Die freudlose Gasse. Hugo Bettauer

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Die freudlose Gasse - Hugo Bettauer


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Tisch und sagte zögernd:

      „Ich werde jetzt was Ordentliches zum Nachtmahl einkaufen und auch Brennholz mitbringen, man friert sich ja hier im Zimmer die Seele aus dem Leib. Zur Frau Greifer nebenan werde ich auch gehen und ihr die Fünfzigtausend geben, die ich ihr noch schuldig bin.“

      Frau Rumfort war aufgestanden, streichelte der Tochter die blassen Wangen, wischte sich Tränen aus den Augen und flüsterte weinerlich:

      „Mein armes Kind, alles lastet auf dir! Wenn der arme Papa noch leben würde, wäre es anders. Bring’ recht viel Brot, Gretl, die Kinder haben so viel Hunger. Hat der Herr Wöß sich lange gespreizt, bevor er den Vorschuß bewilligt hat?“

      „Frag’ nicht, Mama! Ich will lieber gar nicht daran denken, das alles ist ja so ekelhaft. — — Also, ich werde gleich drei Laib Brot bringen.“

      Auch der alte Herr war auf sie zugegangen.

      „Grete,“ sagte er in dröhnendem Baß, „es wird nicht lange dauern und alle Not hat ein Ende. Wenn die Monarchie erst wieder hergestellt sein und Kaiser Otto, umgeben von den Erzherzoginnen und Erzherzogen, seinen Einzug in Wien halten wird, dann werde ich vor den kaiserlichen Knaben hintreten und ihm sagen: Majestät, hier steht vor Ihnen ein Greis, ein ehemaliger General, der für Kaiser und Reich bei Custoza und Königgrätz gekämpft und geblutet hat. — —“

      „Schon recht, Großpapa, aber bis dahin hat es noch seine guten Wege und bevor wir die Monarchie wieder haben, können wir alle zusammen verhungert sein.“

      Der alte Herr Rumfort, der es nur bis zum Oberst gebracht hatte, als Generalmajor in Pension gegangen war, aber keinerlei Ruhegenüsse bezog, weil er sie vor vielen Jahren Gläubigern bis zum Lebensende hatte verpfänden müssen, ging in das Schlafzimmer, das er mit dem Knaben bewohnte, um in Erwartung eines außergewöhnlichen Abendessens den zerfetzten Schlafrock mit einem uralten wattierten Offiziersmantel zu vertauschen. Frau Rumfort versuchte mit ein paar restlichen Holzspänen und viel Papier ein Feuer im Küchenherd zu entfachen, um das Wasser für die Würstel, die Grete mitbringen wollte, zum Sieden zu bringen; die beiden Kinder blieben allein im Wohnzimmer zurück.

      Else, ein überschlankes, immer hüstelndes Mädchen mit großen, wissenden Augen, stieß den kleineren Bruder an.

      „Du, Erich, ich weiß schon, warum die Grete nicht hat sagen wollen, ob ihr ihr Chef, der Herr Wöß, gerne das Geld gegeben hat. Sicher war er zudringlich und hat sie küssen wollen. Weißt du, im Vierundfünfziger-Haus, da wohnt so ein Kerl, ein Slowak ist er, glaub’ ich, der lauert mir immer auf und schenkt mir Schokolade. Neulich hat er einen Zehntausender zusammengefaltet und mir beim Hals ins Kleid geschoben und gesagt, wenn er ihn selbst suchen dürfe, werde er noch Zehntausend dazu geben. Aber ich hab’ nicht wollen und ihm die Zehntausend zurückgegeben. Ich glaub’, das war schön dumm von mir! Das nächstemal laß ich ihn suchen und kauf’ uns beiden was Gutes. Aber den Mund mußt du halten, hörst du, Erich?“

      Erich nickte. „Ich werd’ schon nichts verraten, aber vielleicht ist’s besser, wenn du’s zuerst der Grete sagst!“

      „Dummer Bub, sie tät es mir ja doch verbieten! Na, ich werde es mir noch überlegen! Wenn der Slowak nicht so grauslich wär’ — beim Sohn vom Hofrat in unserem Hause, weißt, der hübsche, junge Student, bei dem wär’s schon was anderes. Aber der schaut mich gar nicht an.“

      Während so das dreizehnjährige Mädchen ihre noch kindhaften und doch im Unterbewußtsein lasterhaften Gedanken entwickelte, besorgte Grete die Einkäufe. Zweieinhalb Paar Würstel, fünf Kilo Kartoffel, drei Laib Brot, Margarine, ein halbes Kilo Zucker, dann, als besonderen Leckerbissen, der ordentlich sättigen sollte, zwanzig Deka Käse, noch ein paar Kleinigkeiten, und hunderttausend Kronen waren weg. Im benachbarten Kohlenkeller kaufte das Mädchen, dessen Wangen jetzt vor Eifer gerötet waren, Brennmaterial, das sofort zugestellt werden sollte, und dann begab es sich in das Haus Nummer 56 mit den vielen Höfen, um die Schneiderin, Frau Greifer, aufzusuchen, der sie für allerlei kleine Arbeiten fünfzigtausend Kronen schuldete.

      Grete schüttelte sich, Brrr, wie widerwärtig war dieser Herr Wöß, ihr Chef, gewesen. Herr Wöß besaß ein sogenanntes Realitätengeschäft und Grete war in seinem Bureau als Stenotypistin angestellt. Mit dem Hungergehalt von sechshunderttausend Kronen im Monat. Wofür sie nicht nur acht Stunden im Tag arbeiten, sondern sich auch noch die zärtlichen Annäherungen des Herrn Wöß gefallen lassen mußte. Herr Wöß, der es auf seltsamen Wegen mit mehrfachen Ruhepunkten im Landesgericht vom Markthelfer zum reichen Mann gebracht hatte, trug ein Ohrringel, war zaundürr, in dem finnigen Gesicht thronte eine rote Trinkernase und dem breiten, gemeinen Mund mit den goldenen Zähnen entströmte ein furchtbarer Gestank, der, wenn sich Herr Wöß dicht neben Grete stellte, sie zur Verzweiflung trieb. Und er stand fast immer neben ihr, versuchte immer wieder den schlanken, schönen Mädchenleib mit seinen breiten, platten, ungepflegten Fingern zu betasten, lachte nur zynisch und kichernd auf, wenn das Mädchen ihn mit dem Ellbogen von sich stieß.

      Heute hatte Grete zu ihm in sein „Privatkontor“ gehen und ihn um Vorschuß bitten müssen. Worauf Herr Wöß sie mit einem Ruck auf seine Knie gezogen, ihr einen Kuß auf die Wange gedrückt und erklärt hatte, er würde ihr das Gehalt aufbessern und eine Million Vorschuß geben, wenn sie nett zu ihm sein wollte.

      „Sein S’ nicht dumm, Fräulein Gretl,“ hatte er keuchend gesagt, „ob ich der Erste bin oder ein anderer, ist doch ganz egal, und wenn Sie mein Schatzerl sein wer’n, dann können S’ in Samt und Seide gehen und haben ausgesorgt.“

      Mehr angeekelt als entrüstet hatte sich Grete freigemacht und den Mut aufgebracht, ihm zu sagen, sie müsse sofort den Posten verlassen, wenn er ihr nicht ohne solche abscheuliche Bedingungen den Vorschuß geben würde. Worauf sie wirklich das Geld bekam. Grinsend hatte ihr Wöß die Banknoten hergezählt.

      „Sie kommen schon noch in meine Gassen! Nur daß ich dann nicht mehr der Erste sein werd’. Wird dann halt billiger sein, das Vergnügen!“

      Grete betrat nun das Haus Nummer 56 und mußte zwei Höfe queren, bevor sie in den Hof Nummer 3 kam, dessen linke langgestreckte Flanke Frau Greifer als Schneideratelier bewohnte.

      „Wenn Papa noch leben würde!“ Wie ein Refrain gingen ihr die ewig wiederkehrenden Worte ihrer Mutter durch den Kopf. Ja, wenn Papa noch leben würde, dann wäre wohl alles anders. Aber Papa hatte sie verlassen, war feige desertiert — —

      Regierungsrat Rumfort hatte sich vor anderthalb Jahren gegen einmalige Abfindung freiwillig abbauen lassen. Und, der Mode des Tages folgend, die Millionen sofort zu einem Bankier getragen, um sie an der Börse zu verdoppeln, verdreifachen, Milliardär zu werden. Ein paar Monate war auch alles wunderbar gegangen, man hatte in Saus und Braus gelebt, bis eines Tages, nach einem kleinen Börsenkrach, Herr Rumfort kein Geld, keine Effekten, keine Stellung und keine Pension besaß. Und in einem Anfall von Verzweiflung sich eine Kugel durch den Kopf jagte.

      Grete schauderte zusammen. Von diesem Tag an war das Elend über sie alle hereingebrochen. Schon für das Leichenbegängnis mußten Schmucksachen verkauft werden, sie konnte nicht länger das Gymnasium besuchen, mußte rasch einen Handelskurs absolvieren, dann begann die Jagte um einen Posten, bis sie bei Herrn Wöß unterkam, Und nun lebten fünf Menschen von ihrem elenden Gehalt und von dem Erlös der schönen Möbel, Teppiche, Vasen, Nippessachen, die die Wohnung so traulich und lieb gemacht hatten.

      Jetzt aber, seif dem Herbst, ging es überhaupt nicht mehr, begann der Hunger ständiger Gast zu sein, lag die Zukunft dunkel, drohend, gespensterhaft vor Grete, die mit ihren siebzehn Jahrer Familienerhalter und der einzige klare Kopf im Hause war.

      5. Kapitel.

      Die gute Frau Greifer.

      Als Grete den dunklen, niedrigen Hausflur betrat, von dem aus eine Türe zu Frau Greifer führte, kamen ihr zwei junge, elegant gekleidete, grell geschminkte Mädchen entgegen, die sich von der Schneiderin eben verabschiedet hatten. Frau Greifer rief ihnen noch nach, sie mögen ja vor zehn Uhr kommen, dann erblickte sie Grete und ließ sie eintreten. Das Zimmer, das man vom Korridor betrat, entsprach ganz den Vorstellungen von einer vorstädtischen


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