Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke
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ÜBER DAS BUCH
London, 1678. Die Royal Society bestellt Professor Chrysander zum Kurator ihrer Sammlungen, und der schwedische Naturforscher kehrt die verlotterte Wunderkammer mit eisernem Besen aus. Für den exzentrischen Lord Fearnall hingegen ist das Leben ein Maskenstück. Als er Chrysander begegnet, prallen zwei Welten aufeinander. Ein Spiel von Verführung und Gegenwehr beginnt …
Der schwedische Professor Simon Chrysander ist berühmt für seine Fähigkeit, Dinge zu ordnen und zu bestimmen. Davon hat auch die englische Royal Society Wind bekommen. Im Jahr 1678 bestellt sie den Skandinavier nach London, um ihre naturkundliche Sammlung zu sortieren. Chrysander folgt dem Ruf. Doch je mehr Struktur er in das obskure Durcheinander aus konservierten Kuriositäten bringt, desto mehr stürzt sein eigenes Dasein ins Chaos. Dafür sorgt eine Begegnung mit dem jungen Lord Fearnall, der haltlos durch die Paläste und Lasterhöhlen des barocken Londons treibt und dessen irrlichternde Persönlichkeit sich allen Ordnungsrastern entzieht. Als Chrysander erkennt, dass Fearnalls Unberechenbarkeit seine Existenz gefährdet, ist es zu spät. Längst hat sich der junge Lord in den Kopf gesetzt, von dem kauzigen Professor «bestimmt» zu werden. Ein Kräftemessen zwischen Abwehr und Zuneigung, Ratio und Ungewissheit, Leben und Tod beginnt.
Die Kunst der Bestimmung ist nicht nur ein erzählerisches Meisterstück, randvoll mit skurrilen Charakteren, historischen Anekdoten und brillierendem Sprachwitz – der Roman ist auch mehr denn je auf der Höhe der Zeit. Von der Leichtigkeit, mit der er Gender-Normen hintertreibt, Queerness im Subtext miterzählt und Beziehungskonventionen auf den Kopf stellt, können heutige Diversity-Experten viel lernen.
ÜBER DIE AUTORIN
Christine Wunnicke, geboren 1966, lebt in München und schreibt über ungewöhnliche Menschen. Ihre Romane Der Fuchs und Dr. Shimamura (2015), Katie (2017) und Die Dame mit der bemalten Hand (2020) wurden für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2020 erhielt sie den Literaturpreis der Landeshauptstadt München und den Wilhelm Raabe-Literaturpreis. Bei Albino erschien zuletzt ihre Erzählung Missouri.
Christine Wunnicke
DIE KUNST DER BESTIMMUNG
Roman
1. Auflage
© 2021 Albino Verlag
Salzgeber Buchverlage GmbH
Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin
Die Kunst der Bestimmung erschien zuerst
im Jahr 2003 im Kindler Verlag.
Umschlaggestaltung: Johann Peter Werth
Umschlagabbildung: Jacques Barraband
Printed in the Czech Republic
ISBN 978-3-86300-309-8
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PROLOG
IM JAHR 1679, zwei Tage vor Martini, erreichte ein später Reisender den Marktflecken Kalix bei Torneå. Er blieb nur eine Nacht. Dennoch hinterließ er einen bleibenden, nicht sonderlich günstigen Eindruck.
Es hatte viel geschneit. Das Land war kaum wegbar. Der Reisende kam zweispännig, allein und von Norden, wo man kein Schwedisch sprach und das Vaterunser nicht betete. Er war bärtig, in mittleren Jahren, die Lippen weiß vom Frost. Die Schlittenfelle hatte er nach Art der Lappen fest um den Leib gebunden, damit sie sich im Fahrtwind nicht bauschten. Hinten im Schlitten lag ein Ding, in Stroh und Decken gepackt, ein Schrank vielleicht oder eine große Kiste. Die Leute hatten Licht geholt. Selten kamen Fremde nach Kalix, man wollte den Mann nicht unbeleuchtet passieren lassen. Die Zügel hatten seine Handschuhe aufgescheuert und die Handflächen. «Nichts weiter», sagte er, als er vor der Kirche vom Kutschbock stieg, «nur tut mir die Gnade, ihr guten Leute, und erlöst die Rentiere von ihrem Leiden, denn sie werden nicht weiter laufen können.»
«Ja so», meinte der Schlachter. Er schirrte schweigend aus. Der Reisende bat um ein neues Gespann für die Weiterfahrt, um ein Nachtquartier und einen Stellplatz für seinen Schlitten. Er sprach besonnen und im Tonfall des Südens. Er hatte Gold. Das war in Kalix ein seltener Anblick. Gefragt nach Herkunft und Namen, stellte er sich vor als Simon Chrysander, Professor Upsaliensis. Keinem hier war ein solcher Titel geläufig. Er nannte die Leute noch einmal «ihr Guten», das kam ihnen in gewisser Weise verdächtig vor. Kalix ist nicht der Ort für Vertraulichkeiten und die Zeit um Martini keine gute Zeit. Die Leute schwiegen. Der Schlachter tat seine Pflicht mit den Rentieren, hinten im Hof der Schlachterei. Dann zeigte jemand auf das Ding im Schlitten und murmelte: «Zoll».
Kalix hatte kein Zollrecht. Der Mann aus Uppsala wusste nichts vom Zollrecht im Norden. Er bot Gold an, man wollte kein Gold, was soll man mit Gold in Kalix? Zoll sind Waren und Waren sind gut im Winter. Man holte mehr Licht. «Um der Liebe des Herrn willen ...», begann Chrysander, als man unter Stroh und Decken nach seiner Fracht tastete, doch keiner beachtete ihn. Das Ding war schwer. Man stellte ein Brett schräg und zog es mit zwei Stricken vom Schlitten. Vier Männer richteten es auf und lehnten es gegen den Kutschbock. Die Decken glitten zu Boden.
Das Ding war ein Eisblock, klar gefroren ohne Riss oder Blasen. Er stand übermannshoch. Oben lief er spitz zu und hinten, wo er am Schlitten lehnte, war er gerundet wie ein gläsernes Boot. Darin eingeschlossen, gleichsam schwebend, den Kopf geneigt, das linke Bein leicht angewinkelt wie in einem zaghaften Sprung, war ein Mensch. Er schien unverletzt und ohne Spuren von Verwesung, ein junger Mann, ins Eis geraten, bevor die Zeit ihr Werk an ihm tun konnte. Er trug dunkle Hosen, weder Strümpfe noch Schuhe, ein weißes Hemd, die Bänder an Kragen und Manschetten erstarrt zu verflochtenen Schnörkeln. Einige Strähnen seines langen hellen Haares umschlangen den Hals, der Rest floss in einer wirren Spirale über Augen und Stirn. Seine Lippen waren leicht geöffnet. Die Fingerspitzen berührten sich vor der Brust. Im Eis brach sich das Licht der Fackeln. «Nun denn», sagte Simon Chrysander, «ich hatte euch gebeten, den Zoll in bar zu nehmen.»
Hierauf wussten die Leute von Kalix nicht recht viel zu erwidern.
Man holte den Pfarrer aus dem Pfarrhaus, damit jemand zu dem Fremden sprach. Der Pfarrer betrachtete den toten Jüngling im Eis und befahl, ihn wieder hinzulegen; in dieser Stellung, aufrecht wie eine Statue, hatte das Bild etwas Unverschämtes. Niemand wollte das Eis berühren. Der Besitzer der unverzollbaren Fracht entschuldigte sich, allein könne er den Block nicht bewegen. Er versicherte dem Pfarrer, nichts Unrechtes sei geschehen. Er fügte hinzu, der Transport der Leiche habe diplomatische Gründe. Als Mitglied des englischen Oberhauses unterstehe der Tote nicht der schwedischen Krone und müsse die Bürger von Kalix folglich nicht kümmern. Auch der Pfarrer wusste nicht viel zu erwidern. Er begriff jedoch den Nutzen von Gold. Am Morgen würde der Mann aus Uppsala ein neues Gespann bekommen und Helfer zum Beladen; dafür wollte der Pfarrer Sorge tragen. Er befahl den Leuten, zu Bett zu gehen, und verschwand im Pfarrhaus.
Simon Chrysander bekam kein Quartier in Kalix. Man ließ ihm zwei Fackeln und zog sich zurück. Die Nacht dauerte noch viele Stunden. Chrysander ging auf und ab, die Arme hinterm Rücken. Die erste Fackel erlosch. Im Schein der zweiten betrachtete er noch eine Weile den Toten. Er hatte ihn liegen sehen im Eis, doch aufgerichtet, wie er halb sprang und halb schwebte und den Kopf neigte in einem vielleicht scheuen, vielleicht auch trotzigen Gruß, kannte er ihn erst seit dieser Nacht. Er versuchte, dem Toten in die Augen zu blicken, doch auch hochkant war dies nicht möglich, das Haar verhüllte sein halbes Gesicht. Er betrachtete ihn lange. Ein dreistes Schaustück in einer vergänglichen Vitrine. Chrysander zog seine durchgeriebenen Handschuhe aus und legte die Handflächen aufs