Der Zauberladen von Applecross (Bd. 1). Pierdomenico Baccalario

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Der Zauberladen von Applecross (Bd. 1) - Pierdomenico  Baccalario


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      Ich holte die Angelrute ein, wickelte die Leine ordentlich auf und drückte den Haken fest in die Abschlusskappe aus Schaumstoff, damit sich die Angelschnur nicht verhedderte. Dann verstaute ich alles sorgfältig in dem hohlen Baum, warf mir meinen Rucksack mit den Schulbüchern auf den Rücken und machte mich auf den Heimweg.

      Nach einer Viertelstunde hatte ich die schwarzen Dächer der Häuser von Applecross erreicht. Ich schlüpfte verstohlen an Mr Everetts Souvenirladen vorbei ins Dorf, überquerte den Marktplatz und drückte mich an der Trockenmauer, für die man die Steine aus dem Meer geholt hatte, entlang bis zur Rückseite des Schulgebäudes. Alles lief glatt, und als ich die Klingel hörte, hatte ich gerade das andere Ende des hässlichen Baus erreicht. Von den Wänden bröckelte der Putz und vor den Fenstern waren Gitterstäbe angebracht. Wieder einmal dachte ich, dass der einzige Unterschied zwischen einer Schule und einem Gefängnis darin bestand, dass man in Letzterem mit etwas Glück weniger als fünf Jahre absitzen musste.

      Nicht ahnend, was mich gleich erwarten sollte, machte ich mich auf den Weg zu unserem Hof und pfiff fröhlich vor mich hin.

      »Guten Tag, Miss McCameron«, grüßte ich, als ich an dem Bekleidungsgeschäft vorbeikam. Ich erinnere mich noch an Mebs Lächeln. Und daran, dass sie der letzte freundliche Mensch war, den ich an diesem Tag sah.

      In knapp zehn Minuten erreichte ich das kleine Tor unserer Einfahrt. Vaters Schafe hatten sich weit über die hügeligen Wiesen unseres Grundstücks verstreut und sahen aus wie kleine Sommersprossen aus Wolle. Ich hob den Haken, der das Tor verschloss, Dusty zwängte sich zwischen meine Beine und rannte mit wütendem Gebell auf das Haus zu. Wenn er sich so aufregte, war er nicht zu stoppen. Leicht misstrauisch geworden, schloss ich das Tor, aber leider hatte ich nicht genügend Verdacht geschöpft. Ich hätte gleich wieder kehrtmachen und das Weite suchen sollen. Ich wusste ja nicht, wem der Wagen gehörte, der dort mitten auf dem Hof stand. Es war einer dieser kleinen Cityflitzer, bei denen man sich fragte, wie sie es überhaupt hierher in die wilden schottischen Highlands geschafft hatten.

      Im gleichen Moment, als ich das Fliegengitter vor der Wohnzimmertür aufstieß, roch ich ein Parfum, und mir stellten sich die Nackenhaare auf.

      »Oh, oh«, konnte ich nur noch brummen, als mir klar wurde, dass jetzt alles zu spät war.

      Der Wagen im Hof gehörte der Witwe Rozenkratz, die als »mobile Schulleiterin« mehreren kleinen Dorfschulen hier in der Gegend vorstand. Ich war ihr während meiner schulischen Laufbahn als bestimmt kein Musterschüler von Applecross nur ein paarmal begegnet und das hatte mir gereicht. William Shuster, der Sohn des Friseurs, behauptete immer, sie wäre schon als Witwe zur Welt gekommen.

      Und nun saß sie im Wohnzimmer unseres Hauses meinen Eltern gegenüber, den Rücken kerzengerade und ganz vorn auf der Sesselkante. Papa trug noch die Latzhose von der Arbeit und blickte so düster drein wie jemand, der nicht nur wütend ist, sondern gerade eine herbe Enttäuschung erlebt hat. Mama schien vollkommen außer sich zu sein.

      »Hallo, Finley«, begrüßte sie mich knapp. »Komm rein. Und lass Dusty bitte draußen.«

      Ich musste den Hund mit dem Fuß nach draußen schieben. Dort legte sich Dusty vor das Fliegengitter und hörte nicht auf, die Witwe anzuknurren.

      »Guten Tag, Finley«, begrüßte mich jetzt die Rektorin. »Ich denke, du weißt, warum ich hier bin.«

      »Eigentlich nicht«, log ich, trat einen Schritt vor und fühlte mich unglaublich mutig dabei.

      »Wie war es heute in der Schule?«, fragte meine Mutter.

      Ich schaute meinen Vater an und sah, dass er die Hände fest ineinander verschränkte, als müsste er sich auf diese Weise zurückhalten. Er hielt die Augen gesenkt, seine Schuhe waren noch völlig schlammverkrustet. Das war das Schlimmste. Wenn Mama ihn mit diesen Schuhen ins Wohnzimmer gelassen hatte, konnte das nur eins bedeuten …

      »Nun red schon«, drängte meine Mutter.

      Ich stammelte irgendetwas. Mir war ziemlich schnell klar, dass die Rektorin bei mir zu Hause war, weil sie hier zusammen mit meinen Eltern auf mich gewartet hatte. Und die drei hatten auf mich gewartet, weil mein Versteckspiel am Fluss aufgeflogen war.

      Da konnte ich auch gleich Farbe bekennen.

      »Ich war nicht dort«, flüsterte ich.

      »Und warum warst du nicht dort?«, fragte meine Mutter wütend.

      Ich deutete aus dem Fenster, auf die Sonne, die dahinjagenden Wolken, den blauen Himmel über den Inseln draußen vor der Bucht, und grinste verlegen. »Weil es so ein wunderschöner Tag ist.«

      Seiten raschelten, die Witwe blätterte mit ihren knochigen Fingern ein Heft durch und überprüfte ihre Notizen. »Es ist nun einmal so, mein lieber Finley …«

      Lieber? Dieses einfache Wort war quasi schon der Federstrich unter mein Todesurteil.

      »… wie es scheint, hat es in letzter Zeit viele wunderschöne Tage gegeben. Mit heute belaufen sich deine, nennen wir es wir mal Fehltage auf einundsiebzig.«

      »Tatsächlich war dieser Frühling doch so schön wie seit Langem keiner, Mrs …«

      »Sei still«, fuhr mein Vater dazwischen.

      Das war das Erste, was er sagte, und es genügte, um mich verstummen zu lassen.

      Mein Vater sah mich weiterhin nicht an, stattdessen wandte er sich der Witwe zu.

      »Ist da noch etwas zu machen?«, fragte er sie.

      »Ich fürchte leider nein, Mr McPhee«, antwortete sie. »Ihr Sohn hat zu viele Fehltage, außerdem waren Finleys Noten auch vor diesem ganz besonderen Frühling schon nicht herausragend gut.«

      »Aber …«, versuchte ich mich zu verteidigen. Was war denn mit der Drei in Mathe vom Anfang des Jahres?

      Sie konsultierte wieder ihr Heft. »Sagen wir mal, Finley stand zwischen ausreichend und mangelhaft. Jedenfalls solange er zur Schule ging.«

      »Wir hatten ja nicht die geringste Ahnung …«, flüsterte meine Mutter, deren Wut sich inzwischen in mitleiderregende Beschämung verwandelt hatte. »Wir haben Finley immer vertraut …«

      »Ich …«, setzte ich noch einmal an, aber keiner nahm Notiz von mir, als wäre ich gar nicht anwesend. Oder als wäre ich eine Statue oder ein Sklave, der nur ohnmächtig sein Schicksal erwarten konnte.

      »Machen Sie sich deshalb keine Gedanken, Mrs McPhee …«, fuhr die Witwe fort. »Viele andere Kinder haben auch ein Schuljahr wiederholt. Und das war keine Tragödie. Manchmal kann das sogar sehr heilsam sein.«

      »Heilsam, natürlich …«, sagte mein Vater leise, aber es klang so schneidend, als würde er ein Messer auf einem Schleifstein wetzen.

      »Das ist eine gute Gelegenheit für ihn, mal richtig in sich zu gehen und vielleicht über sein Verhalten nachzudenken. Es wäre bedauernswert, wenn Finley sich nicht ernsthafter seiner Bildung widmete, denn man hat mir gesagt, er sei ein sehr aufgeweckter Junge …«

      »Sehr aufgeweckt …«, wiederholte mein Vater.

      »Der vielleicht nur etwas mehr Motivation braucht …«

       Motivation?

      Ich war immer schon der Meinung gewesen, dass das Schicksal hinterhältig, feige und gemein ist. Ich stellte es mir als einen boshaften Mistkerl vor, der Zufälle hin und her schob, wie er wollte, damit man glaubte, nichts geschehe mit Absicht, während er schon längst alles entschieden hatte. Und tatsächlich fing Dusty in diesem Moment an zu jaulen, als hätte ihm jemand auf den Schwanz getreten.

      »Verdammter Köter, geh doch aus dem Weg!«, schimpfte mein Bruder Doug und stieß das Fliegengitter auf, um ins Haus zu kommen. Er sah uns vier an, mit diesem stumpfen Blick eines vollkommen intelligenzfreien Rugby-Champions, und raffte natürlich nicht, was hier los war. »He?«, rief er dann dröhnend. »Ist etwa jemand gestorben?«


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