Lacroix und der Bäcker von Saint-Germain. Alex Lépic
Читать онлайн книгу.den Baguettes und rochen daran, steckten sie sich in den Mund, taten wie die Connaisseurs von Welt. Allen war klar, dass er es am besten wusste, aber sie konnten es nicht zugeben. Schließlich waren sie Gourmet-Journalisten und Bäckerei-Lobbyisten, auch die bräsige Handelssekretärin, im Rathaus zuständig für Lebensmittel, saß in der Jury. Daneben die sechs Pariserinnen und Pariser, die bei der Verlosung gewonnen hatten. Fast 2000 Bürgerinnen und Bürger hatten sich um einen Juryplatz beworben. Sie waren von den Hauptberuflichen sofort zu unterscheiden, weil sie sich zurechtgemacht hatten, Anzug und Krawatte, schwarze Kleider. Dieser Preis war einer der renommiertesten der Stadt! Wer ihn bekam, durfte ganz oben mitspielen. Er musste lächeln.
Eben probierten sie die letzten Exemplare. Er hatte seinen Bewertungsbogen schon ausgefüllt: 19 Mal null Punkte und einmal vier Punkte für die Nummer 13. Ausgerechnet. Er war nicht abergläubisch, aber das war schon ein dickes Ding.
Er betrachtete die Männer und Frauen, die völlig in ihre so wichtige Aufgabe vertieft waren. Inzwischen tranken alle viel zu viel Wasser, um den Geschmack des Brotes aufnehmen zu können, aber der Teig hatte ihre Bäuche aufquellen lassen, und sie konnten nicht mehr.
Nun legte auch Claudine, die Frau, die er einstmals viel näher gekannt hatte und die ihn jetzt mied wie der Teufel das Weihwasser, das letzte Baguette zurück. Ausgefranst, lieblos, ausgeweidet sahen die 20 Exemplare aus, nachdem sie durch so viele Hände gewandert waren.
Die letzten Jurymitglieder trugen ihre Bewertungen ein: null Punkte für mies, vier Punkte für Extraklasse. Sie waren mit einem Ernst bei der Sache, als handele es sich um eine Entscheidung über Leben und Tod. Maurice Lefèvre musste wieder lächeln.
Der Juryvorsitzende klingelte mit einem Glöckchen, dann schritt er staatstragend mit der Urne durch den Raum und sammelte die Bewertungsbögen ein. Endlich wurden die Flügeltüren geöffnet, und frische Luft strömte herein.
Maurice Lefèvre öffnete den obersten Knopf seiner Uniform und ging durch den Saal, ließ seinen Blick über die Jurymitglieder schweifen, dann trat er hinaus auf den Balkon. Unten floss der Fluss durch die Dämmerung, so friedlich, nur ein schwaches Rauschen drang herauf. Ein junges Pärchen ging händchenhaltend am Quai entlang. Es roch nach Frühling, bald würde der Flieder zu blühen beginnen. Maurice zündete sich eine Gitanes an. Eine alte Angewohnheit. Er hatte schon oft darüber nachgedacht, die Marke zu wechseln, aber er konnte einfach nicht.
»Und, hast du für dich selbst gestimmt, Maurice?« Die Stimme erkannte er sofort. Claudine Rabaly war ihm gefolgt und hatte sich direkt neben ihn gestellt. Er merkte, wie seine Hand zitterte.
Er sah sie an, sah die Falten auf ihrer Stirn, sah, wie das eigentlich elegant geschnittene Kostüm schlaff an ihrem mageren Körper hing. Innerlich jubilierte er.
»Der Beste wird gewinnen, meinst du nicht, Teuerste?«, sagte er mit leicht vibrierender Stimme. Es kostete ihn Mühe, seine Aufregung zu verbergen. Aber er durfte nichts verraten. Sie würde es früh genug erfahren.
»Muss hart sein, ein Jahr im Präsidentenpalast ein und aus zu gehen und nun zu wissen, dass es vorbei ist.«
»Bei deinen politischen Qualitäten, Claudine, wirst du doch sicherlich die nächsten fünf Jahre dort verbringen, nehme ich an?« Er hoffte, sie würde die Ironie verstehen. Seiner Meinung nach war sie eine Nullnummer, nicht nur als Politikerin.
»Ich freue mich jedenfalls auf den neuen Namen auf der Liste.«
Er schnippte die Zigarette vom Balkon, drehte sich um und ging hinein, ohne sie noch einmal anzusehen.
Maurice setzte sich auf seinen Platz, kam aber nicht zur Ruhe. Also stand er wieder auf, wanderte durch den Saal, bemühte sich, niemanden anzusehen. Er wollte nicht auffallen, mit niemandem reden – nicht jetzt.
Es war eine schier endlose Warterei, er schielte immer wieder auf die große Uhr über der Tür, aber der Zeiger bewegte sich einfach nicht. Er hatte keine Ahnung, warum die Kommission, die mit der Auswertung der Stimmzettel betraut worden war, so lange brauchte.
Erst kurz vor Sonnenuntergang, es war fast neunzehn Uhr und das rote Licht fiel durch die hohen Fenster in den Saal, ging die Tür auf, und der Juryvorsitzende, der Vorsitzende der Bäckerinnung, trat auf die kleine Bühne. Der alte Mann mit Glatze und randloser Brille öffnete den versiegelten Umschlag, den die Zählkommission ihm überreicht hatte, und zog das Papier heraus.
Er betrachtete es und runzelte die Stirn.
Maurice spürte, wie er erstarrte, er ballte seine Fäuste in den Hosentaschen, spürte, dass es wahr war. Dass nun sein neues Leben beginnen würde.
Im Gesicht des alten Gewerkschafters breitete sich Skepsis aus.
Alle erhoben sich, als der sonst so souveräne Mann mit dünner Stimme zu reden begann:
»Der Gewinner des Grand prix de la baguette de tradition française de la ville de Paris …« Er räusperte sich. »Das hat es noch nie gegeben in der 26-jährigen Geschichte des Wettbewerbs … Der Gewinner des letzten Jahres konnte seinen Titel verteidigen und sich gegen 246 Baguettes durchsetzen. Im Namen der gesamten Jury gratuliere ich Maurice Lefèvre aus der Rue de Seine im sechsten Arrondissement.«
3
»Das war wirklich ein rundum gelungener Abend, ma chère«, sagte Lacroix zu Dominique, als sie gemeinsam aus der Haustür traten.
Jeannine vom Obst- und Gemüsestand zog eben den Rollladen hinauf. Die bunten Früchte, die roten Tomaten, die dunkelgrünen Artischocken, die gelben Paprika leuchteten um die Wette.
»Es war schön, die Ballandrauds mal wieder zu sehen.«
Lacroix nickte und dachte an die Gespräche, den Weißwein, den Cognac als Digestif – es war wirklich ein schöner Abend gewesen. Mit dem Ehepaar Ballandraud war das eigentlich immer so, und deshalb bedauerte Lacroix es, dass sie sich so selten sahen. Giselle Ballandraud arbeitete als Ärztin an der Uniklinik in Rouen, während ihr Mann eine Apfelplantage besaß. Die Früchte wurden zu Calvados verarbeitet. So gab es stets gute Gespräche über medizinische Phänomene und herrliche Spirituosen. Der Commissaire hätte nicht sagen können, was er mehr schätzte, die Kombination aber war einfach perfekt. Und nun stand als Gastgeschenk auch noch eine alte Flasche in seiner Bar, und er freute sich schon jetzt auf den Abend.
»Hast du gleich Termine im Rathaus oder magst du noch mit mir zum Chai laufen? Ich würde mich freuen, noch einen café mit dir zu trinken.«
Sie sah ihn bedauernd an. Das schätzte er so sehr an seiner Frau. Sie kostete jeden Moment mit ihm aus und war immer ehrlich traurig, wenn sich ihre Wege morgens trennten.
»Ich habe leider eine total langweilige Besprechung zu einem Neubau weiter unten an der École Militaire, bedaure.«
Dominique war die Bürgermeisterin des siebten Arrondissements. In diesem Bezirk rive gauche, mit seinen Museen, den alten Bürgerhäusern und Ministerien, einem der wohlhabendsten der Stadt, saß sie natürlich für die konservativen Républicains im Rathaus, das altehrwürdig in der Rue Saint-Dominique lag. Sie war beliebt bei ihren Wählern, weil sie in ihren bisher zwei Amtsperioden viel hatte erreichen können, und mochte ihre Arbeit sehr. Einzig die zahlreichen, nicht enden wollenden Sitzungen empfand sie mitunter als Qual.
»Dann sehen wir uns eben am Abend, ma chère.«
Sie gaben sich einen Abschiedskuss, dann wandte sie sich nach links in Richtung Rathaus und er nach rechts in Richtung Quais, um den Weg am Fluss entlang zu seinem Stammbistro einzuschlagen.
»Mon cher!« Der Ruf ließ ihn innehalten, er drehte sich um. Dominique hielt ihr Handy in der Hand. »Hier, für dich …«
Es konnte nur Rio sein. Niemand außer seiner Assistentin hatte die Nummer seiner Frau, und auch sie wählte sie nur im absoluten Notfall.
»Hier ist Rio, Commissaire, verzeihen Sie die frühe Störung. Sie waren nicht mehr zu Hause und noch nicht im Chai – und die Angelegenheit kann nicht warten: Es wurde eine Leiche gefunden. In der Rue de Seine.«
Lacroix