Tod unterm Nierentisch. Alida Leimbach

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Tod unterm Nierentisch - Alida Leimbach


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hatte er das wirklich gesagt? Meinte er das so? »Aber warum?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich erwarte ein Kind von dir, Edmund!«

      Er seufzte leise. »Ich weiß.«

      »Ja, aber ich hatte das Gefühl, du hast die Nachricht gar nicht richtig aufgenommen. Zumindest hast du nicht einen Funken Freude gezeigt.«

      »Ja … doch, klar freue ich mich. Ich liebe kleine Kinder!«

      »Du hast gesagt, du heiratest mich!«

      Er seufzte. »Daisy, mein Liebes, was mache ich nur mit dir? Na, dann komm halt mit rauf«, sagte er schließlich, sah sich nach allen Seiten um und schloss rasch die Tür hinter ihr. »Meine Eltern sind ja zum Glück beschäftigt und werden es nicht merken. Ich kann dir ein neues Stück auf dem Saxofon vorspielen. Ich habe es selbst komponiert. Es klingt ein wenig traurig. Magst du es hören?«

      »Nach Herzschmerz?«

      »Ja, vielleicht auch das.«

      *

      »Und Ihnen ist nichts aufgefallen?« Johann Conradi befragte den siebten Nachbarn von Rolf Schmalstieg, einen hageren älteren Herrn, der seine Brötchen mit dem Schneidern von Oberhemden verdiente.

      »Nein, absolut nichts. Ich habe das Fußballspiel am Radio verfolgt und nebenbei genäht. Im Moment habe ich viel zu tun. Die Herren der Schöpfung leisten sich wieder etwas. Durch das Rattern der Maschine höre ich nichts von der Straße. Und das Radio habe ich laut gestellt, damit ich überhaupt etwas mitbekomme. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.«

      Johann Conradi und Fritz Starnke bedankten sich und gingen ein Haus weiter, in dem mehrere Parteien wohnten. Aber auch hier Fehlanzeige. Schließlich klingelten sie bei einer Maßschneiderin. Die Frau winkte ab. Sie habe nichts gehört und nichts gesehen. Ihr strubbeliger kleiner Terrier kläffte während der kurzen Befragung die Beamten wütend an. Er wollte nicht aufhören mit dem Gebell, bis die Schneiderin schließlich in die Küche ging und ihm ein Stück trockenes Brot zuwarf. Endlich war Ruhe. Das brachte die Kommissare aber nicht weiter. Wenige Minuten später gingen sie wieder, klingelten an Wohnungstüren und befragten die Bewohner. Sie waren nicht mehr allein. Über Funk hatte Conradi in der Zwischenzeit Kollegen angefordert, die bereits ausgeschwirrt waren, um sich auf die Suche nach verdächtigen Personen und Zeugen zu begeben. Sie gingen von Haus zu Haus, suchten in Mülleimern, Hausecken und Vorgärten nach Spuren. Fast wollten sie aufgeben, da bekamen sie von einem Steinmetz den Hinweis, er habe beim Nachhausekommen vom Gesangsverein einen schwarzhaarigen Mann auf einem Moped gesehen, der aus der Hofeinfahrt neben dem Friseursalon gekommen sei und ihn fast überfahren habe. »Passen Sie doch auf, Sie Lümmel«, habe er hinter ihm hergerufen, aber der Motorradfahrer schien ihn gar nicht wahrzunehmen, als wäre er betrunken. Johann Conradi bedankte sich für den Hinweis und machte sich Notizen. Er wollte wissen, um welchen Fahrzeugtyp es sich handelte, aber darauf hatte der Zeuge leider nicht geachtet.

      Auf dem Rückweg zum Salon fiel Conradi ein kleiner Zettel im Rinnstein auf. Als er ihn aufhob, sah er, dass es die Visitenkarte eines Arztes in der Lotter Straße war. »Dr. Bernhard Ritter«, stand in feiner Schrift auf der geknickten Karte, »Facharzt für Nerven- und Gemütskrankheiten«. Conradi steckte sie in seine Jackentasche und leuchtete vorsorglich mit seiner Taschenlampe den Rinnstein bis zum Neumarkt ab. Starnke nahm sich die entgegengesetzte Richtung bis zum Rosenplatz vor. 90 Minuten später trafen sie sich wieder und brachen die Suche ab.

      *

      Die Straßenbahn hatte glücklicherweise drei Minuten Verspätung. Im Laufschritt erreichte Conradi sie. Er war auch schon einmal besser in Form gewesen, stellte er fest, als er sich schnaufend vor Anstrengung auf den Einzelsitz hinter dem Fahrer gleiten ließ. Dabei ignorierte er das Schild Platz freizuhalten für Gebrechliche und Kriegsversehrte. Sollte jemand mit einem Krückstock oder einer Armbinde kommen, die ihn sichtbar als Blinden auswies, würde er den Platz räumen. Aber das war um die Uhrzeit eher ungewöhnlich.

      Regentropfen perlten von den beschlagenen Scheiben, als Johann Conradi ein Stück freiwischte, um hinauszusehen. Es war ein Tag im Juni, einer der längsten Tage des Jahres, die Bäume standen in vollem Laub, in den sattgrünen Mittelstreifen des Heger-Tor-Walls blühten Levkojen, Bartnelken, Lilien und Rosen und weckten die Vorfreude auf einen schönen Sommer. Aber der wollte sich einfach nicht einstellen. Conradi schob seine trübe Stimmung auf das Wetter. Dabei wusste er genau, dass es den geringsten Anteil daran trug. Müde fühlte er sich, gehetzt und abgespannt.

      Als die Tram vom Wall in die Lotter Straße einbog, stieß sie fast mit einem schwarzen VW Käfer zusammen, dessen Fahrer beim Hupton erschrocken das Lenkrad verriss. Der Straßenbahnführer drosselte das Tempo, leierte das Fenster herunter und brüllte ein paar derbe Schimpfwörter. Auch das Vierergespann, das direkt vor ihnen herfuhr und Bierfässer transportierte, war aus dem Takt geraten. Die Pferde wieherten und brachen aus. Der Bierkutscher hatte Mühe, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen.

      Auf der Höhe des Königlichen Realgymnasiums, in dem Conradi die letzten Jahre seiner Schulzeit verbracht hatte, zockelte die Bahn in einem gemächlichen Tempo weiter. Das Gespann mit den vier kräftigen Friesen war in die Bergstraße zur Brauerei abgebogen. Der kräftige Malzgeruch des Osnabrücker Bergquellpilseners wehte für einen Moment durch die gekippten Fenster und weckte Conradis Lust auf ein Feierabendbier.

      Kurz hinter Feinkost Remme vertiefte er sich in die Osnabrücker Tagespost. Er wollte die Ruine nicht sehen, konnte es nicht ertragen, dass sein früheres Glück nur noch aus einem Haufen Steine bestand. Ein einziges Mal war er noch an dieser Stelle gewesen, kurz nach seiner Ankunft in Osnabrück vor etwa fünf Wochen, hatte vor den Trümmern gestanden, die Augen geschlossen und wie ein kleines Kind gebetet, dass alles lediglich ein Albtraum war. Erst als ihm schwindlig wurde, fasste er sich ein Herz, näher heranzutreten. Seine alte Wohnung lag im Erdgeschoss. Der früher gepflegte Rasen im Vorgarten war von Disteln und Unkräutern überwuchert. Fenster und Türen waren kaputt und notdürftig mit Pappe vernagelt, Möbel gab es kaum noch, die brauchbaren waren offenbar geplündert worden, aber die Tapeten … zumindest die Reste davon … Ihm war es gelungen, an jedem Fenster ein Stück Pappe zu entfernen. Am meisten schmerzte die bunte Kindertapete mit dem Schneewittchen-Motiv. Er konnte kaum hinsehen, musste seine aufsteigenden Tränen unterdrücken. Auch das Badezimmer mit den schwarzen Fliesen weckte Erinnerungen in ihm. Im rosafarbenen Handstein hatte seine Frederike vor Jahren das Baby gebadet. Es hatte gejuchzt und mit Ärmchen und Beinchen gestrampelt. Nur beim Herausnehmen aus dem herrlich warmen Nass hatte es mit Geschrei protestiert. Ruhe stellte sich erst wieder ein, als Frederike es in ein auf dem Ofen vorgewärmtes Badetuch wickelte, herzte und küsste. Jeden Sonnabend heizten sie den hohen Kupferboiler an, um nacheinander in der freistehenden Badewanne ein Vollbad zu nehmen. Als Lilly größer wurde, durfte sie als Erste rein. Dann gab es Abendessen, zu dritt in der Wohnstube mit der hellen Streifentapete. Während Frederike die Kleine zu Bett brachte, machte er Feuer im Kamin. Der Anblick des ursprünglich weinroten Sofas mit der geschwungenen Holzlehne, auf dem er beim gemütlichen Licht der Stehlampe mit Frederike gesessen, Radiomusik gehört und gelesen hatte, während sie handarbeitete, war fast unerträglich. Schutt lag auf dem Sofa, zerschlissen war der Stoff, zerbrochen die Holzumrandung, vor lauter Dreck war die Farbe undefinierbar geworden, sah nun eher aus wie braungrau. Dann das Zimmer zum Osten hin mit der Veilchentapete … Sein Herz machte einen Satz. Oft hatten sie sich am späten Abend in dem großen massiven Ehebett geliebt. Die Schlafzimmermöbel hatte Frederike von ihren Großeltern geerbt, aber die zartblaue Tapete hatten sie gemeinsam ausgesucht. In Fetzen hing sie von der Wand und erinnerte an eine glücklichere Zeit. Möbel waren nicht mehr vorhanden, bis auf einen Schemel mit drei Beinen. Es zerriss etwas in ihm, das alles in diesem Zustand zu sehen und endgültig Abschied zu nehmen. Er hatte versucht, noch einmal, ein letztes Mal, in die Wohnung zu gelangen und einen Gegenstand zu retten, ein Erinnerungsstück, aber es hatte keinen Zweck – die wenigen Sachen, die noch da waren, waren unbrauchbar geworden, und er wollte sie ohnehin eigentlich gar nicht. Nicht nur das Haus war ein Trümmerhaufen, sondern auch der alte Hühnerstall im Garten, in dem Lilly vor dem Abendbrot mit Begeisterung Eier gesucht hatte. Die Erinnerung an unbeschwerte Tage war fast körperlich greifbar, und er fühlte einen bohrenden Schmerz, der wie ein Messer in seine Brust schnitt. Nicht nur das Haus, sondern sein Leben war ein Trümmerhaufen.


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