Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
Читать онлайн книгу.dort suchte ich das unsichtbare Gespenst durch verlogen freundliche Worte oder Gedanken zu beschwichtigen. In dem Moment aber, da ich das Lokal verlassen und die Sicherheit des Korridors erreicht hatte, schmetterte ich die Tür hinter mir zu und rief dem bösen Geist noch ein höhnisches Schimpfwort nach. Immer das gleiche: »Dumm bist du!«
Das fiel meinen Eltern mit der Zeit auf. Sie lockten die Bewandtnis aus mir heraus. Das Klosett hieß von da an bei uns der »Dummbiste«.
Tante Kunze hatte wieder, wie alljährlich, zum Nikolaus drei Wachsstöcke und drei Pfefferkuchen für uns drei Kinder gesandt. In der Nacht wachte ich auf und sah ein Gespenst.
»Ottilie!« rief ich leise und entsetzt. »Siehst du das Gespenst?«
Ottilie antwortete nicht. Aber ich sah das Gespenst deutlich trotz der Dunkelheit. Es war weiß und wallte nach rechts und dann nach links und dann in der Richtung nach Ottiliens Bett. Ich schloß die Augen vor Angst. Als ich sie wieder öffnete, war die böse Erscheinung verschwunden.
»Ottilie«, rief ich nun lauter, »hast du das Gespenst gesehen?«
Ottilie sagte nach einiger Zeit flüsternd: »Ja! Ich habe Angst. Sei ganz still!«
Am nächsten Morgen fehlte auf meinem Teller der Pfefferkuchen von Tante Kunze.
Tür zuschmettern! – Ich war wirklich ein besonders trotziger Junge, zumal meiner Mutter gegenüber, vielleicht weil die auch solch harten Kopf besaß. Hatte ich mich über sie geärgert, weil sie einen Ärger über mich ausgelassen hatte, so ging ich plötzlich aus dem Zimmer und schmetterte die Tür hinter mir zu. Ich hörte die kleine nervöse Person bei dem Knall aufschreien. Ich wußte: Jetzt kommt sie. Ich wartete auf dem Gang. Sie stürzte heraus, griff nach Vaters resolutem Ziegenhainer und schlug damit wütend hinten auf mich ein. Ich stand steif, stolz, unbeweglich still, wie ein Indianer aus dem herrlichen Lederstrumpf. Bis Mutter von mir abließ. Ich glaube, sie lächelte, denn sie hatte wohl etwas Sinn für Humor oder mindestens für Komik. Heute fahre ich selber aus der Haut, wenn ich Türen schmettern höre.
Einen gleichen passiven männlichen Sieg glaubte ich davonzutragen, wenn ich nach einem Gekränktsein mittags schweigsam zwar Suppe und Fleischgericht mitaß, aber dann, als das Dessert aufgetischt wurde, mich erhob und, auf diesen leckersten Teil des Menüs verzichtend, die Stube verließ. Meine Eltern reagierten darauf sehr vernünftig, sie lachten nur.
Anna sang, wenn meine Eltern abwesend waren, ganz hingegeben. Sie sang so laut, daß im oberen und unteren Stockwerk geklopft wurde. Sie sang nach der Melodie »Seht ihr drei Rosse vor dem Wagen« ein Lied mit dem ergreifenden Refrain:
Ich will mein Haupt auf Schienen legen,
Dieweil der Zug von Breslau kam.
Eins von unseren Mädchen war mit einem Droschkenkutscher verlobt. Als dieser einmal mit seiner Braut und einer Innungsgesellschaft einen Ausflug unternahm, erhielt ich die Erlaubnis mitzureisen.
Ich werde in meinen Schilderungen nicht korrekt chronologisch bleiben können, sondern manchmal vorgreifen oder zurückgreifen. Aber diese Fahrt von etwa 15 Droschken, besetzt mit Droschkenkutscherbräuten, muß weit zurückliegen. Das Dienstmädchen hatte mich wohl mitgenommen, um meinen Eltern eine Gefälligkeit zu erweisen, denn die waren für die damalige Zeit immer herzlich und verständnisvoll dem Personal gegenüber. Bei der Droschkenfahrt war ich blödes Kind wahrscheinlich der frei vergnügten, primitiven Gesellschaft etwas im Wege. Mir klingt von dieser Partie noch eine Bemerkung nach, ungefähr so: »Gebt dem Bengel recht viel Kuchen zu fressen, der ist Feines gewöhnt.« – Das stimmte gar nicht einmal. Wir kriegten alltags zum Kaffee keine Butter aufs Brot.
Man hielt uns an, im Haushalt und sonstens mitzuhelfen. Ich durfte sogar manchmal im Atelier meines Vaters mittun. Papa war damals Musterzeichner. Er entwarf Muster zu Tapeten. Und er hatte zwei Gehilfen. Er hätte damals mehr haben können, denn es war seine Glanzzeit. Aber er war nicht der Mann, das pekuniär auszuwerten. Wir hatten damals sogar zwei Dienstmädchen.
Die Gehilfen waren über das Selbstverständliche der Situation hinaus sehr lieb zu mir. Einer ließ mich stets auf seinen Schultern reiten, wenn er vom Atelier über den Hof nach unsrer Wohnung ging. Er erlaubte mir auch, mich vor seiner Staffelei bäuchlings auf einen Drehstuhl zu legen. Ich spielte dann Karussell, indem ich mich so im Kreise drehen ließ.
Sehr geehrt fühlte ich mich, wenn ich die Linien eines auf Pauspapier gezeichneten Musters mit Stecknadeln nachstechen durfte. Zu Küchenarbeiten brachte uns Mutter, indem sie an unseren Ehrgeiz appellierte oder uns als Belohnung Topfschleckereien verhieß. Sie war eine hervorragend gute Köchin, die nicht nur ihre heimatliche, ostpreußische Küche beherrschte. Wir halfen in der Küche begeistert. Wir kauften ein. Wir wiegten Petersilie. Wir wuschen auf, trockneten ab. Wir putzten, schabten, schuppten, schälten, weinten über geriebenen Zwiebeln, schnitten uns in den Daumen und lernten allerhand. Ob wir dabei die Dienstmädchen entlasteten oder ihnen hinderlich waren, weiß ich nicht.
Ich weiß vieles nicht mehr. Es scheint mir ein Gluck zu sein, wenn man vieles vergißt. Denn sonst wurde man vor Erlebtem nichts Neues mehr erleben.
Berta war ein schönes, sehr energisches Mädchen. Ich glaube, ihretwegen gab es zwischen meinen Eltern eine Zeitlang heftige Auseinandersetzungen. Die wurden zwar im Nebenzimmer geführt. Aber wir horten aus dem Unverständlichen doch das Wesentliche heraus und waren über dieses, wenn auch nur kurze Zerwürfnis zwischen Vater und Mutter sehr unglücklich. Ich besinne mich, daß ich dazukam, als meine Mutter sich aus dem Fenster stürzen wollte, und daß ich aufschluchzend ihre Füße umklammerte.
Berta wurde entlassen. Später machte sie sich als Löwenbändigerin einen großen Namen. Der Höhepunkt ihrer Schaunummer war, wenn sie ihren Kopf in den Rachen eines Löwen hielt. Dabei soll sie eines Tages umgekommen sein. Cläre Heliot nannte sie sich als Artistin. Sie oder ein anderes robustes Dienstmädchen war es, der ich einmal, als meine Eltern nicht daheim waren, plötzlich an die Beine griff. Meine Männlichkeit war erwacht und brachte mir sofort eine schallende Ohrfeige ein.
Des Jahres Feste
Aber das ist ja überall nahezu das gleiche. Zum Geburtstag wurde man beschenkt und genoß besondere Nachsicht, besondere Aufmerksamkeiten.
Ostern legte der Osterhase, legten später Eltern, Tanten und Großmama Eier in immer größeren Formaten.
Pfingsten spielte keine sonderliche Rolle, da mein Vater ein Mann in freiem Beruf war.
Der Weihnachtsbescherung gingen besondere intime, überlieferte oder eingeführte Gebrauche, Scherzchen und Sentimentalitäten voraus, und ebensolche familiär geheiligte Brauche folgten. Es liegt mir fern, mich darüber lustig zu machen. Ich will nur hier auf das in allen Variationen so oft geschilderte Thema nicht weiter eingehen. Weihnachten war auch uns Kindern in jedem Jahr das Fest der Seligkeit, der Herzlichkeit, der Anhänglichkeit, des Reichtums, des Glücks.
Und zu Silvester kriegten wir Pfannkuchen, durften Punsch trinken und um Mitternacht leicht angeheitert am offenen Fenster lauschen. Draußen, drunten läuteten die Glocken, rief man »Prost Neujahr«, knallte Feuerwerk. Auch wir durften einmal mutig, als wär's was, aus dem Fenster brüllen: »Prost Neujahr!«
In der Volksschule
Wenn ich träume, dann immer Schlimmes, das heißt Beängstigendes, Quälendes. Trostlos und hilflos erlebe ich in dem Zustand unlogische, peinvolle Situationen. Meistens leide ich darin als Soldat unter Vorgesetzten oder als Schüler unter Lehrern.
Mein erster Schultag – in der Vierten Bürgerschule in Leipzig – war durch eine übliche große Zuckertüte versüßt. Der zählt also nicht mit.
Ich lernte das Abc und »Summ summ summ, Bienchen