Die freudlose Gasse. Hugo Bettauer
Читать онлайн книгу.pflegte nur mit seinen zahlreichen Konzipienten zu verkehren, dem weiblichen Personal schenkte er kaum einen Blick, wenn er durch die Schreibzimmer ging. Aber einmal traf es sich, daß er nach Kanzleischluß zurückkehrte, um noch einen vergessenen Brief zu diktieren. Es war niemand mehr anwesend, als das neue Fräulein, Lia Holzer, die sich eben auch zum Fortgehen anschickte. Dr. Leid diktierte ihr den Brief direkt in die Maschine, und da er nicht wollte, daß die Reinemachefrauen zuhören, beugte er sich zu ihr hinab. Sog das Aroma des jungen schönen Mädchens ein, sah die schwellenden Formen der mädchenhaften Büste, wurde verwirrt, atmete schwer, vergaß weiter zu diktieren. Und wie sie sich aufrichtete, um ihn fragend anzublicken, berührte die atlasweiche Haut ihrer Wange sein Gesicht, versenkte sich sein Blick in ihre großen, feuchten Augen, in denen das Temperament eines jungen, leidenschaftlichen Weibes mühsam verhalten glühte.
Innerhalb weniger Tage ging die Saat dieses unbedeutenden Geschehnisses auf. Bevor ein Monat um war, schied Lia Holzer wieder aus der Anwaltskanzlei, aber nicht als Entlassene, sondern als Braut ihres Chefs. Bald fand die Hochzeit statt und es kamen Wochen, während der sich Dr. Leid wieder als Jüngling fühlte und dachte, daß das größte Glück der Welt ihm zu eigen geworden sei. Bedenken über den großen Altersunterschied verscheuchte er mit triftigen Argumenten. Sein Lebensernst, seine restlose Liebe zu Lia, nicht zuletzt sein Reichtum würden ausgleichend wirken. Und dann — Lia würde ihm Kinder schenken und als Mutter unlöslich mit ihm verknüpft sein.
Aber Lia bekam kein Kind, wollte keines bekommen. Stürzte sich in den Strudel des gesellschaftlichen Lebens, tanzte nachmittags im Trocadero, im Bristol-Grillroom, im Tabarin, während er in der Kanzlei arbeitete, schmollte, wenn er spät abends todmüde nicht mehr in Gesellschaft gehen wollte, gähnte, wenn er ihr von seinen beruflichen Erlebnissen erzählte, ließ die guten Bücher, die er ihr brachte, ungelesen umherliegen, hatte nur Toiletten, Nachmittagstees, Autofahrten, Theater und Bälle in ihrem schönen Köpfchen.
Ob sie ihn auch betrog? Unwillig, empört über diesen Gedanken, zuckte Leid empor. Lächerlich! Sie flirtete, wie es alle Frauen tun, kokettierte mehr sogar als andere, aber ihn betrügen? Nein, daran zu glauben hatte er wahrhaft keine Ursache. Neuerdings befand sich dieser ihm wenig sympathische Egon Stirner oft in ihrer Gesellschaft, und erst gestern war es ihm abends im Imperial, wo sie gemeinsam zu Dritt gespeist hatten, gewesen, als würde zwischen den beiden ein bedeutsamer Blick ausgetauscht werden. Aber nein, ein Flirt und nichts weiter! Und vom Flirt zum Ehebruch war ein weiter Weg, den seine Lia nie beschreiten würde.
Wo sie nur blieb? Nun könnte sie schon hier sein, auch wenn sie bis zum Schluß der Vorstellung geblieben wäre. Seine Nachbarin tröstete ihn: „Bitt’ Sie, die Jeritza wird sich zwanzigmal nach jedem Aktschluß verneigen müssen. Sicher dauert die Vorstellung bis nach zehn Uhr.“
Die erste Tischrede wurde gehalten. Ein ehemaliger Minister, jetzt Verwaltungsrat bei der Mitteleuropäischen Kreditbank, sagte monoton und stammelnd sein Sprüchlein auf, verglich Jonas Rosenow mit einem aufgehenden Stern und seine Gattin mit einem Veilchen, das gern im Verborgenen blüht, aber um so intensiver duftet. Worauf der Journalist furchtbare Gesichter schnitt, um nicht herausplatzen zu müssen.
Der Hausherr, schwitzend vor Aufregung, erwiderte. Als er sagte, er wisse die Ehre zu schätzen, so illustre Gäste an seiner fürstlichen Tafel versammelt zu sehen, fiel Gräfin Stuppach beinahe in Ohnmacht. Demel konnte sich nicht mehr zurückhalten und lachte hellauf und sogar Dr. Leid vergaß seine trüben Gedanken und lächelte dem Freund, der ihm gegenüber saß und der Tischherr seiner Frau hätte sein sollen, vergnügt zu.
Dann aber packte ihn wieder seine Nervosität. Es war halb elf Uhr und Lia noch immer nicht hier. Das ging nicht mit rechten Dingen zu, es mußte etwas geschehen sein. Vielleicht war sie unpäßlich geworden, vielleicht ein Brand im Opernhaus ausgebrochen. Erinnerungen an den Ringtheaterbrand, von dem seine Eltern ihm so oft erzählt, tauchten auf. Er konnte sich nicht länger beherrschen, sprang auf und verließ, eine Entschuldigung gegen seine Tischdame vor sich hinmurmelnd, den Speisesaal, und zum Telephon zu eilen und seine Wohnung anzurufen.
Nein, die gnädige Frau sei nicht zu Hause. Sie sei doch in großer Toilette, dem neuen goldgestickten schwarzseidenen Kleid, nach der Oper gefahren, um sich von dort direkt nach Pötzleinsdorf zu begeben.
Leid läutete ungeduldig ab. Die Schweißtropfen standen ihm auf der hohen klugen Stirne, als er in den Speisesaal zurückkehrte. Und nun begann sich seine Unruhe den übrigen Gästen mitzuteilen. Von allen Seiten wurde er gefragt, wo denn seine Frau bleibe. Einige Herren zischelten einander frivole Witze zu, Frauen lächelten mehr mokant als teilnahmsvoll. Otto Demel aber wurde von aufrichtiger Besorgnis ergriffen, während der neueste Flirt der schönen Frau Lia, Egon Stirner, ersichtlich bekümmert war.
Elf Uhr. Die Unterhaltung im Saal war dank des reichlichen Weingenusses so überlaut geworden, daß man kaum die Musik hörte. Schon stand man ungeniert auf, um mit entfernter Sitzenden anzustoßen, hier und dort wurde ein Champagnerkelch ausgegossen, schrille kleine Schreie bewiesen dem Kundigen, daß die Zote und die Erotik ihre Rechte forderten. Leid aber saß totenbleich, gelähmt da, fühlte sich von den neugierigen Blicken wie durchbohrt.
Otto Demel trat auf ihn zu, legte den Arm um seine Schulter.
„Ich werde jetzt die Redaktion anrufen, vielleicht hat sich in der Oper etwas ereignet, was das Ende der Vorstellung verzögert hat. Ganz gut möglich, eine Indisposition, ein Versagen des eisernen Vorhanges oder so etwas.“
Es verging einige Zeit, bevor Demel zurückkehrte. Lächelnd beruhigte er den Freund.
„Die Oper war tatsächlich recht spät aus, weil man der Jeritza unaufhörlich Ovationen dargebracht hat. Immerhin müßte deine Frau schon hier sein. Aber die Sache ist mir jetzt ganz klar. Lia wollte nicht gegen Ende des Soupers erscheinen und wird mit Bekannten irgendwo rasch speisen gegangen sein. Du wirst sehen, gleich ist sie hier.“
Laut, so daß es auch die weiter abseits Stehenden hören konnten, fuhr er fort:
„Ein sehr romantischer und interessanter Mord hat sich, wie mir der Nachtredakteur erzählte, ereignet. In der Melchiorgasse 55 wurde kurz nach zehn Uhr in einem Absteigequartier die Leiche einer bildschönen jungen Frau gefunden. Das schwarzseidene, goldgestickte Abendkleid und der Chinchillapelz lassen auf beste Gesellschaft schließen. Mehr weiß man noch nicht.“
Doktor Leid war aufgesprungen, wie im Traum wiederholte er die Worte „Schwarzseidenes, goldgesticktes Kleid, Chinchillapelz — — —.“ Dann schrie er gellend auf:
„Das ist Lia!“ Und stürzte ohnmächtig zusammen.
3. Kapitel.
Mord!
Eine Panik entstand in dem Saal. Mit einem schrillen Riß unterbrach das Orchester sein Spiel, gellende Schreie ertönten, alles drängte zu dem wie leblos auf dem Teppich liegenden Rechtsanwalt, so daß der Journalist und ein als Gast anwesender Arzt, berühmt und beliebt als erfolgreicher Bekämpfer des Kindersegens, nur mühsam zu Dr. Leid gelangen konnten. Er wurde in ein anderes Zimmer getragen, während die Gäste aufgeregte Gruppen bildeten und schreiend, gestikulierend das furchtbare Ereignis besprachen.
Frauen waren unter der Schminke sehr bleich geworden. Dunkle Treppen, Zimmer mit dicht verschlossenen Vorhängen tauchten vor ihnen auf, sie sahen sich selbst, verschleiert, angsterfüllt, mit fiebernden Nerven wie von Furien verfolgt durch schmutzige, verwahrloste Straßen eilen — — —
Und Männer sprachen jetzt im Flüsterton über die Verderbtheit der Zeit und warfen scheue, verlegene Blicke auf ihre Frauen, in denen die stumme Frage lag: „Auch du? — — —“
Rechtsanwalt Leid war in dem Schlafzimmer, in das er getragen worden war, wieder zu sich gekommen. Um ein Jahrzehnt gealtert lag er da, resigniert, schweigend, verfallen. Demel, über ihn gebeugt, sprach ihm Trost zu:
„Vielleicht täuscht du dich, vielleicht ist sie es nicht! Noch hast du keine Gewißheit.“
Mit einer müden Geste wehrte Leid ab:
„Sie ist es, ich weiß es. Arme Lia, ich war doch wohl zu alt für sie, zu schwer und