Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
Читать онлайн книгу.gebogene Stecknadeln ins Ledersofa einbohrte. Allerdings mehr, um einem zweiten Nachhilfebedürftigen zu imponieren, als um den Lehrer zu schädigen.
Wie abscheulich faßt sich Kreide an! Wie häßlich nimmt sie sich, trocken verwischt, auf einem schwarzen Brett aus. Wie stechend empörend kann ein Schieferstift auf einer Schiefertafel quietschen.
Aber ein Schwamm ist schön. Wenn er naß, richtig naß ist. Und noch schöner ist eine dunkle Schwammdose aus poliertem Holz, zumal sie sich zu hundert nicht aufoktroyierten Spielereien verwenden läßt. Wundersam sind alte, abgenutzte Schulpulte. Ihre Maserung, ihre Tintenflecke und Astlöcher gaben mir die erste, vielleicht einschneidendste Anregung zu meinen Malerei betreffenden Wünschen. Imposant ist ein neuer Schulranzen aus Seehundsfell. Daß die, die sich an ihn gewöhnen und ihn gar tragen müssen, seine Vorzüge allmählich vergessen und ihn gelegentlich ohne Bedenken als Wurfgeschoß benutzen, das bestätigt ein natürliches Gesetz.
Schwer ist das Einleben in Pünktlichkeit. Bedrückend ist jede ungütige, unbegriffene Überlegenheit. Und häßlich, niederträchtig ist ein Rohrstock, wenn er sadistisch einwillig oder kleinhirnig jähzornig als Strafmittel gebraucht wird. Uns schlug man damals in gewissen Fällen mit dem Lineal auf die spitz hinzuhaltenden Fingernägel. Tat schauderhaft weh.
Beneidenswert, nie wiederkommend ist der rechenkunstlose, schnell vergessende, unbesonnen zugreifende, freinaschende Taumel unserer jüngsten Gehzeit und Lernzeit.
Schon in der Bürgerschule wurden wir Kleinen in Klassen-, Rassen- und Massenkämpfe verwickelt. Schulen fochten gegen Schulen. Kinder einer Gegend schlugen sich mit solchen einer andern Gegend.
Einmal raste ich, von einer Überzahl roher, steinewerfender Feinde verfolgt, atemlos durch die Waldstraße. Ich prallte dabei gegen einen Erwachsenen, der dort mit einem anderen Herrn im Gespräch stand, mich nun erschreckt auffing und gleich erkannte. Es war ein Lehrer, nicht meiner, aber an meiner Schule. Außerdem schriftstellerte er, wie ich von meinem Vater mit Interesse vernommen hatte. Als ich befragt von meiner Flucht und meinen Verfolgern erzählte, streichelte er mich und sagte etwas zu seinem Bekannten, worin die Worte vorkamen »Da läuft solch Kind wie ein gehetztes Reh«.
Gymnasium
Ich kam auf das Königliche Staatsgymnasium, wo mein Bruder bereits eine höhere Klasse besuchte. Nicht lange hielt die Freude über eine grüne Mütze mit silberner Litze an. Das große, ernste Schulgebäude und der finstere Rektor im zerknitterten Frack flößten mir gleicherweise Schrecken ein. Nun brach das grausige Latein über mich herein; und andere Fächer, vorgetragen, eingepaukt und abgefragt von respektfordernden Dunkelmenschen, vor denen mein Herz sich von Anfang an verschloß. Der einzige interessante Mann schien mir der Turnlehrer Dr. Gasch. Weil er eine Nase aus Hühnerfleisch hatte, von einem Duell her.
Unter den Mitschülern lernte ich gute und lustige Kameraden kennen, mit denen ich Fußball spielte, Tauschgeschäfte betrieb oder gegen die Zöglinge des Thomasgymnasiums zu Felde zog.
Damals trug ich lange blonde Locken. Da ich mit einem dunklen Sammetanzug und weißem Spitzenkragen bekleidet war, sah ich wohl recht nett aus. Aber wegen der langen Haare wurde ich oft gehänselt. Man zog mich im Scherz und im Ernst daran. Schließlich legten die Lehrer meinen Eltern nahe, mir diese auffallende und unmännliche Schönheit kürzen zu lassen, was denn auch zu meiner Befriedigung geschah.
Ach, das Lernen fiel so schwer. Draußen gab es Schlittschuhbahnen und im Sommer eine moderne, freie Schwimmanstalt. Dort konnte man von hohen und höheren Sprungbrettern, sogar von einer Schaukel abspringen. Oder man ließ sich auf dem heißen Asphalt von der Sonne bräunen. Wenn man dazu sich ein Blatt auf die Brust legte und es stundenlang in Geduld ertrug, dann hatte man hinterher auf der dunklen Haut ein helles Muster. Herr Wallwitz, mein Schwimmlehrer, packte mich rauh und norddeutsch an. Er stieß mich, wenn ich nicht springen wollte, ohne weiteres ins Wasser. Und ließ mein Mut nach, so gab er die Leine locker, daß ich tüchtig Wasser schluckte und spuckte und verwirrte mich nachher noch durch seinen kühlen, treffsicheren Spott.
Dem Restaurateur der Schwimmanstalt durfte ich an Hochbetriebstagen beim Verkaufen von Würstchen helfen. Dabei entwendete ich einmal Kleingeld aus der Kasse. Das wurde nie entdeckt und betraf auch nur eine Wenigkeit. Aber mein Gewissen blieb lange davon bedrückt.
Ich schaute einer Feuersbrunst zu. Mehrere Lagerschuppen brannten lichterloh. Ursache war: Das Stroh von Eierkisten hatte sich entzündet.
Die Menschenmenge, in der ich stand, war nur durch ein schmales Flüßchen von dem Brandherd getrennt. Wir sahen, wie drüben Arbeiter die Gelegenheit benutzten, um sich Eier beiseite zu schaffen. Als ihnen das nicht mehr möglich war, fingen sie an, die rohen Eier über das Flüßchen auf uns Neugierige zu werfen. Jeder Treffer gab selbstverständlich großes Hallo. Aber wir blieben alle tapfer stehen. Wen's trifft, den trifft's. Es war wie in einer Schlacht.
Ich schrieb eine kleine Humoreske in sächsischem Dialekt, »Änne Heringsgeschichte«. Vermutlich überfeilte mein Vater die Sache noch etwas. Die »Fliegenden Blätter« oder die »Meggendorfer Blätter« druckten das Dichtwerk und zahlten zwanzig Mark dafür.
Das war meine erste Publikation und war mein erstes Honorar.
Die Stunden im Gymnasium vergingen so unsagbar freudlos, langsam. Trotzdem ich eine Fülle von Unter-der-Bank-Spielen ersann und hinter dem Rucken des Vordermanns stets eine Sonderbeschäftigung oder Privatlektüre hatte. Mein liebstes Buch war »Der Waldläufer«.
Ich stibitzte meinem Nachbarn das Frühstücksbrot, eine Klappstulle. Zwischen die beiden Brothälften legte ich Papier, das ich dann, so weit es überragte, abschnitt. Worauf ich das Brot zurücklegte, um mich in der Pause zu amüsieren, wenn jener Junge sich während des Kauens Papierstücke aus dem Munde zog.
Keines der Lehrfächer regte mich an. Ich war in allen schlecht. Sogar im deutschen Aufsatz, für den ich durch meinen schriftstellernden Vater mehr mitbekommen hatte als die andern Knaben. Im Zeichnen versagte ich völlig. Ich brachte es nicht fertig, ein einigermaßen sauberes Quadrat zu zeichnen. Fortan durfte ich die allgemeinen Zeichenübungen nicht mehr mitmachen, sondern mußte mich wahrend des Unterrichts unbeteiligt auf eine Sonderbank setzen, wo es mir überlassen blieb, einen häßlichen Gipsdackel abzuzeichnen. Hundertmal habe ich ihn gezeichnet. Er wurde immer unkenntlicher.
Auch der Gesangslehrer wußte nichts mit mir anzufangen. Denn ich hatte mir an dem Tage des Tauchaschen Jahrmarktes als halbnackter Gassensioux den Kehlkopf ein für allemal kaputt geschrien. – Es kam vor, daß Schüler aus den elterlichen Garten Strauße mitbrachten und einem Lehrer überreichten. Um meinen Musikdirektor zu versöhnen, brachte ich auch ihm einmal ein Bukett mit, das ich unterwegs eilig in den städtischen Anlagen gepflückt hatte. Da es aber nach der weit herbstlichen Jahreszeit nur aus blütenlosen Strauchzweigen und kahlen Kräutern bestand, warf es der Lehrer aus dem Fenster, verprügelte mich noch einmal, und von da an war ich vom Gesangunterricht dispensiert, bekam allerdings durch ein Versehen in den Jahreszeugnissen immer eine 1 in diesem Fach.
Auf dem Fleischerplatz standen zur Zeit der Messe aufregende Schaubuden. Hinter einem Gitter sah man einen Gefangenen in Ketten, der unermüdlich eine Tretmühle bewegte. Unter einem zähnefletschenden Baren hob und senkte sich der zerfleischte Busen einer Frau. Eine Portion Eis mit Pappteller und Blechlöffel kostete fünf Pfennige. Türkischer Honig war noch preiswerter. Auf dem Karussell galt es, im Vorbeifahren nach einem vorgehaltenen Ring zu haschen, der eine Freifahrt garantierte.
In der Schule war's trostlos. Schönschrift und Orthographie brachten mich zur Verzweiflung. Kein Lehrer mochte mich leiden. Meine Hefte waren schmierig. Glaubte ich mich unbeobachtet, so trieb ich Allotria. In den Pausen war ich nicht zu bändigen. Ich wurde verpetzt oder erwischt und immer wieder bestraft. Strafarbeiten, Nachsitzen, Arrest, schließlich Karzer. – Immer neue Lügen erfand ich, um den Eltern das zu verbergen und mein verspätetes Heimkommen zu rechtfertigen. Aber direkte Briefe oder persönliche Rücksprachen brachten alles an den Tag, und die halbjährlichen Zensuren klagten