John Lennon. Nicola Bardola

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John Lennon - Nicola Bardola


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mit Filzstift einkreist und mit einem Pfeil nach oben hin zur Nr.1 versieht? Was treibt ihn an die Spitze? Meist steht er doch schon ganz oben und kann nur sich selbst von dort vertreiben. Seine Reden an die Außendienstmitarbeiter von EMI bei Veröffentlichungen neuer Platten sind Legende. Darin beweist er enorme Fähigkeiten als Motivator und schließt gerne die Lobpreisung seiner Songs mit den Worten: »Wenn ihr sie mögt, verkauft sie. Wenn ihr sie nicht mögt, verkauft sie trotzdem.«

      Als eine seiner Antriebskräfte lässt sich Tante Mimi ausmachen. Cynthia Lennon analysiert die Situation so: »Mimi erwartete anscheinend, dass sich in Johns Leben alles nur um sie drehte, und wehe, wenn ihr da jemand dazwischenkam. Mir gegenüber beklagte sie sich oft, dass er es ihr nicht recht machen konnte – selbst Jahre später, als er längst weltberühmt war und reich, buhlte er immer noch um ihre Anerkennung, erntete aber oft nur Hohn und Spott. Mimi überlebte John um elf Jahre, und nach seinem Tod stilisierte sie sich gern als zwar strenge, aber doch liebevolle Tante, die ihm die Sicherheit gegeben habe, auf der sein Erfolg letztlich beruhte. Aber das war nicht die Mimi, die ich kannte: Ich kannte sie als eine Frau, die Johns Selbstvertrauen ständig aufs Neue erschütterte und ihn oftmals wütend und verletzt zurückgelassen hat. Meiner Meinung nach beruhte Johns stetes Erfolgsstreben zumindest zum Teil auch auf der Unmöglichkeit, vor Mimis Augen bestehen zu können. Vermutlich war ihm gerade deshalb die bedingungslose Liebe und Unterstützung, die er von mir bekam, so wichtig. Als seine Freundin wusste ich, wie viel ihm etwas Freundlichkeit oder gar Ermutigung von ihrer Seite bedeutet hätte – deshalb mochte ich ihr die ständigen Nörgeleien nicht verzeihen.«

      Wir sitzen 2005 im Restaurant in München und ich wünschte, Tante Mimi einmal begegnet zu sein (sie starb 1991). Ohne Zweifel ist die strenge Dame, der man nachsagt, sie habe nie Sex mit ihrem Mann George gehabt, habe aber nach dessen Tod eine wilde Affäre mit einem Studenten angefangen, der bei ihr zur Miete wohnte und kaum älter als ihr Ziehsohn war, mitverantwortlich für Lennons Ehrgeiz.

      Liverpool: Der Seehafen mit den Matrosen aus aller Welt und dem Gefühl von Weite und Freiheit bietet ein multikulturelles, raues und exzentrisches Leben. Liverpool: die Stadt der Dialekt- und Sprachenvielfalt, der großen Zahl arbeitsloser und gewaltbereiter Jugendlicher, der vielen Prostituierten, der fremdländischen Bewohner aus den britischen Kolonien. Eine Stadt mit engagierten Gewerkschaften und kämpferischen linken Politikern, die sich von der Metropole London nichts vorschreiben lassen wollen. Trotz kommt auch im musikalischen und künstlerischen Gefälle zum Ausdruck. Der Junge aus der Menlove Avenue will nicht akzeptieren, dass Erfolg zwangsläufig in London geboren werden muss. Warum nicht auch einmal in Liverpool?

      In seiner Heimatstadt gründet John Lennon nicht nur die Beatles, sondern gemeinsam mit Freunden The Dissenters, eine lose Verbindung, die Liverpools Dialekt, Kunst und Musik gegen die Hauptstadt-Arroganz aus dem Süden verteidigen soll. Der Maler Stuart Sutcliffe, der Autor Bill Harry und John, der Musiker, diskutieren nächtelang über die Autonomie der Mersey-Art und über die Möglichkeiten, Eigenheiten über den Weg der Nachahmung zu entwickeln. Hier in Liverpool experimentiert John Duette à la Everly Brothers mit dem 18 Monate jüngeren Paul, hier tritt er erstmals im Cavern Club auf, dem schlechtbelüfteten Kellergewölbe mitten im Geschäftsviertel, einen Steinwurf von einem Elektro- und Plattengeschäft entfernt, das den Eltern von Brian Epstein gehört. In diesem Umfeld muss er gegen echte Prolos bestehen, gegen authentische Working Class Heroes, die nicht wie er Bücherwürmer sind und Kunstausstellungen besuchen. Und er muss gegen Jazz- und Skiffle-Puristen antreten. Das beste Mittel ist einmal mehr der Rock’n’Roll. Die rasenden Sounds von Jerry Lee Lewis und die Ekstase eines Little Richard bringen alle zum Schweigen, flößen dem Publikum Respekt ein. Das Trio John, Paul und George tritt immer öfter bei Gelegenheitsgigs auf. Sei es in der Kunstakademie, sei es im Vorprogramm anderer Bands, sei es bei Wettbewerben, bei denen sie öfter mitmachen und nie gewinnen. Aus einer Hobby-Gruppe wird allmählich eine ernst zu nehmende Band, die ihr erstes Geld verdient, die gegen den noch vorherrschenden Musical-, Schlager-, Jazz- und Skiffle-Geschmack ankämpft und die verschiedene Images testet: mal mit Krawatte und im Anzug, mal in Lederkluft.

      Pauls Schule befindet sich neben Johns Kunstakademie. Die beiden verbringen viel Zeit beim Hören der neuen Platten und mit dem Üben eigener Songs. Allerdings besitzen sie kein Tonband, um Demos aufzunehmen. Sie schreiben auch längere Nonsens-Texte oder Theaterstücke à la Godot, gehen ins Theater und besuchen Musicals, klopfen die Bereiche ab, in denen sie mit ihrem Überschuss an Kreativität Erfolg haben könnten. Gemeinsam mit George, einem Pianisten und einem Schlagzeuger gehen sie 1958 in ein Studio, in dem Amateure für wenig Geld professionelle Aufnahmen machen können. Sie entscheiden sich für Buddy Hollys »That’ll Be The Day« sowie für ein Country- und Western-Stück. Für jeden Song haben sie nur einen Versuch, wonach davon sofort eine Platte gepresst wird. Dieses eine Exemplar wandert dann von einem zum anderen, wird da und dort gespielt, verbleibt schließlich beim Pianisten, einem Schulfreund Pauls, und gilt heute als eine der teuersten Vinylplatten überhaupt.

      Die Freundschaft von John Lennon und Paul McCartney beruht auf einer komplexen Basis. Einerseits wirken sie charakterlich wie Gegensätze, andererseits weisen ihre Lebensläufe erstaunliche Ähnlichkeiten auf: John ist herrisch, zielgerichtet, willensstark, rau und kompromisslos, Paul ist verständnisvoll, verspielt, freundlich und tolerant. Dank der musikalischen Ambitionen von Pauls Vater – er spielt in der Freizeit leidenschaftlich gerne verschiedene Instrumente – lernt John viel von Paul, was Harmonien, Melodien und Grifftechnik betrifft. Dafür profitiert Paul von Johns musikalischer Kraft und Härte und von seiner Jabberwocky-Rock’n’Roll-Lyrik. Die beiden ergänzen sich auf eine musikhistorisch einmalige Art, nach der definitiven Trennung 1969 zeigt sich allerdings, dass Paul auf Johns schnörkellosen Antrieb stärker angewiesen ist als John auf Pauls Girlanden. John zieht die klare Linie, Paul koloriert. Und selbstredend gilt in verminderter Form in allem das Gegenteil, was spätestens mit dem »White Album« deutlich wird: Mit die schönsten Songs entstehen, wenn Paul versucht, wie John zu komponieren, und umgekehrt. In den Anfangsjahren wirkt jedoch die unmittelbare Kooperation – das musikalische Spiel im selben Raum, das direkte Austauschen von Klang- und Satzfetzen und das Rumprobieren, Weiterführen und Ausgestalten – als Basis für die späteren Welterfolge. Zu zweit wühlen sie sich von einer ersten Liedidee bis zur herzeigbaren Rohfassung. Bei diesem Prozess landen Dutzende von Versuchen im Müll. Erst die Ausdifferenzierung von originellen und fesselnden Songs im Gegensatz zu Massenware, die im schlimmsten Fall direkt abgekupfert ist, schärft das Bewusstsein des Singer-Songwriter-Duos für Qualität. George, der Benjamin der Band, braucht einige Jahre, bis er sich traut, John und Paul eigenes Material gegenüberzustellen. Erst mit dem fünften Beatles-Album »Help!« darf der Sologitarrist ab 1965 pro Schallplattenseite einen Song veröffentlichen. Die Zurückhaltung des Duos Lennon/McCartney gegenüber Harrisons spiritueller Suche führt zu einem musikalischen Stau beim »Ruhigen« der vier Beatles, der sich kurz nach der Trennung der Fab Four im Dreifachalbum »All Things Must Pass« Bahn bricht.

      Im Buch »I, Me, Mine« (1980, erweitert 2017) berichtet George Harrison, wie lange sein Lernprozess dauert, bis er so weit ist wie seine älteren Bandleader, bis er sie mit Kompositionen wie »Something« oder »Here Comes The Sun« überflügeln kann, um schließlich in den ersten Post-Beatle-Jahren der erfolgreichste der vier zu sein. Martin Scorsese und Georges Witwe Olivia realisieren 2011 die sehr sehens- und lesenswerte Dokumentation »Living in the Material World: George Harrison« als Film und Buch, worin Georges besondere Stellung innerhalb der Beatles viel Raum einnimmt.

      Der Linkshänder Paul beschreibt die Besonderheiten der Zusammenarbeit mit John auch im Kontext ihrer spiegelbildlichen Gitarren-Haltung: »Wir konnten gegenseitig unsere Akkorde sozusagen umgekehrt lesen. Das bedeutete auch, dass wir, wenn wir die Gitarre des anderen ausborgten, verkehrt herum greifen mussten. Daraus entwickelte sich bei uns beiden diese kleine Kunstfertigkeit, auch auf einer falsch bespannten Gitarre zu spielen. Denn keiner von uns ließ es zu, dass der andere die eigene Gitarre umspannte.«

      John und Paul im kleinen Zimmer bei Mimi, im Badezimmer von Julia, die es den Jungs zwecks besserer Akustik zur Verfügung stellt, zu Hause bei Paul, in Künstler-Wohngemeinschaften in Liverpool, in schicken Appartements in London, in freistehenden Villen mit professionellen Studios: Egal, wann und wo in ihrem Leben, sie sehen die Griffe des anderen spiegelbildlich und müssen den Akkord für sich selbst umsetzen.

      Diese


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