Tod unterm Nierentisch. Alida Leimbach
Читать онлайн книгу.mehr brauchte ich nicht zum Glücklichsein. Ich fühlte mich wohl mit dir zusammen in der winzigen Küche, am warmen Ofen, vor dem wir gegessen und geplaudert haben.
Eine Szene ist mir besonders in Erinnerung geblieben, daran musste ich gerade heute wieder denken. Wir saßen unter der Petroleumlampe, weil der Strom ausgefallen war, und haben Krabben gepult, weißt du noch? Das heißt, ich habe dir gezeigt, wie es geht, denn du konntest nichts damit anfangen, wusstest nicht einmal, wie die Dinger schmecken und ob du sie magst. Und sie schmeckten dir himmlisch! So oft musste ich sie dir danach von Remme mitbringen, und bald konntest du sogar schneller pulen als ich.
Ich vermisse dich so, meine Zauberfrau. Als ich dich das erste Mal sah, wie du zwischen den Kaffeetischen im Schweizer Haus hin und her gingst, auf der Suche nach einer Freundin, mit der du verabredet warst, wusste ich sofort, dass ich dich eines Tages heiraten würde. All meinen Mut habe ich zusammengenommen und dich angesprochen, dir meine Karte gegeben. Eine Woche später hast du mir einen kurzen Brief geschrieben. Alles war gleich klar zwischen uns. Ein Leben ohne den anderen war fortan nicht mehr möglich.
Lilly war dann die Krönung für unser Glück. Sie hat uns mit ihrer Leichtigkeit und Fröhlichkeit angesteckt. Du ahnst nicht, wie sehr auch sie mir fehlt.
Als wir uns das letzte Mal sahen, warst du verzweifelt. Du brauchtest neue Schuhe für die Kleine, weil ihre Füße so schnell gewachsen waren. Es gab nirgendwo welche, es gab in den Geschäften überhaupt nichts mehr zu kaufen. In den Schaufenstern standen Pappschilder oder es fanden sich nur alte, gebrauchte Sachen zum Tauschen darin. Du hast schließlich Schuhe für Lilly gefunden, die ihr noch viel zu groß waren. Es ging nur mit drei Paar Socken übereinander. Dafür hast du schweren Herzens einen Ring und eine Brosche deiner Großmutter hergegeben. Wenn du wüsstest, wie voll die Geschäfte nun wieder sind, wie prächtig die Auslagen der Schaufenster, wie groß die Augen der Passanten, die davorstehen.
Du fehlst mir so, Fredi. Deine Güte und Milde fehlen mir, deine warmen Augen, dein sinnlicher Mund, deine Grübchen, wenn du lachst, deine weiche Haut, deine schönen Kurven, deine zärtlichen Hände.
Mit dem Gedanken daran schlafe ich nun ein, traurig und ein wenig getröstet zugleich. Dein dich liebender Johann
10. Kapitel
Donnerstag, 24.06.1954
Vor ihm stand eine dampfende Tasse Kaffee, die ihm seine Sekretärin Irmgard Zerhusen gebracht hatte. Johann Conradi schätzte sie auf Anfang 60, eine fleißige, ehrgeizige Frau. Er bewunderte ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten in Stenografie und auf der Schreibmaschine. Vor wenigen Wochen hatte sie an einer Meisterschaft im Stenografieren teilgenommen, die die Industrie- und Handelskammer ausgeschrieben hatte. Die IHK hatte kürzlich ihren Standort am Neuen Graben bezogen, nachdem das alte Gebäude 1944 ausgebombt worden war, und sorgte durch spektakuläre Aktionen wie den Wettbewerb für Aufmerksamkeit. Irmgard Zerhusen hatte einen soliden 16. Platz belegt, was für ihr Alter wirklich bemerkenswert war.
Conradi öffnete gerade seine blecherne Frühstücksbox, die ein Butterbrot und einen kleinen runzligen Apfel enthielt, als sie erneut anklopfte und Besuch vermeldete. »Herr Karl Korittke ist soeben erschienen«, sagte sie. »Gemeinsam mit seiner Mutter Frau Lieselotte Korittke.«
»Haben Sie vielen Dank, Frau Zerhusen. Ich brauche Sie gleich mit Ihrem Stenoblock!«
»Selbstverständlich, Herr Conradi!«
»Ach, noch etwas«, rief er ihr hinterher. »Bringen Sie doch den beiden Zeugen auch eine Tasse Kaffee und ein paar Butterkekse, das wäre sehr freundlich von Ihnen!« Sie machte ein überraschtes Gesicht, weil ein solcher Empfang nicht üblich war, aber sie sagte nichts dazu. Johann Conradi war neu im Präsidium und wusste vieles nicht.
Conradi ließ sich die Pässe der beiden Besucher zeigen und wandte sich dann zunächst an Karl Korittke. »Ihre Schwester habe ich ja bereits kennengelernt«, sagte er. Während der junge Mann ein paar unverständliche Worte murmelte, hatte der Kommissar Gelegenheit, ihn zu mustern. Die Unsicherheit, Verklemmtheit und Hemmung der Jugend stand ihm ins Gesicht geschrieben. Der hochaufgeschossene, picklige Junge litt unter Minderwertigkeitskomplexen, das war deutlich zu sehen. Der schwarze, zu klein gewordene Anzug und die kurzgeschorenen Haare betonten diesen Gesamteindruck noch.
»Meine Schwester hat ihn gefunden«, stammelte er. »Ich bin froh, dass ich es nicht war.« Er starrte die Fotowand an. Conradi folgte seinem Blick. Dort hingen die Lichtbilder aus dem Friseursalon, die Conradi am Tatabend gemacht hatte. Karl wandte sich schaudernd ab.
»Ich habe noch nie einen Toten gesehen«, sagte er leise.
»Nicht mal im Krieg?«
»Ich war noch zu jung. Meine Mutter ist froh darüber. Ich weniger. Ich hätte gerne gekämpft.« Er sah zu seiner Mutter hin, die nicht reagierte. Ihr Gesicht war plötzlich wie versteinert.
»Natürlich hat man Sie nicht genommen. Vor neun Jahren waren Sie entschieden zu jung.«
»Eben«, sagte der Junge beleidigt.
»Wie haben Sie den gestrigen Tag erlebt?«, wollte Conradi wissen. Seine Sekretärin erschien mit einem kleinen Tablett, setzte zwei Tassen mit einem ziemlich dünnen Gebräu ab, stellte Kekse hin. Freundlich distanziert lächelte sie, nahm dann mit ihrem Stenoblock hinter den Zeugen Platz und zog ihren gespitzten Bleistift hinter dem Ohr hervor.
»Ich habe gearbeitet«, sagte Karl. »Ich bin zurzeit in der Hotelküche eingesetzt.«
»In welcher?« Conradi gab ein Stück Würfelzucker und Dosenmilch in den Kaffee, verzog aber dennoch das Gesicht, als er den ersten Schluck nahm. Es war Kaffeeersatz.
»Mein Sohn macht eine Lehre im Hotel Hohenzollern«, antwortete Lieselotte Korittke an seiner Stelle.
»Als Koch«, sagte Karl, »aber noch bin ich für alles Mögliche zuständig: die Gäste mit Handwagen vom Bahnhof abholen, das Gepäck aufs Zimmer bringen, die Herrschaften mit Kaffee, Gebäck und Süßigkeiten versorgen, in der Küche helfen, Salat waschen, Gemüse schnippeln, den Köchen zuarbeiten und so weiter. Keine allzu aufregenden Sachen.«
»Du bist immer so ungeduldig«, sagte Lieselotte streng.
»Wann hatten Sie gestern Feierabend?«
»Um 19 Uhr. Ich war ziemlich fertig und habe mich sofort schlafen gelegt.«
»Dann müssten wir uns ja begegnet sein.«
»Ich habe den Kellereingang genommen, weil ich noch eine rauchen wollte.«
»Sie haben sich also nicht sofort schlafen gelegt.«
»Doch, danach schon.«
»Sind Sie noch einmal aufgestanden?«
»Nein, ich habe durchgeschlafen bis zum nächsten Morgen«, versicherte er.
»Das stimmt nicht, Herr Korittke«, entgegnete der Kommissar. »Als ich zum Tatort gerufen wurde, waren Sie nicht da.«
Der Junge suchte Hilfe bei seiner Mutter, aber die sah ihn nicht an.
»Wo sind Sie gewesen?«
»Mein Sohn hat die beiden Kleinen zu Nachbarn gebracht«, antwortete seine Mutter nun an seiner Stelle. »Sie waren sehr aufgewühlt und sollten nicht alles mitbekommen.«
»Als Sie von der Arbeit kamen, müssen Sie die Aufregung mitbekommen haben. Ihr Vater war zu der Zeit bereits tot.«
Karl verneinte und behauptete wiederum, er sei gleich ins Bett gegangen.
»Hat Sie jemand geweckt?«
Hilflos sah Karl erneut zu seiner Mutter.
»Mein Sohn sollte die Kinder fortbringen, weil Bettine dazu nicht in der Lage war. Wir standen alle unter Schock.«
Johann Conradi versuchte, in den Gesichtern der beiden zu lesen. »Sie wohnen noch bei Ihren Eltern oder haben Sie ein Zimmer im Hotel Hohenzollern?«
»Ich wohne bei meinen Eltern, habe aber auch ein Zimmer im Hotel,