Kooperatives Lernen im Englischunterricht. Andreas Bonnet

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Kooperatives Lernen im Englischunterricht - Andreas Bonnet


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Unterrichtsanalyse zentral. Zum einen stellt sich die Frage nach der Struktur des Erfahrungsraums Unterricht. Es geht darum, „den Erfahrungsraum und die ihn strukturierenden Orientierungen überhaupt zu rekonstruieren und seine Konjunktivität oder Disparativität festzustellen, sowie in letzterem Fall herauszuarbeiten, in welche tatsächlichen Erfahrungsräume der Anwesenheitsraum Unterricht zerfällt“ (Bonnet 2009, 225). Zum anderen stellt sich die Frage nach dem Kommunikationsmodus, in dem diese Erfahrungsstruktur verhandelt wird (Bonnet 2011, 192ff.). Im Rückgriff auf Mannheim kann sich ein „Aneinandervorbeireden“ oder ein „Zurückfragen“ (Mannheim 1995 [1929], 240ff.) entwickeln. Während der erste Modus die Disparatheit des Erfahrungsraums unkommentiert lässt, versucht der zweite Modus, diese Unterschiedlichkeit der Orientierungen durch „Relationieren“ (Klärung des Aspekts und damit des Standpunkts der Erfahrungen der anderen Akteur*innen) und „Partikularisieren“ (Bestimmung des Geltungsbereichs des kommunizierten Wissens) zu analysieren und zu reflektieren (ebd.). Dies wird von Bohnsack an späterer Stelle auch als Modus der Kommunikation, in dem die Akteur*innen ihre jeweiligen Äußerungen gegenseitig interpretieren müssen, bezeichnet. Indem Relationieren und Partikularisieren notwendigerweise bedeutet, die jeweils andere Seite authentisch zu Wort kommen zu lassen, ist genau dies der Modus, den wir im Anschluss an Peukert als praktische Solidarität im Fachunterricht bezeichnet haben. Hierin liegt gewissermaßen die normative Pointe unseres Ansatzes.

      Insoweit Lehrer*innen auf der Basis ihrer fachkulturellen, professionellen und in jedem Fall rollenförmigen Orientierungsrahmen handeln, ist davon auszugehen, dass sich zwischen ihrem Wissen und den lebensweltlichen Orientierungsrahmen der Schüler*innen Differenzen auftun, die im Modus des Interpretierens ausgehandelt werden müssen. Gelingt dies und kommt es somit zu einer kollektiven Sinnkonstruktion, kann Unterricht selbst zu einem Raum werden, in dem gemeinsames Erleben und dessen Verarbeitung zu geteilten Erfahrungen und damit ähnlichen Orientierungsrahmen von Lehrpersonen und Schüler*innen führen, die ein Verstehen im konjunktiven Sinne ermöglichen. Schule und Unterricht werden damit zu einem (besonderen) konjunktiven Erfahrungsraum, der in Konkurrenz zu den konjunktiven Erfahrungsräumen der Primärsozialisation tritt und durch seine potenzielle Fremdheit bisherige Orientierungsrahmen in Frage stellt. Das jeweils realisierte Verhältnis der Orientierungsrahmen und damit der Wissensstrukturen der Akteure zueinander, sowie der Modus, in dem darauf im Unterricht kommunikativ Bezug genommen wird, kann für ein gegebenes Kollektiv auf der Mikroebene (in der Regel ein*e Lehrer*in und seine/ihre Klasse) als konstituierende Rahmung rekonstruiert werden (Bohnsack 2007). Bohnsack zufolge stellt die Herstellung einer konstituierenden Rahmung innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums des Unterrrichts eine notwendige Bedingung für professionalisiertes Handeln in Organisationen dar (Bohnsack 2020). In diesem Erfahrungsraum werden die mitgebrachten Orientierungsrahmen der Akteure in einer kollektiv habitualisierten Weise zueinander in Beziehung gesetzt.

      Ein besonderer Modus dieser Bezugnahme ist das oben beschriebene „Zurückfragen“, das sich bildungstheoretisch durch ein spezielles Potenzial auszeichnet. Das darin vorkommende „Relationieren“ und „Partikularisieren“ sowie die damit verbundene gegenseitige Anerkennung im Sinne praktischer Solidarität zu erfahren, durch Bewusstmachung zu reflektieren und schließlich durch Entwicklung einer Haltung – z. B. zu einzelnen Schulfächern – zu bewerten, macht die potenziell bildende, weil die eigenen Orientierungsrahmen erweiternde Wirkung von Kindergarten, Schule und Universität aus. Dies ist kompatibel mit Ansätzen, die das Allgemeinbildende eines Unterrichtsfachs darin sehen, die „Aspekthaftigkeit“ aller Erkenntnis durch Einsicht in den „Aspekt“ bzw. die „Hinsicht“ des einzelnen Faches zu verstehen (Wagenschein 1995 [1962], 24).

      Ziel einer dokumentarischen Unterrichtsanalyse ist es somit, die Struktur der unterrichtlichen Interaktion in ihrer graduell an- oder abwesenden Konjunktivität (Verstehen) und Kommunikativität (Interpretation) zu rekonstruieren und von dort auf die Struktur des Erfahrungsraums Unterricht zu schließen. Im Kern geht es also um die Frage, wie ähnlich oder disparat die rekonstruierten Orientierungsrahmen und -schemata sind (vorhandenes Wissen der Akteure) und wie damit in der Interaktion umgegangen wird (Vermittlungsgeschehen des Unterrichts). In Bezug auf die Sozialstruktur ist es darüber hinaus das Ziel der dokumentarischen Interpretation, den interaktionalen Rahmen selbst, also etwa die bestehenden Machtstrukturen und ggf. deren (Neu-)Aushandlung zu erfassen. Da es in Bezug auf Unterricht als Interaktionssystem primär darum geht, wie die soziale Praxis in diesem System performativ strukturiert ist, kommt einer Rekonstruktion der Orientierungsrahmen der unterrichtlichen Akteur*innen gegenüber einer Rekonstruktion ihrer Orientierungsschemata eine vordringliche Bedeutung zu. Die Unterrichtsanalysen werden sich also primär darauf konzentrieren, diese Ebene zu rekonstruieren.

       Empirische Wendung: Die Dokumentarische Methode

      Auf dieser theoretischen Basis setzt die Dokumentarische Methode (DM) an, um aus empirischen Dokumenten Sinnkonstruktionen von Kollektiven (Gruppendiskussionen) oder Individuen (Interviews) zu rekonstruieren. Dies kann man auch als performative Oberflächenstruktur des Handelns auffassen. Von diesen Konstruktionen aus werden dann Hypothesen darüber gebildet, welche kognitiven, emotionalen und sozialen Strukturen, also welche Orientierungsrahmen die Kollektive oder Individuen genau diese Sinnkonstruktionen hervorbringen lassen. Diese Ebene kann als generative Tiefenstruktur betrachtet werden, die den Handlungen zugrundeliegt. Im Zentrum der dokumentarischen Analyse steht folglich der genetische oder dokumentarische Sinn der empirischen Dokumente, der auf die Ebene des atheoretischen, prozeduralen Wissens verweist, das die Mitglieder eines konjunktiven Erfahrungsraums miteinander teilen, weil sie es im Zuge strukturell ähnlicher Erfahrungen erworben haben. Damit zielt sie primär auf die Rekonstruktion von Orientierungsrahmen ab.

      Abb. 3.1:

      Schema des Ablaufs der wichtigsten Analyseschritte der Dokumentarischen Methode. Ausgangspunkt ist die soziale Praxis der Akteure (links oben), die zum Gegenstand der Analyse wird. Am Ende der Analyse werden aus deren Ergebnissen durch Typenbildung Erfahrungsräume der Akteure rekonstruiert.

      Da die Interpret*innen nicht Teil des beforschten Kollektivs sind, müssen sie sich den Sinn der Aussagen in rekonstruktiver Analyse erschließen. Der Verständigungsmodus ist dann jener der Interpretation; das gegenseitige Verhältnis nicht konjunktiv, sondern kommunikativ. Auf textlicher Ebene kulminiert das prozedurale Wissen in sog. Fokussierungsmetaphern: Abschnitte des empirischen Dokuments, die sich durch maximale interaktive oder metaphorische Dichte auszeichnen oder die thematisch für die Forschungsfrage besonders einschlägig sind. Indem man sie als Sinnkonstruktion interpretativ rekonstruiert (Oberflächenstruktur), formuliert man gleichzeitig Hypothesen über mögliche Konstruktionsregeln für ihr Zustandekommen. Diese Regeln wiederum verweisen auf generative Strukturen (z. B. Haltungen oder Wissensbestände von Individuen und Kollektiven), durch die sie erzeugt werden (Tiefenstruktur). Diese Tiefenstruktur, d.h. insbesondere die Orientierungsrahmen, hat sowohl eine Inhalts- als auch eine Interaktionsebene, die beide in der Analyse berücksichtigt werden müssen. Auch die weiteren Sinnebenen (s.o.) und ihre Beziehungen zueinander sind zu berücksichtigen.

      Daraus ergibt sich ein fünfstufiges Analyseverfahren, in dem eine abschnittweise Vorgehensweise (sequenzanalytisches Prinzip) und die Gegenüberstellung empirischer Gegenhorizonte durch Fallvergleich (komparatives Prinzip) unverzichtbar sind. Da die Verfahrensschritte andernorts1 detailliert dargestellt wurden, sollen sie hier nur in aller Kürze genannt werden. Die drei ersten Schritte dienen der Rekonstruktion des Einzelfalles: (1) Die Formulierende Interpretation rekonstruiert das „Was“, also die Abfolge und Paraphrase der Themen der Interaktion. (2) Die Reflektierende Interpretation rekonstruiert das „Wie“: Die für die Fragestellung relevanten, sowie metaphorisch oder interaktional dichten Passagen (Fokussierungsmetaphern) werden auf ihre sprachlichen (semantischen Merkmale wie z. B. Metaphern) und diskursstrukturellen (Modi der Themenentfaltung wie z. B. antagonistische Wechselrede) Merkmale hin analysiert und daraus Orientierungsrahmen und -schemata rekonstruiert. Außerdem ist es sinnvoll, die reflektierende Interpretation mit sprachanalytischen Verfahren, wie der Argumentations- und Metaphernanalyse zu kombinieren (vgl. Bonnet 2009; Bonnet/Bracker 2012). (3) Die Diskursbeschreibung liefert eine zusammenfassende Darstellung der Fallstruktur.


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