Gesammelte Werke. Ernst Wichert

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Gesammelte Werke - Ernst Wichert


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nicht aufmerksam, schalt sie, und macht mir's allzu leicht.

      Das kommt, weil ich Euch gern zusehe, antwortete er galant, wie Ihr sinnend auf die Figuren blickt und wohl dreimal zierlich den Finger darauf legt, bis Ihr sie einen Schritt fortbewegt. Ich habe Euch früher so vorsichtig nicht erkannt.

      Ich will künftig die Hand unter dem Tische behalten, sagte sie, bis mein Entschluß reif ist.

      Sie handelte auch eine Weile danach. Nun haschte er aber, unter der Platte weg, ihre Hand und hielt sie fest, als sie eben nach der Figur greifen wollte. So kommt die Partie nicht zu Ende, meinte sie, ohne sich ernstlich zu sträuben.

      Sie steht schlecht genug für mich.

      Oh, Ihr könnt sie noch gewinnen! Wenn ich an Eurer Stelle wäre ...

      Nun – was tätet Ihr?

      Soll ich Euch spielen helfen – gegen mich?

      Ihr seht's lieber, wenn ich verliere.

      Ich … Gebt mich frei! Sie bat mit den Augen.

      Ich bin ja Euer Gefangener.

      Nein, ich bin der Eure, wie es scheint. Aber ich will mich mit einem guten Rat lösen. Gebt acht, Junker, Euer Turm ist bedroht!

      Ich mag ihn nicht entsetzen.

      Sie zog rasch ihre Hand fort und warf die Figur vom Brett. So nehme ich ihn ohne Gnade. Dazu lachte sie recht schelmisch, daß die weißen Zähne blitzten. Das ganze Gesicht war wie mit Purpur übergossen.

      Es sollte Scherz sein. Aber so leicht Heinz sich auch darüber zu denken bemühte, er mußte sich doch eingestehen, daß die Nähe des sehr reizenden und ihm so ganz ergebenen Mädchens einen immer zwingenderen Einfluß auf ihn übte. Er war jung und dankte Natalia das Leben, das ihm wieder lieb zu werden anfing. Er dankte es ihr, darüber war ihm kein Zweifel. Die Quellen des Lebensgenusses, die während des langen Siechtums schon ausgetrocknet waren, hatte sie wieder frisch sprudeln lassen; der Arzt galt ihm nur als ihr Werkzeug, sie selbst war die eigentliche Heilkünstlerin. Er redete sich gern ein, daß sie ihm einen Zaubertrank eingegeben habe, der ihn nun wider seinen Willen zwinge. Und nun so viel mit ihr allein – und nicht mehr ein Todkranker ...!

      Heinz brauchte schon nicht mehr des Kaplans Beistand beim Aufstehen. Des Morgens, ehe die liebe Freundin kam, übte er sich im Gehen und in allerhand verlernten körperlichen Bewegungen. Er trat in die Waffenkammer neben seinem Stübchen, hob ein Schwert von der Wand und versuchte es zu schwingen. Aber das erstemal sank ihm sofort der Arm nieder, und auch am dritten und vierten Tage noch zitterte ihm nach wenigen Lufthieben die Hand. Mit welcher Leichtigkeit hatte er sonst eine Armbrust gespannt! Nun strengte er vergebens alle Kraft an, die Sehne in die Kerbe zu ziehen: kaum bewegte sie sich ein wenig über der Pfeilrinne hin und her. Aber jeden Morgen nahm er sie wieder zur Hand und erprobte daran seine wachsende Kraft.

      Sie wurde ihm geradezu das Maß für den Fortschritt seines Gesundens. An dem Tage, sagte er sich, an dem ich die Armbrust spannen kann, werde ich wieder ein Mann sein! Immer ungeduldiger sehnte er ihn heran.

      Und er kam. Nach einer Nacht, die er in tiefem Schlafe zugebracht, fühlte er sich am Morgen wundersam gestärkt. Alle Glieder streckten sich leicht, die Brust war ihm frei, er fühlte nicht mehr den mindesten Schmerz. Sofort faßte er die Sehne mit beiden Händen und zog sie kräftig; zu seiner freudigen Überraschung sprang sie beim ersten Ruck in die Kerbe ein. Er drückte ab und wiederholte den Versuch – nochmals und nochmals. Kaum merkte er etwas von Ermüdung. Aus einem Holzkasten, der in der Kammer stand, nahm er einen Pfeil, legte ihn in die Rinne, trat ans Fenster und stieß den Flügel auf. Eine Krähe flog mit heiserem Geschrei vorüber. Er legte an und schickte ihr den Pfeil nach. Getroffen! Sie überschlug sich in der Luft und fiel mit zerschmettertem Flügel in den Schnee am Grabenrande.

      Er hatte seine Gesundheit wieder. Eine Weile stand er am offenen Fenster und schaute nach dem Vogel aus, dessen Blut den Schnee rot färbte. Er war nicht tot, sondern drehte sich, mit dem gesunden Flügel schlagend, im Kreise. Meine Hand hat doch nicht die frühere Sicherheit, murmelte Heinz. Nur der Flügel zerschlagen! Sonst traf ich besser. Das arme Tier tat ihm leid. Er hätte ihm gern den Garaus gemacht und dann seine erste Jagdbeute hinaufgeholt, sie Natalia als Beweisstück vorzuzeigen. Aber nach dem Graben hin hatte der Turm keinen Ausgang; es wäre nötig gewesen, den Schloßhügel zu umgehen, und das war ein ziemlich weiter Weg.

      Weshalb sollte er davor erschrecken? Er warf den Pelzrock über, mit dem er sich nachts bedeckte, wählte aus der Kammer eine Kappe von Hundefell, die man Hundskogel nannte, und verließ das Turmgemach.

      Wie er die Steintreppe hinabstieg, zitterten ihm ein wenig die Knie. Es war weniger körperliche Schwäche als innerliche Aufgeregtheit: er kam sich vor wie ein Gefangener, der nach langer Kerkerhaft zum erstenmal wieder unter den freien Himmel treten soll, oder eigentlich wie ein Ausbrecher, der den Vorteil einer offengelassenen Tür benutzt und sich mit Herzklopfen durch einen dunklen Gang tastet. Als er unten in der Vorhalle angelangt war und sich umschaute, kam er auf andere Gedanken. Die Pforte zur Kapelle stand halb offen; es drang ein Duft von Weihrauch und verlöschten Wachskerzen hinaus. Wahrscheinlich hatte der Kaplan vor kurzem die Morgenandacht gehalten. Durfte er bei seinem ersten Ausgang an der Kapelle vorbeigehen? Noch hatte er nicht Gott gedankt für seine Rettung aus Todesnot – er erinnerte sich, daß Pater Stanislaus ihn gemahnt hatte, die Kapelle zu besuchen, sobald die Treppe kein Hindernis mehr sein werde. So wandte er den Schritt und trat an die Pforte, zunächst nur neugierig in den halbdunklen Raum hineinspähend.

      Das Tageslicht fiel gedämpft durch zwei schmale, sehr tiefe Fenster mit bunten Glasscheiben in das hochgewölbte Gemach. Zwischen ihnen stand auf einigen Steinstufen der Altar, schwarz gedeckt. Dahinter erhob sich ein geschnitztes und bemaltes Holzwerk fast bis zum Ansatz des Gewölbebogens. Den Kern desselben bildete eine Lade zum Aufbewahren der Gerätschaften; auf den beiden Flügeln der Tür waren Heilige mit breiten Goldscheinen ums Haupt abgebildet, sie hatten die langen Hände zusammengelegt, daß die Fingerspitzen einander berührten, und die Handgelenke so ausgedreht, daß die Hände glatt auf die Brust drückten. Seitwärts in halber Wandhöhe zeigte sich ein Bild, dem besondere Verehrung gezollt zu werden schien, denn es hing eine Ampel davor, in der das Lämpchen auch jetzt bei Tage brannte, und in der Nähe hingen allerhand Weihgeschenke. Heinz konnte aus der Entfernung die Malerei nicht erkennen und trat heran. Das Bild stellte eine Mutter Gottes mit schwarzbraunem Gesicht vor; die Krone war mit Edelsteinen besetzt, die im Licht des Lämpchens sanft funkelten. Der Kaplan hatte oft davon gesprochen und erzählt, daß der alte Graf es aus Ungarn mitgebracht habe, wohin es von Byzanz oder vielleicht vom heiligen Berge Athos gekommen sei. Der römischkatholische Bischof habe es nochmals geweiht, und nun glaube man weit und breit an seine Wundertätigkeit, da schon manchem ein Gebet an dieser Stelle von körperlichen Gebrechen geholfen habe. Heinz vertiefte sich in das braune Gesicht, das bei längerem Anschauen an Reiz gewann. Der kleine Mund lächelte so freundlich, und die Augen schienen sich lebendig auf ihn zu richten. Er faltete unwillkürlich die Hände und sank in die Knie. Alle die Gebete, die er als Schulknabe gelernt hatte, sprach er leise vor sich hin.

      Sie genügten seinem frommen Bedürfnis nicht, aus tiefstem Herzen heraus sagte er in eigenen Worten dem Himmel Dank für die wiedergeschenkte Gesundheit und bat zugleich Gott, die Heilige Jungfrau und alle Heiligen, daß sie seiner treuen Pflegerin vergelten möchten, was sie Gutes an ihm getan. Dabei sah er zu dem Bilde auf, und es erschreckte ihn fast, wie nun die Augen zu ihm hinabblickten. Er mußte an das Gesicht denken, das sich über ihn gebeugt hatte, als er nach der Fahrt vom Schlachtfelde hierher erwachte und sich zuerst wieder am Leben fühlte.

      So mischten sich nun doch weltliche Gedanken in seine Andacht. Das beschwerte ihn. Er erhob sich, trat an den Altar und betrachtete die langgestreckten Heiligen mit ihren ernsten, hageren Gesichtern und starr zum Himmel gerichteten Augen. Sie hatten Marterwerkzeuge in den Händen und schienen für die Qualen zu danken, die sie auf Erden erlitten hatten. Heinz konnte jetzt nicht mit ihnen fühlen, da sein Leib frisch und sein Herz froh war. Er verrichtete noch in förmlicher Weise ein kurzes Gebet, in dem er sich ihrer Fürbitte bei Gott empfahl, daß er seiner Sünden entledigt werden möchte, und verließ die Kapelle.

      In der Halle dachte er nicht mehr an den geschossenen


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