Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors. Richard Rost

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Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors - Richard  Rost


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      Als Otto mit dem Stein in der Hand und dem Psalm auf den Lippen zurückkehrte, lästerte Giacomo: »Im Castello wissen sie mit deinen Nöten umzugehen, Herr Kanoniker.«

      »Silentium finalmente, teutones!«, beschwerte sich lautstark der Citra, der als Einziger die Feiertage nicht zu Hause verbrachte; streng genommen war nach dem Löschen der Kerzen jegliche Unterhaltung untersagt.

      »Habt ihr nicht Sorge, dass der Citra etwas gehört haben könnte?«, fragte Otto besorgt.

      »Ach, der versteht kein einziges deutsches Wort, darauf verwette ich meinen Teutonenarsch«, antwortete Rico lachend.

      Otto lag noch lange wach, er war hin- und hergerissen. Auf der einen Seite das Kanonikat, die Erwartungen seines Vaters, seine Heimat, die Kirche, auf der anderen Seite das Leben, das Verbotene, die Lust und das Verlangen des eigenen Körpers. Erst als der heiße Stein längst seine ganze Wärme abgegeben hatte und von den anderen Betten lautes Schnarchen zu vernehmen war, schlief er endlich ein.

      Sie hatten gewartet, bis die Glocken verstummt waren, die die Christmette einläuteten, dann zog Otto mit Giacomo und Rico los. Die Nacht war kalt und neblig.

      »Und was, wenn wir erwischt werden?«

      »Scheiß dir nicht ins Hemd, Otto«, entgegnete Rico.

      »Da in der Christnacht die Vigil in der Regel als Nachtwache abgehalten wird, ist die Wahrscheinlichkeit, im Castello ein bekanntes Gesicht zu treffen, sehr gering«, versuchte Giacomo, Ottos Bedenken zu zerstreuen.

      »Die meisten Leute sitzen in einer der Kirchen; die Geistlichkeit sowieso.«

      Sie hatten ihre schwarzen Umhänge angelegt. Giacomo trug die Öllampe und leuchtete.

      »Ich komme mir vor wie eine der lichtscheuen Gestalten, die ihre Arbeit im Dunkeln verrichten: Abdecker, Henker und Verdingmörder«, murmelte Otto.

      »Da vorne in die Via Marsili, links in die Via Urbana und schon sind wir in der Via Senzanome, dort liegt die casa di tolleranza«, flüsterte Giacomo geheimnisvoll.

      Er spielt nur zu gern den Fremdenführer, dachte Otto und fragte: »Warum ist Longus nicht mitgekommen?«

      »Er macht sich nichts aus Weibern«, antwortete Rico »dafür kann er wie kein anderer Leute nachahmen und Witze erzählen.«

      »Nach dem Studium will er eine geistliche Karriere einschlagen, am liebsten in einem Kloster. Na, die werden viel Spaß mit ihm haben! Er ist ein guter Kerl. Da das Collegio nach der Komplet abgesperrt wird und es keine Möglichkeit gibt, ins Gebäude zu kommen, wartet er im Studierzimmer auf uns, um uns nach unserer Rückkehr durch ein Fenster neben der Küche hineinzulassen«, erklärte Giacomo.

      »Was erwartet uns in dieser casa di tolleranza?«, fragte Otto.

      »Ein Kastrat und ein Haufen junger Weiber, die ihre feuch…«

      »Rico, bleib gelassen!«, unterbrach ihn Giacomo. »Viele von den Mädchen dort haben ein schweres Schicksal zu ertragen. Die meisten von ihnen stammen aus katholischen Waisenhäusern. Sie sind uneheliche Kinder von Geistlichen, die von Nonnen erzogen wurden, oder ihre Eltern sind tot. Der Lebensweg von Waisen endet gewöhnlich im Frondienst eines Klosters oder eines Spitals, nur die hübschen und kräftigen Mädchen werden für spezielle Aufgaben ausgewählt; immerhin haben sie einen besonderen Status.«

      »Offiziell gelten sie als Bademägde, deren Aufgabe es ist, jede Woche den geistlichen Kunden die Schwarten zu säubern«, merkte Rico an und lachte.

      »Es ist ihnen daher erlaubt, sich ohne besondere Kennzeichnung frei in der Stadt zu bewegen«, ergänzte Giacomo. »Für normale Huren sind ein gelbes Gewand oder zumindest gelbe Schleifen vorgeschrieben. Unsere Bademägde dürfen die Sakramente empfangen und stehen, wie alle in Krankenhäusern, Hospizen und Pflegeeinrichtungen Beschäftigten, unter dem besonderen Schutz der katholischen Kirche, die sie darob als ihr Eigentum betrachtet. Wobei es nicht wenige in der Kirche gibt, die sie am liebsten zum Teufel jagen würden.«

      Otto klopfte das Herz bis zum Hals, als sie vor der unscheinbaren Stadtvilla ankamen.

      »Ach ja, bevor ich es vergesse, Otto: Es gibt ein paar Spielregeln zu beachten. Zum einen, verrate niemals deinen Namen und deine Herkunft, und das Wort ›Collegio‹ darf nie fallen. Wir sind alle drei Novizen eines Klosters, verstanden! Die Mädchen sind ebenfalls angehalten, nicht über sich zu sprechen oder ihren wahren Namen zu nennen; also nicht nachfragen und keine Küsse auf den Mund, hörst du! Zum anderen mögen sie es, wenn du dich vorher gebadet hast; außerdem gibt man am Ende für die geleisteten Dienste mindestens zwei Bolognini.«

      Otto nickte und Giacomo zog an einem Seil, an dem im Inneren ein Glöckchen bimmelte. Otto spürte Ricos mächtige Hand auf seiner Schulter.

      »Nicht lachen, Otto, wenn gleich der alte Francesco an der Tür erscheint. Die Stimme passt überhaupt nicht zu seinem Äußeren. Er war früher einer der berühmtesten Sänger am duomo. Der damalige Domkapellmeister hat ihn als Kind den Eltern abgekauft und kastrieren lassen, um seine engelsgleiche Stimme der cantoria des Doms zu erhalten. Nun, da ihm das Singen vergangen ist, kümmert er sich hier um die Vögelchen und verrichtet die schweren Arbeiten im Badehaus.«

      Otto schluckte angewidert. Er hatte von dieser Praktik in Italien bereits gehört. »Was für ein grausamer Preis«, entfuhr es ihm und er griff sich reflexartig zwischen die Beine.

      In der Tür öffnete sich eine kleine Luke und ein rundes, aufgeschwemmtes Gesicht erschien. Zwei Knopfaugen sahen ihnen entgegen.

      Giacomo sah sich kurz um, wohl aus Sorge, dass irgendjemand ihnen gefolgt sein könnte. Dann wandte er sich wieder dem Kastraten zu. »Sub tuum praesidium«, flüsterte er und steckte ihm einen Bolognino zu.

      »Entrate«, fiepte Francesco. Er schien schlecht gelaunt, da er wohl an diesem Abend nicht mit Kundschaft gerechnet hatte. Den Obolus nahm er dennoch dankend an und alsbald öffnete sich die große Tür.

      »Komm, Otto, es wird Zeit, dass du erwachsen wirst«, feixte Giacomo und zog ihn über die Schwelle.

      Der Kastrat trottete vor ihnen her. Otto sog die warme, feucht dampfende Luft ein.

      »Sein massiger Körper steht auf viel zu langen Beinen, dafür sind seine Arme viel zu kurz geraten; diese Missbildung hat wohl etwas mit dem Eingriff zu tun. Es ist ja nicht normal, wenn sie dir mit neun Jahren die Eier abschneiden. So hat es mir Oktavian erzählt«, erklärte Rico leise, während sie das von den warmen Steinplatten beheizte Erdgeschoss durchquerten, in dem die Badestube mit mehreren Holzzubern eingerichtet war.

      »Die Badestube ist eigentlich für die Stadtkleriker gedacht, von denen es in Bologna mehrere Hundert gibt«, ergänzte Giacomo die Führung durch das Badehaus. »Die meisten Klöster indes haben ihre eigene Badeabteilung, das hindert aber die Mönche nicht, diesen außergewöhnlichen Ort mit der Option auf eine Sonderbehandlung aufzusuchen. Hier lassen sich die geistlichen Herren den Rücken abschrubben, die Warzen und Schwielen behandeln, die Zehennägel schneiden und für eventuelle weitere Genüsse in Stimmung bringen.«

      »Giacomo meint, dass sich die Kuttenbrüder ficken lassen«, erklärte Rico und Otto errötete. Er hatte dieses Wort noch nie benutzt.

      »Jetzt benimm dich, Rico«, ermahnte ihn Giacomo.

      Langsam stapfte Otto den beiden Freunden hinterher die breite Steintreppe hinauf in die obere Etage des Hauses. Hier gingen von einer umlaufenden Galerie die einzelnen Zimmer ab. Von dort oben konnte man das Badevergnügen im Erdgeschoss beobachten. Otto staunte über den Prunk und die verschwenderische Ausstattung des Hauses, sog den wunderbaren Duft ein und genoss jeden Atemzug.

      So riecht also die Sünde.

      In dem geräumigen Kaminzimmer, das einen großen Teil des Stockwerks einnahm, saßen im Halbdunkel ein gutes Dutzend Mädchen lachend und scherzend um das offene Feuer auf Fellen, Polstern


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