Gesammelte Werke (Über 150 Titel in einem Band). Rosa Luxemburg
Читать онлайн книгу.Beweis für das "Fundamentalgesetz" Tugan-Baranowskis bricht somit als ein "fundamentales" Quiproquo zusammen, und seine ganze Konstruktion, aus der er auch die "neue Krisentheorie" mitsamt der " Disproportionalität" abgeleitet hat, wird reduziert auf ihre papierene Grundlage: auf das von Marx sklavisch abgeschriebene Schema der erweiterten Reproduktion.
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Der Ausgang des russischen "legalen" Marxismus
Es ist ein Verdienst der russischen "legalen" Marxisten und insbesondere Tugan-Baranowskis, die Analyse des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses und dessen schematische Darstellung im zweiten Bande des Marxschen "Kapitals" im Kampfe mit den Skeptikern der kapitalistischen Akkumulation für die Wissenschaft fruktifiziert zu haben. Da aber Tugan-Baranowski diese schematische Darstellung für die Losung des Problems selbst statt für dessen Formulierung versehen hat, so kam er zu Schlüssen, welche die Grundlagen selbst der Marxschen Lehre auf den Kopf stellen mußten.
Die Tugansche Auffassung, wonach die kapitalistische Produktion für sich selbst schrankenlosen Absatz bilden könne und von der Konsumtion unabhängig sei, führt ihn geradenwegs zu der Say-Ricardoschen Theorie von dem natürlichen Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsumtion, Nachfrage und Angebot. Der Unterschied ist nur der, daß Say-Ricardo sich ausschließlich in den Bahnen der einfachen Warenzirkulation bewegten, während Tugan dieselbe Auffassung einfach auf die Kapitalzirkulation überträgt. Seine Theorie der Krisen aus "Disproportionalität" ist im Grunde genommen nichts als eine Paraphrase der alten platten Abgeschmacktheit Says: Wenn von irgendeiner Ware zuviel produziert worden ist, so beweist das bloß, daß von irgendeiner anderen Ware zuwenig produziert worden ist, nur daß Tugan diese Abgeschmacktheit in der Sprache der Marxschen Analyse des Reproduktionsprozesses vorträgt. Und wenn er entgegen Say die allgemeine Überproduktion wohl für möglich erklärt, und zwar mit dem Hinweis auf die von Say ganz vernachlässigte Geldzirkulation, so basieren Tugans erfreuliche Operationen mit dem Marxschen Schema doch tatsächlich auf derselben Vernachlässigung der Geldzirkulation, wie sie Say und Ricardo im Problem der Krisen geläufig war: "Schema Nr. 2" wird sofort voller Stacheln mit Widerhaken, sobald man beginnt, es auf die Geldzirkulation zu transponieren. An diesen Stacheln ist Bulgakow in seinem Versuch, die abgebrochene Marxsche Analyse zu Ende zu denken, hängengeblieben. Es ist diese Vereinigung von Marx geborgter Denkformen mit Say-Ricatdoschem Gedankeninhalt, was Tugan-Baranowski bescheiden seinen "Versuch der Synthese der Marxschen Theorie mit der klassischen Nationalökonomie" getauft hat.
So gelangt die optimistische Theorie, die die Möglichkeit und Entwicklungsfähigkeit der kapitalistischen Produktion gegen kleinbürgerliche Zweifel verteidigte, nach fast einem Jahrhundert und über die Marxsche Lehre in ihren "legalen" Wortführern wieder zum Ausgangspunkt, zu Say-Ricardo. Die drei "Marxisten" landen bei den bürgerlichen Harmonikern der guten alten Zeit knapp vor dem Sündenfall und der Vertreibung der bürgerlichen Nationalökonomie aus dem Paradiese der Unschuld - der Kreis ist geschlossen.
Die "legalen" russischen Marxisten haben über Ihre Widersacher, die "Volkstümler", zweifellos gesiegt, sie haben aber zuviel gesiegt. Alle drei - Struve, Bulgakow, Tugan-Baranowski - haben im Eifer des Gefechts mehr bewiesen als zu beweisen war. Es handelte sich darum, ob der Kapitalismus im allgemeinen und insbesondere in Rußland entwicklungsfähig sei, und die genannten Marxisten haben diese Fähigkeit so gründlich dargetan, daß sie sogar die Möglichkeit der ewigen Dauer des Kapitalismus theoretisch nachgewiesen haben. Es ist klar, daß, wenn man die schrankenlose Akkumulation des Kapitals annimmt, man auch die schrankenlose Lebensfähigkeit des Kapitals bewiesen hat. Die Akkumulation ist die spezifisch kapitalistische Methode der Erweiterung der Produktion, der Entwicklung der Produktivität der Arbeit, der Entfaltung der Produktivkräfte, des ökonomischen Fortschritts. Ist die kapitalistische Produktionsweise imstande, schrankenlos die Steigerung der Produktivkräfte, den ökonomischen Fortschritt zu sichern, dann ist sie unüberwindlich. Der wichtigste objektive Pfeiler der wissenschaftlichen sozialistischen Theorie bricht dann zusammen, die politische Aktion des Sozialismus, der Ideengehalt des proletarischen Klassenkampfes hört auf, ein Reflex ökonomischer Vorgänge, der Sozialismus hört auf, eine historische Notwendigkeit zu sein. Die Beweisführung, die von der Möglichkeit des Kapitalismus ausging, landet bei der Unmöglichkeit des Sozialismus.
Die drei russischen Marxisten waren sich des von ihnen im Gefecht vollzogenen Terrainwechsels wohl bewußt. Struve machte sich freilich über den Verlust des teuren Pfandes vor Jubel über die Kulturmission des Kapitalismus weiter keine Sorgen.183 Bulgakow suchte das in die sozialistische Theorie gerissene Leck notdürftig mit einem anderen Fetzen dieser Theorie zu verstopfen: Er erhoffte, daß die kapitalistische Wirtschaft dennoch trotz ihres immanenten Gleichgewichts zwischen Produktion und Absatz zugrunde gehen müsse, und zwar an dem Fall der Profitrate. Dieser etwas nebelhafte Trost wird aber durch Bulgakow selbst zum Schluß vernichtet, wo er, auf die letzte Rettungsplanke, die er dem Sozialismus hingestreckt hatte, vergessend, plötzlich Tugan-Baranowski belehrt, daß der relative Fall der Profitrate für große Kapitale durch das absolute Wachstum des Kapitals wettgemacht werde.184
Endlich Tugan-Baranowski, der konsequenteste von allen, reißt mit der derben Freude eines Naturburschen sämtliche objektive ökonomische Pfeiler der sozialistischen Theorie nieder und baut die Welt in seinem Geiste "schöner wieder auf" - auf dem Fundament der "Ethik". "Das Individuum protestiert gegen eine Wirtschaftsordnung, die den Zweck (den Menschen) in ein Mittel verwandelt und das Mittel (die Produktion) in einen Zweck."185
Wie dünn und fadenscheinig die neuen Begründungen des Sozialismus waren, haben alle drei genannten Marxisten an ihrer Person bewiesen, indem sie dem Sozialismus alsbald, kaum daß sie ihn neu begründet hatten, den Rücken kehrten. Während die Massen in Rußland mit Einsetzung ihres Lebens für die Ideale einer Gesellschaftsordnung kämpften, die dereinst den Zweck (den Menschen) über das Mittel (die Produktion) stellen soll, schlug sich "das Individuum" in die Büsche und fand in Kant eine philosophische und ethische Beruhigung. Die "legalen" russischen Marxisten endeten praktisch, wo ihre theoretische Position sie hinführte: im Lager der bürgerlichen "Harmonien".
Dritter Abschnitt.
Die geschichtlichen Bedingungen der Akkumulation
Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Widersprüche des Schemas der erweiterten Reproduktion
Wir haben im ersten Abschnitt festgestellt, daß das Marxsche Schema der Akkumulation auf die Frage, für wen die erweiterte Reproduktion eigentlich stattfinde, keine Antwort gibt. Nimmt man das Schema wörtlich so, wie es im zweiten Bande am Schluß entwickelt ist, dann erweckt es den Anschein, als ob die kapitalistische Produktion ausschließlich selbst ihren gesamten Mehrwert realisierte und den kapitalisierten Mehrwert für die eigenen Bedürfnisse verwendete. Dies bestätigt Marx durch seine Analyse des Schemas, in der er den wiederholten Versuch macht, die Zirkulation dieses Schemas lediglich mit Geldmitteln, d.h. mit der Nachfrage der Kapitalisten und der Arbeiter zu bestreiten, ein Versuch, der ihn schließlich dazu führt, den Goldproduzenten als Deus ex machina in die Reproduktion einzuführen. Es kommt noch jene hochwichtige Stelle im ersten Band des "Kapitals" hinzu, die in demselben Sinne gedeutet werden muß: "Zunächst muß die Jahresproduktion alle die Gegenstände (Gebrauchswerte) liefern, aus denen die im Lauf des Jahres verbrauchten sachlichen Bestandteile des Kapitals zu ersetzen sind. Nach Abzug dieser bleibt das Netto- oder Mehrprodukt, worin der Mehrwert steckt. Und woraus besteht dies Mehrprodukt? Vielleicht