Die Kunst der Bestimmung. Christine Wunnicke

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Die Kunst der Bestimmung - Christine Wunnicke


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den nunmehr fünf Jahren, da es seinem Herrn für jeden wissenschaftlichen Vergleich als Bezugspunkt diente, hatte es sich nicht einen einzigen Zoll vorgewagt auf den noch unbewachsenen Grund.

      Kauppi verwahrte den Schlüssel zum Arbeitszimmer. Kauppi bewachte das Moos. Auch Kauppi war genügsam. Wenn er Möbel rückte, bis alles die rechte Ordnung hatte, so konnte sein Herr diesen Wunsch gut verstehen.

      Simon Chrysander war der Sohn des Pfarrers von Söderfors in Dalarna, das älteste Kind von sechs lebenden und sechs toten Geschwistern. Er hatte selbst Pfarrer werden sollen in Söderfors. Stattdessen wurde er Professor in Uppsala und ging nicht mehr zur Kirche. Wieder blickte er aus dem Fenster. Nie klarte es auf. Jedes Metall lief an in dem rötlichen Dunst, Kofferschließen, Knöpfe, Sezierbesteck, alles sah aus wie Bronze. Dicht lag der Nebel über der Broad Street, über Männern, Frauen, Kindern, Kutschen, Hunden, Bettlern und allerlei Unrat in den Gossen, über einem entlaufenen Pferd, das in einen Laden drängte, über einem Greis, der gestürzt war und nicht mehr aufstand, über einer Sänfte ohne Träger, schräg in den Schlamm gerammt, als solle sie dort Wurzeln schlagen. Es wurde schon dunkel. Es war nie hell gewesen. Chrysander graute es vor dem Gresham College und ihn graute auch sonst. Die Welt war groß. Der Arten waren viele. Kaum reichte eine Lebenszeit hin, dies alles recht zu sortieren. Schon dreimal hatte Chrysander heute das Moos aufgedeckt, um sich an seiner Verlässlichkeit zu freuen. Er spürte Kauppis Hand an seinem Rockschoß. Kauppi roch, wenn die Furcht zum Professor kam. Chrysander scheuchte ihn fort. Er schloss die Fensterläden und griff nach Ogilbys Stadtplan von London.

      Als er das Haus verließ, war Nacht. Er hatte Kauppi zu Bett geschickt und die Tür von außen verriegelt, denn er wollte nicht, dass Kauppi nach ihm suchen kam, wie er es in Uppsala manchmal tat. Nicht immer hielten Riegel den Lappen zurück; aber Chrysander wollte ihm doch wenigstens den Ausbruch erschweren.

      Er ging zu Fuß, die Kapuze über den Hut und das halbe Gesicht gezogen, den Degen griffbereit und einen Dolch im Ärmel. Er bezahlte einen Jungen, der ihm leuchtete, vorbei am Church Market und bis Walbrook. Dort kaufte ihm Chrysander das Licht ab und setzte seinen Weg alleine fort.

      Er wusste, was er brauchte, aber er wusste nicht, wo es war. Ogilbys Tafeln hatten ihm wenig Aufschluss gegeben über Londons verworrene Anatomie. Zunächst ging er viel zu nah ans Wasser. Er geriet in die Docks von Dowgate und musste umkehren. Er stolperte über einen Betrunkenen oder Toten, bog ein in die Thames Street und folgte ihr hartnäckig nach Westen. Ein verirrtes Schwein stieß ihn bittend mit der Schnauze an. Chrysander unternahm diese Wanderung nicht gern, aber es war an der Zeit und es half nichts, sich zu sträuben. Chrysander war kein Moos. Er bedauerte dies täglich, doch ändern konnte er es nicht.

      Er nahm Witterung auf von der Stadt. Es war nicht einfach. London hatte sein Aroma verloren in den Flammen von ’66 und die neuen Häuser wiesen ihm nicht den Weg. Sie waren schnell gebaut und oft schon rissig. Chrysander passierte Kirchhöfe ohne Kirchen, öde Flecken voller Unrat und Morast. Hier und da standen noch Brandruinen, in denen man Waren feilbot oder fertigte, in denen man schlief, wenn man kein Obdach hatte, in denen man gewiss auch mordete, wenn man ein Mörder war und ein Opfer fand in der Nacht. Chrysander tastete nach seinem Dolch. Er ging zügig voran, Blackfriars vor sich, dahinter Alsatia, dahinter der linke Rand von John Ogilbys ungenügendem Stadtplan.

      Schließlich wurde er fündig, oder man fand ihn, noch bevor er das kartographierte Gebiet verließ. Ein Jüngling, der an einer Hauswand lehnte, abgerissen, aber im Putz. «Huren, Sir?» Chrysander nickte.

      Er folgte dem Schlepper in eine Seitengasse, in einen Durchgang, in einen dunklen Hof. Man hielt dort Kaninchen und Geflügel. Die Ställe stanken. Die Hühner glucksten und scharrten leise im Schlaf. In der Haustür hingen gefilzte Vorhänge, der Zubringer schob Chrysander hindurch, dann machte er kehrt und bezog wieder Posten auf der Straße. Chrysander schlug die Kapuze zurück. Die Wirtin des Lokals nahm den neuen Gast in Empfang. Sie knickste, ließ ihn ein, ließ ihn stehen. Chrysander kannte hier nicht die Gepflogenheiten. Er blieb allein in einem düsteren Gang, Steinboden, an der Wand zwei Stühle, über der Tür eine Feuerglocke, daneben ein Gemälde von Susanna im Bade. Zaghaft folgte er dem Licht und fand den Salon.

      Es war ein bescheidenes Unternehmen, sparsam mit Mobiliar und Mädchen. Chrysander verharrte schweigend in der Tür. Auf einem Sofa saß eine Frau und stickte. Ein Alter befühlte vergnügt zwei kleine Mädchen, eines auf jedem Knie. Chrysander atmete auf. Dies waren Huren, die schlichteste Spezies in der Klasse der Res Humanae, hilfreich gegen das Grauen und einfach zu fassen in einer Formel aus Körper und Geld.

      Ein weiteres Mädchen, schon besser gerundet, plauderte an einem Tisch mit drei jungen Herren in vollem Staat. Sie blickten auf, als Chrysander eintrat, grinsten, grüßten nicht, sprachen weiter. Sie sprachen vom Theater. Eben kamen sie aus der Vorstellung. Kleopatra hatten sie gesehen, davor einen Prolog, Scherze, wie dumm der König sei. Der König war in seiner Loge gewesen. Der König hatte gelacht. Darüber lachte nun die Hure, artig und etwas matt. Die drei Männer lasen ihr den Prolog vor, den sie gedruckt besaßen, mit einer Rollenverteilung, die keinen Sinn ergab. Huren, Theater, das Gerede vom König, draußen die Hühnerställe und hier die Männer im Galakleid, saphirblau, lavendel, maron, Brokat über Brokat über Satin über ellenweise Brüsseler Spitzen, die längst nicht mehr weiß waren nach einem nebeligen Tag: Auch dies ergab wenig Sinn für Chrysander. Die Ratio für Hurenhaus, so trostreich in Uppsala, hatte hier nicht die beste Kontur. Chrysander wollte kehrtmachen. Doch ein Mädchen wollte er auch. Dem Ding war Genüge zu tun. Andernfalls schrie es Alarm. Wenn das Ding pochte, konnte Chrysander nicht denken, und er musste denken, tagaus, tagein, denn das war sein Beruf. Er wich einen Schritt zurück. Er tat einen Schritt nach vorne. Die jungen Herren blickten auf.

      «Gott zum Gruße, Hochwürden», rief der Saphirblaue.

      «Beau jeu, Sir», kicherte der in Maron.

      «Er soll Maudlin haben», bestimmte der Lavendelfarbene. «Maudlin wird Hochwürden gefallen.»

      Die Hure am Tisch lachte. Die Hure auf dem Sofa schlug ein Kreuz und lachte dann auch. Der Alte mit den Kindern hob an zu einer Frage, besann sich aber und schwieg.

      «Ich wähle selbst, Sir», sagte Chrysander, «und ich habe kein geistliches Amt.»

      Die Herren ließen sich nicht beirren. Sie riefen «Mutter Bushell», das war die Wirtin, sie erschien, bekam ein Trinkgeld und nickte. Ob Maudlin umgekleidet sei? Jawohl. Ob Maudlin bereit sei? Zu Diensten in ihrer Kammer.

      Chrysander wollte Maudlin nicht. Er mochte keine Huren mit Namen. Daheim in Uppsala, bei den Mädchen von Svartbäcken, war es Brauch, dass der Kunde sie taufte. Hesperis, Clematis, Nymphäa – viele gaben ihnen die Namen, die im nahe gelegenen Botanischen Garten auf den Schildern standen. Chrysander tat das nie. Er mochte keine Huren mit Namen. Gespräche mit anderen Kunden mochte er indes noch weniger. Er wollte die Ware, ihren Preis entrichten, und fort.

      «Wo ist das Mädchen», fragte Chrysander, «und wie und bei wem wird bezahlt?»

      Die Wirtin bestand auf Vorkasse. Sie bat Chrysander, Umhang und Degen abzulegen, dann schickte sie ihn die Treppe hinauf, erster Stock, erste Tür rechts. «A votre plaisir», rief der Herr in Lavendel und lachte. Chrysander verließ den Salon.

      Er fand die Tür und klopfte. Niemand gab Antwort. Er wartete. Dann trat er ein. Eine Kammer, karg möbliert, ein Schrank, ein Stuhl, ein Bett. Die Wand zur Rechten war aus Brettern genagelt und reichte nicht ganz bis zur Decke. Sie trennte den Raum vom nächsten Verschlag, die zweckdienliche Bauart eines Stalles. Vor dem Fenster hing eine grüne Gardine, über dem Bett ein Stich aus dem Aretin, zwei nackte Leiber, vielleicht auch drei, kunstvoll ineinander verschlungen. Neben dem Schrank stand ein Mädchen vor einem kleinen Spiegel. Als Chrysander eintrat, wandte sie sich um, stutzte, dann lächelte sie.

      Sie war schmal und hoch gewachsen, um einiges größer als ihr Gast. Rotes Haar, unberührt von der Brennschere, fiel über ihre Schultern und fast bis hinab auf die Taille. Rotblond waren auch Brauen und Wimpern. Den Kohlestift kannte sie nicht. Nur die Lippen waren geschminkt, ungeschickt hingepinseltes Rouge, ein greller Fleck in ihrem blassen Gesicht. Sie war übersät mit Sommersprossen, helle Tupfen auf noch hellerer Haut, im Gesicht, auf Händen und Armen, im


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