plüschtier oder ein Kleidungsstück schob sich immer vor meine Augen und versetzte mir ohne Ankündigung einen Stich ins Herz. Deshalb beschloss ich eines Tages, mit dem Aufzug in den Keller zu fahren und Umzugskartons zu holen. Eigentlich ist mit Umzugskartons in der Regel ein Neuanfang verbunden. Man zieht irgendwo hin und etwas Neues darf beginnen. Ich brauchte sie aber, weil etwas zu Ende gegangen war: das Leben mit Kai, Karl und Stephan.

      Meine mir gewohnte, vertraute Welt war auseinandergebrochen.

      Ich weiß nicht mehr, was für ein Wochentag es war, als ich anfing zu packen, ob die Sonne schien oder ob es regnete. Ich nahm um mich herum nichts mehr wahr, ich spürte mich nicht, ich spürte das Leben nicht mehr. Ich war dem Leben abgewandt. Die ersten Monate nach dem Tod meiner Familie waren alle gleich: grau und schmerzhaft. Ich packte erst einmal alles nur in Kisten und dann in den Keller. Tür zu. Dahinter, im Dunkeln, ist ein Teil meines Lebens, der weh tut.

      Ich war ein bisschen stolz auf mich, als ich am Abend alles weggeräumt hatte, einen Moment hatte ich die Hoffnung, ich könnte es schaffen zu überleben. Das Wegräumen der persönlichen Dinge war für mich noch einmal ein schwerer Schritt gewesen. Noch einmal alles in die Hand nehmen, noch einmal daran riechen, die damit verbundenen Erinnerungen aushalten müssen. Ich musste Stück für Stück loslassen. Etwas, das ich gar nicht wollte. Ein Annehmen, wie es ist. Ein Anerkennen der Realität. Denn heute weiß ich, dass wir niemals gegen die Realität gewinnen können. Gewinnen können wir nur mit der Wirklichkeit – durch Hingabe an das, was ist.

      Ich wollte diese Realität nicht. Sie war grausam, schmerzhaft, leer und hoffnungslos. Wie sollte es mit dieser Realität jemals eine Zukunft geben? Meine Familie war am Leben gewesen. Und jetzt ist sie tot. Ein Leben ohne meinen Sohn Karl konnte und wollte ich mir immer noch nicht vorstellen.

      Ich verbrachte noch ein Jahr in der gemeinsamen Wohnung. Doch sie war zu groß für mich und die Zwillingsmädchen geworden, zu still. Der Esstisch zu lang, das Sofa zu groß. Zimmer standen leer. Ich fahre noch heute manchmal an der Wohnung vorbei, weil sie so besonders war. Es war eine wunderschöne Wohnung: Jugendstil, Marmorkamin, vor dem ich oft mit Karl gesessen hatte, eine nicht einsehbare Dachterrasse mit Blick über Baden-Baden. Kai und ich verbrachten dort viele schöne gemeinsame Tage, mal mit Freunden, meist alleine – nicht ahnend, was kommen würde. Das Schicksal macht keinen Halt vor Luxus, Schönheit und Glück. Jetzt war aus meinem Nest eine „Überlebensinsel“ geworden – nicht wissend, ob ich mit ihr untergehen würde oder nicht.

      Beim Umzug, für den ich mich schließlich entschied, bemerkte ich, dass ich doch nicht alles weggeräumt hatte. Wenn es etwas gab, was zu heilen begann, dann wurde es in diesem Moment wieder aufgerissen. Das Auffinden einiger Gegenstände aus Karls Leben riss mich von einer Minute auf die andere zu Boden. Ich würde es doch nicht schaffen. Meine Verzweiflung, meine Angst vor dem Leben hatte mich wieder gepackt. Ich lief weinend durch die Wohnung: „Ich schaffe das nicht, ich schaffe das nicht.“ Mitleidig schauten mich die Männer vom Umzugsunternehmen an – ich war die mit dem Unfall. Mein Vater half mir sehr, ich war nach dem ganzen Packen von Kartons über Monate hinweg total erschöpft und überfordert. Aber ich wusste, dass ich diesen Schritt tun musste, um überhaupt die Chance für einen Neuanfang zu haben. Als alles leergeräumt war, ging ich noch einmal in die Wohnung zurück. Nur ich und eine Kerze. Noch einmal Abschied nehmen. Noch einmal in das Kinderzimmer von Karl. Ich setzte


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