Das Erbe. Wolfgang Ziegler

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Das Erbe - Wolfgang Ziegler


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kleine Wachstuchmappe, die ein paar vergilbte Fotos enthielt. Ihr folgte eine Art Plan oder Karte und ein merkwürdiger metallischer Gegenstand, der am ehesten aussah wie ein Spezialschlüssel für einen Tresor oder Ähnliches. Er war noch immer blitzblank, schien aus derbem Stahl zu bestehen und hatte einiges Gewicht. Im ersten Moment standen die beiden Männer schweigend vor den kargen Hinterlassenschaften Edward Wolfs. Doch die Dinge verkörperten offensichtlich den Schlüssel zu einem schwerwiegenden Geheimnis, bei dem es sich keineswegs um Angaben zu einem alten Schatzhort oder dergleichen handelte. Hier war offensichtlich mehr im Spiel. Eine erste Durchsicht der nun vorliegenden Dokumente brachte jedoch kein eindeutiges Ergebnis. Die Handvoll Fotos zeigten Aufnahmen von Baustellengeländen, die sich inmitten von Bergen und Wäldern befanden. Es waren einesteils Außenaufnahmen. Weitere Bilder zeigten das Innere anscheinend mächtiger Stollen, Hallen und Tunnels. Merkwürdigerweise erschien auf keinem der Bilder auch nur eine Menschenseele. Der beiliegende alte Plan entpuppte sich auseinandergefaltet als fachmännische am Reißbrett angefertigte technische Zeichnung, anscheinend akkurat eine Energieverteilung in einem vorerst unbekannten System unterirdischer Bauten darstellend. Und was der Metallgegenstand wirklich darstellte - vorerst blieb dies ein völliges Rätsel. Vor den hohen, schmalen Fenstern des Kanzleibüros zog peitschend der Herbstwind das fahle Laub von den Bäumen. Im Raum herrschte das diffuse Dämmerlicht der späten Nachmittagsstunde, und in den alten, braunen Wandpaneelen knackte es mitunter leise.

      „Das ist mir alles seltsam“, unterbrach Wolf endlich die eingekehrte Stille. „Was gibt es denn hier zu holen? Diese Orte sind doch sicher von den Polen oder Russen schon lange durchsucht und verschlossen, wenn die nicht gar alles in die Luft gejagt haben!“

      „Da irren Sie aber gewaltig. Wenn Ihr werter Herr Vater hier etwas ganz bsonderes für Sie hinterließ, dann hatte das seinen triftigen Grund. Und wenn jemand etwas wirkungsvoll verschlossen hat, junger Freund, dann waren nur wir das damals!“ erregte sich Meurat.

      „Schon gut“, beeilte sich Wolf zu entgegnen, der die plötzliche Aufregung seines Gegenübers zu verstehen begann. „Aber es muß also dort etwas Wertvolles verborgen sein, womit sich mein Vater hätte sanieren können ...“

      „Genau das ist wohl der Punkt“, bestätigte ihm der Anwalt. Seine Brille mit dem goldnen Gestell heftig putzend wühlte er nochmals in dem kleinen Häufchen Unterlagen herum.

      „Natürlich bin ich nicht völlig ahnungslos. Nur, in meinem Alter wäre das etwas zuviel Anstrengung und Abenteuer. Außerdem habe ich hier noch meine Aufgaben zu erfüllen ...“

      Meurat nahm die gefaltete Karte zur Hand und ließ sich damit tief in einen der schweren Sessel sinken. Die Sekretärin brachte den beiden Männern in den nächsten Minuten nochmals Kaffee, dann durfte sie Feierabend machen. Der Anwalt und sein Gast waren somit allein und völlig ungestört. Nach ausgiebigem Studium des Planes, bei dem auch eine übergroße Lupe zum Einsatz kam, hellten sich Meurats Gesichtszüge wieder etwas auf.

      „Es ist weit weg. Es ist im Eulengebirge, heute leider polnisch besetztes Gebiet“, sagte er endlich. „Genau das vermutete ich vorher schon. Denn wir waren gemeinsam dort eingesetzt. Aber es wurden dort seit Mitte der dreißiger Jahre mehrere Untergrundanlagen zu verschiedenen Zwecken gebaut. Das Problem ist also, welche von ihnen das gesuchte Objekt verbirgt. Abgesehen davon, daß mir nicht völlig klar ist, worum es sich überhaupt handelt. Wäre es zum Beispiel nur eine Art Kiste oder so, dann nutzt nicht mal die Kenntnis, in welcher Anlage sie steckt ...“

      „Wieso das?“ wollte Wolf wissen. „Weil die einzelnen untertägigen Systeme derartige Ausdehnungen haben, über die sie sich keine Vorstellungen machen. Da geht es nicht um ein paar hundert Meter lange Grubenstrecken, oder so. Unter dem Gebirge liegen komplexe Gangsysteme. Fahrstollen für kleine Elektrobahnen mit Halte-punkten, Montagehallen, Bunker, Fahrstuhlschächten, Nachrich-tenzentralen, Befehls- und Überwachungsständen. Wie soll man darin einen verborgenen Gegenstand finden. Ein zum Beispiel mir bekannter Tunnel war damals schon an die drei Kilometer lang!“

      „Dann muß etwas in diesem Material einen konkreten Hinweis geben, ansonsten wäre es ja sinnlos“, entgegnete der Besucher des Rechtsanwalts.

      „Da liegen Sie wohl allerdings richtig“, gab sich Meurat nachdenklich. Erneut begannen die beiden Männer die vorliegenden Dokumente genau zu untersuchen. Sie richteten das Licht der nun eingeschalteten Schreibtischlampe auf Plan und Fotos und ver-suchten noch etwas herauszufinden, was sie anfangs übersehen haben mochten. Meurat, der etwas Probleme mit den Augen hatte, hielt die Karte eine Weile dichter unter den starken Lichtkegel der Lampe, gab sie dann aber zurück an Wolf.

      „Ich kann nichts erkennen“, sagte er mißmutig. „Das sind die Pläne der Elektroversorgungen in den Hauptsystemen, sonst nichts.“

      Wolf nahm die auseinandergefaltete Karte erneut in die Hand. Plötzlich stutzte er. Was war das für eine schmale, längliche Verfärbung? Die war vorhin noch nicht da! Bei genauerer Untersuchung mit der starken Lupe entpuppte sie sich nun als eine braune, gestrichelte Linie, die sich ein kleines Stück im Gewirr der hier aufgezeichneten Gangsysteme entlang zog.

      „Ich habe den Plan vorhin mal dicht vor die Lampe gehalten“, erklärte Meurat aufgeregt. „Da hat er sich wohl kurz erwärmt und die Markierung ist aufgetaucht. Eine ganz simple Methode. Einfacher Zitronensaft reicht da schon. Als Kinder haben wir so früher Geheimschrift fabriziert.“ Er schlug sich überraschend mit der flachen Hand an die hohe Stirn. „Natürlich, jetzt begreife ich. Der seltsame Hinweis auf die sehr saure Arbeit, den Plan zu zeichnen ... Damit wollte er sicher verschlüsselt auf die versteckte Botschaft in der Zeichnung hinweisen.“

      „Und da muss noch mehr vermerkt sein“, ergänzte Wolf. Mit diesen Worten hielt er den ausgebreiteten Plan vorsichtig nahe an die heiße Glühbirne der Schreibtischlampe. Und tatsächlich wurde langsam eine Reihe von zuvor verborgenen Linien sichtbar. Nachdem der ganze Plan so den warmen Lichtstrahlen ausgesetzt war und nichts mehr verborgen geblieben sein konnte, sichteten sie nochmals ihre Entdeckung.

      Von Hand war eine gestrichelte Linie eingezeichnet, die offen-sichtlich einen Weg wies, der, ausgehend von einem der Eingänge, in die Tiefen des gewaltigen Tunnellabyrinths zu verfolgen sein konnte. Am Ende der Linie, die dort mit einem kleinen Richtungspfeil endete, stellte die Zeichnung an dieser Stelle einen länglich erweiterten Tunnelabschnitt dar.

      „Der Weg vom Eingang bis an diese Stelle ist eigentlich nicht sehr weit. Das gibt mir zu denken“, murmelte Meurat. „Das kann noch nicht der Punkt sein, der wirklich zu erreichen ist. Machen Sie sich an diesem Ort, zweifellos ist es einer der kleinen Haltepunkte, auf ein wenig Bahnfahrt gefasst. Dort, wo Sie schließlich ankommen, muß dann des Rätsels Lösung liegen. Und zwar unübersehbar, sonst wäre hier sicher noch etwas vermerkt.“

      „Meinen Sie ernsthaft, daß dort drinnen heute noch die Bahn fahrbereit ist? Und die soll zudem genau an diesem Ort bereitstehen“, fragte Wolf erstaunt. „Selbst wenn es sich nur um eine kleine, elektrisch betriebene Schmalspurbahn handelt. Auch die bräuchte immerhin Strom.“

      „Dazu kann ich wenig sagen. Die Elektroversorgung und andere Einrichtungen können, müssen aber nicht mehr intakt sein. Es hat zwar nicht die angekündigten tausend Jahre gewährt, aber dementsprechend technisch-solide wurde damals gebaut und installiert.“ Meurat stand auf und trat an eines der drei Erkerfenster. Sachte rieb er sich die kalten Hände und schaute durch die nassen Scheiben. Doch seine Augen sahen anscheinend ganz andere Dinge. Wolf beobachtete ihn von seinem Platz vorm Schreibtisch aufmerksam. ‚Meurat weiß mehr, als er im Moment zugibt‘, ging es ihm instinktiv durch den Kopf.

      „Ich glaube fest, Ihr Vater hat dort eine Botschaft hinterlassen. Genau an diesem Platz, wo auf dem Plan seine Linie endet ...“, ließ sich der Mann am Fenster plötzlich leise aber deutlich vernehmen. „Irgendwie werden Sie geführt werden. Machen Sie sich keine Gedanken. Doch ich glaube nicht ...“. Unvermittelt brach Meurat ab, als ob er sich bei unbedachten, gedankenverloren geäußerten Worten überrascht hätte.

      „Alles kann ich Ihnen noch nicht sagen“, mit diesem Satz wandte er sich wieder vom Fenster ab. „Ich muss erst noch einige Erkun-digungen einziehen. Ich wußte ja bis dato auch nicht, was


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