KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe
Читать онлайн книгу.und deshalb umso machtvolleren Handlung beteiligt, so wie Tausende oder Millionen andere Menschen vor ihren Fernsehwänden auch. Als manifestiere sich in der monotonen Bewegung ihrer aller Wille, rein, zweckfrei und unschuldig. Als könnten sie etwas bewirken, wenn sie denn nur wollten.
Jetzt schien es so, als habe ein versteckter Elektromotor das Wunder widerlegt. Einerseits war das nur logisch und vernünftig. Ein Mensch, und sei er auch ein Mönch, konnte nicht fünfzehn Tage lang pausenlos im Kreis gehen, ohne Wasser oder Essen zu sich zu nehmen. Das war unmöglich, es konnte nicht sein. Dennoch hatte er es geglaubt. Und dem staatlichen Fernsehen traute er jede erdenkliche Täuschung zu. Es war nicht ausgeschlossen, dass die Enttarnung des versteckten Drehapparats nichts weiter als ein staatliches Manöver war, das die Menschen entmutigen sollte.
Er wusste nicht, was er denken sollte. Fest stand nur, dass etwas geendet hatte. Und auch sein eigenes kleines Leben war an einem Endpunkt angelangt. Etwas Neues würde beginnen, auf das er keinen Einfluss mehr hatte. Und er wünschte sich, er bräuchte es nicht zu erleben.
Onkel Wu weinte.
Ein paar Straßen weiter, in einem fensterlosen Raum, der zwar größer als eine Gefängniszelle war, aber nicht minder beengt, betrachtete Kung Litse, die splitternackt vor ihm stand. Im trüben Licht der Monitore und der Sofaleuchte war sie von einer jungen Frau Anfang zwanzig nicht zu unterscheiden. Jedes Detail – das seidige Haar, die gepflegten Fingernägel, die Brustwarzen, das zu einem schmalen Streifen getrimmte schwarze Schamhaar, die Zehen – wirkte echt. Xialong hatte im engen Rahmen der Möglichkeiten ein paar Anpassungen vorgenommen. Die Lippen waren nicht mehr so wulstig, und von den drei Brustgrößen hatte sie die kleinste ausgewählt. Litse sah jetzt normaler aus, wirkte aber nach wie vor attraktiv – für Xialongs Geschmack sogar attraktiver als zuvor. Sie hätte sie gern betastet und herausgefunden, wo die Grenzen der Imitation lagen, doch in Kungs Anwesenheit traute sie sich nicht. Sie wollte keinen falschen Eindruck bei ihm erwecken. In diesem Moment wirkte er jungenhaft, verlegen und verletzlich. Hatte er überhaupt schon mal eine nackte Frau gesehen?
»Hast du eine Freundin, Kung?«, fragte Xialong plötzlich.
»Was? Ja … ab und zu. Ja.« Sein Blick wanderte zu dem HeadGear, das auf dem Tisch lag.
»Verzeihung«, sagte Xialong. »Das geht mich nichts an. Können wir anfangen?«
»Kannst du ihr sagen, dass sie sich auf den Bauch legen soll?«
»Du kannst selbst mit ihr reden«, sagte Xialong. »Sie versteht dich, und sie wird tun, was du sagst, glaub mir. Probier’s einfach aus.«
»Leg dich bitte aufs Sofa«, sagte Kung. »Auf den Bauch.«
Litse gehorchte. Ihre Bewegungen wirkten durch und durch natürlich; nicht unterwürfig, sondern selbstbewusst, beinahe ein wenig herablassend, bemerkte Xialong nicht ohne professionellen Stolz. Kein Wunder, dass ein unerfahrener junger Mann sie einschüchternd fand.
»Regenpfeifer«, sagte sie. »Wartungsmodus.«
Litse versteifte sich. Zwischen ihren Schulterblättern zeichnete sich ein hautfarbenes Rechteck ab, mit einem runden, leicht erhöhten Kreis am oberen Rand. Xialong drückte darauf, dann sprang eine Klappe auf. Darunter kamen bunt markierte Ventile, Tastschalter und eine USB-Schnittstelle zum Vorschein. Die Wartungsöffnung am Rücken (es gab noch eine weitere, größere, am Bauch) erweckte den Eindruck von Einfachheit, doch Xialong wusste, dass dies der Komplexität des Bots nicht gerecht wurde. Kung steckte ein langes Kabel ein, dann nahm er auf seinem Cockpitsessel Platz und rief ein Programm auf.
»Wow.«
Die Tuningsoftware von Jiqiren verfügte über eine neuartige WYSIWYG-Oberfläche. Litses Code wurde als Schichtgrafik angezeigt, die Ähnlichkeit mit einer exotischen Geburtstagstorte hatte. Die einzelnen Schichten – insgesamt waren es neun – waren unterschiedlich gefärbt, grün, blau, ocker, rot, und durch ein Gespinst goldener Fäden miteinander verbunden. Fuhr man mit der Maus darüber, nahm der Zeiger die Farbe der jeweiligen Schicht an, die sogleich vergrößert wurde und sich in eine Landschaft mit Mulden, Schluchten, Hügeln und Gebirgen verwandelte. In einem Fenster wurden Funktionen, Schnittstellen und Verlinkungen angezeigt. Die Visualisierung war die zweidimensionale Wiedergabe einer dreidimensionalen VR-Umgebung. Kung setzte das HeadGear auf und klappte das Visier herunter.
Nachdem er sich mit der Steuerung vertraut gemacht hatte, flog er die Schichten ab, bis er in der dunkelroten auf einen schwarzen, passwortgeschützten Bereich stieß. Das war das BIOS, in dem die Gesetze implementiert waren, die verhindern sollten, dass der Bot einem Menschen in irgendeiner Form Schaden zufügte. Natürlich war das Internet voll von raffiniert ausgeklügelten Szenarien, in denen gerade die Abwägungen regelgebundener Bots bestenfalls kurzschlussähnliche Patts und schlimmstenfalls einen schwerwiegenden Schaden herbeiführten, den sie von einer übergeordneten Warte aus betrachtet hätten vermeiden sollen und vermeiden können. In der Praxis allerdings hatten sie sich bewährt, und deshalb waren sie gegen Manipulationen besonders gut geschützt.
Kung öffnete in einem Fenster eine anonymisierte Datenverbindung zu einem Server in Singapur und lud den ShredMaster, ein geniales Werkzeug des legendären Muncher-Puncher, der schon vor Jahren einem Drohnenangriff erlegen war, dessen Werk aber von einem anonymen Nachfolger kongenial fortgeführt wurde.
In dieser Umgebung glich der ShredMaster einem grellbunten, mit schwarz-rot quer gestreiften Stacheln bewehrten Bakterium. Eine Weile drehte sich das Gebilde im virtuellen Raum, dann bildete es einen türkisfarbenen glänzenden Tentakel aus, der wie eine Windhose umherschwankte. Kung dockte die Fingerspitze an und führte den Schlauch zum BIOS-Bereich. Ein WYSIWYG-Eingriff glich einer computergestützten Gehirnoperation. Es kam darauf an, mit minimalem Aufwand den maximalen Nutzen zu erzielen. Der kleinste Fehler konnte verheerende Auswirkungen haben und im schlimmsten Fall zum Totalausfall des Systems führen.
Mit dem linken Zeigefinger tastete Kung das BIOS ab. Infofenster und fraktale Detailansichten ploppten auf. Die Versuchung, sich in eine dieser Ansichten hineinzustürzen und zur Ebene des nackten Codes vorzudringen, war beinahe übermächtig, doch Kung widerstand. Das war nicht der Moment für Abenteuer und Spielereien. Er tastete weiter, und als er fündig geworden war, führte er mit der rechten Zeigefingerspitze den Tentakel zu der Stelle und löste mit dem Daumen den Shreddermechanismus aus, der als grellweißer Laserstrahl visualisiert wurde. Die Lichtnadel drang in die schwarze Oberfläche ein, die auf einmal weich und verletzlich wirkte. Einen Moment lang sah es so aus, als könnte sie die zugeführte Energie folgenlos absorbieren. Dann begann der schwarze Bereich zu pulsieren, färbte sie sich an der Eintrittsstelle rötlich grau, schwoll an und platzte auf. Wie bei den Feuerwerksvulkanen, die man zu Neujahr auf die Straße stellt, schoss ein Strom silbriger Partikel aus dem Riss, fächerte sich auf, verblasste und verschwand.
Kung suchte weiter nach Rudimenten, identifizierte ein paar Subzentren samt Verbindungsbahnen, und neutralisierte sie mit chirurgischer Präzision. Als er den Eindruck hatte, dass bei weiteren Eingriffen das Risiko den zu erwartenden Nutzen übersteigen würde, schloss er den ShredMaster.
In diesem Moment tauchte rechts oben in seinem Blickfeld ein weißer Kubus auf. Er pulsierte schwach, und jedes Mal, wenn er sich ausdehnte, als ob er atmete, leuchtete er auf. Natürlich, das Versenkungssymbol der Drei Wahrheiten. Er hatte eine Weile nicht mehr daran gedacht, doch jetzt, in diesem Moment, empfand er Sehnsucht nach dem stillen Raum und nach Mei, seiner Vertrauten.
Widerwillig nahm er das HeadGear ab, loggte sich auf dem Rechner im Entwicklungszentrum von Jiqiren aus, wischte sich den Schweiß von der Stirn und drehte sich auf dem Stuhl herum.
Xialong saß angespannt auf dem Stuhl, offenbar hatte sie ihn die ganze Zeit beobachtet. »Bist du fertig?«, fragte sie.
Er nickte.
»Dann kann ich sie wieder einschalten?«
»Ja, schon … aber es könnte sein, dass sie ein unerwartetes Verhalten zeigt.«
»Zum Beispiel?«
»Na ja, ich weiß nicht. So wie jemand nach einer Gehirn-OP. Manchen Leuten