Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors. Richard Rost

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Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors - Richard  Rost


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Der absurde Wahnsinn darin hatte ihn schwindlig gemacht, als sein damals kindlicher Geist sich um diesen Punkt gedreht hatte. Die eigentliche Botschaft der Bibel war zur Nebensächlichkeit geraten. Georg kannte die Worte Jesu und die Forderung, ein Friedensreich zu bauen: Und dieses Friedensreich muss zuerst im Inneren der Menschen Gestalt annehmen, bevor es auch im Äußeren wächst. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.

      Das, was Georg von den Kanzeln entgegengeschleudert wurde, waren nicht die Worte Jesu, sondern Angriffe und gegenseitige Schuldzuweisungen der Vertreter beider Kirchen. Wenn er für sich die Worte Jesu las, fühlte er sich Gott nahe, doch andere wollten sich als Vermittler zwischen ihn und den Herrn schieben. Warum sollte ein Mensch nicht selbst mit seinem Schöpfer in Kontakt treten können? Protestanten kämen ohne diese Vermittler aus, jedenfalls hatte man ihm das erzählt. Aber er wollte sich selbst ein Bild machen.

      Was hatte er nicht alles auf sich genommen, um die berühmtesten Prediger des Landes zu hören, in Augsburg Michael Cellarius und in Mainz den Domprediger Johann Wild. Beide hatten ihn enttäuscht, denn eines war ihnen gemeinsam: Sie waren Eiferer, die neben sich nichts gelten ließen. Der Katholik verdammte jede Meinung, die nur um Haaresbreite von den Dogmen abwich, gab Juden, Türken und Hexen die Schuld am Zerfall der Kirche, und der Protestant rief dazu auf, Bauern abzuschlachten, die sich mit Bezug auf das Evangelium aus der Leibeigenschaft befreien wollten. Wo wurde denn Jesu Wort tagtäglich gelebt? In den Klöstern? Im Vatikan? Um Gottes willen! Fast hätte er laut gelacht, dass er sich über die Eiferer ereiferte.

      Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen! Ja, der Glaube, es ging nicht mehr um den Glauben, sondern um die Macht und den Anspruch, den einzig wahren Glauben zu besitzen.

      Irgendwann hatte er von ihm gehört, diesem Schwenck­felder. Man sagte ihm nach, er ziehe wie Jesus ohne Besitz durch die Lande, wohne bei Freunden und berufe sich ausschließlich auf das Evangelium. Als Georg ihm nachforschen wollte, hatte er wenig über den schlesischen Prediger erfahren können, schon gar nichts Geschriebenes, obwohl ihm mit seinen fünfzehn Jahren endlich der Weg zu einem Studium offenstand und er Zugang zu Bibliotheken hatte. Erst in einem vertraulichen Gespräch hatte ihm ein Kommilitone den Weg zu dieser Tür gewiesen. Hinter der regte sich aber nichts. Vielleicht hatte man sein Klopfen nicht gehört. Er nahm den Eisenring und schlug ihn noch einmal auf das Metall.

      Die Tür wurde diesmal einen Spaltbreit geöffnet. »Wach auf, mein Seel!«, meldete sich eine freundliche Stimme.

      Nach einigen Augenblicken begriff er, dass seine Antwort erwartet wurde. »Lobpreise – nein – lobsinge seinen Namen! Ich bin Georg Mayer und möchte zum Meister vorgelassen werden.«

      »Na, dann kommt herein, aber seid leise. Der Meister spricht bereits.« Eine junge Bedienstete öffnete ihm die Tür.

      Ehrfürchtig betrat Georg das Haus des berühmten Arztes. Das Mädchen führte ihn durch etliche Gänge und über mehrere Treppen hinunter ins Kellergeschoss. Modriger Geruch zog ihm in die Nase, und er verdrängte das aufkommende Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun.

      Kurz darauf blieben sie vor einem schweren Vorhang stehen und er hörte zum ersten Mal die Stimme: durchdringend und gleichzeitig sanftmütig. Wie in einen unsichtbaren Sog geraten, wollte er nur noch den Menschen sehen, der so viel Wohlklang verbreitete.

      Die Bedienstete legte den Zeigefinger auf ihren Mund und schob den Vorhang zurück. Alles, was Georg sah, war eine dichte Menschentraube, die den Prediger umgab wie ein Bienenvolk seine Königin.

      »… Brüder und Schwestern im Herrn! Tragt das Reich Gottes in eurem Herzen und nicht vor euch her. Liturgie, Feierlichkeit, Messgewänder und Posaunenblasen von den Türmen mögen eure Liebe zu Gott zum Ausdruck bringen, aber auch die Liebe zu eurem Nächsten? Gottesliebe ist Nächstenliebe. Jesus spricht die Menschen an, wie sie sind: in ihrer Armut, ihrem Hunger, ihrer Trauer, ihrer Verfolgung. Und in Matthäus fünfundzwanzig hat er uns erklärt, was das heißt: Wer zu mir gehören will, der muss den Hunger bekämpfen, den Menschen zu trinken geben, den Obdachlosen eine Wohnung, Flüchtende aufnehmen, den Frierenden Kleider geben, Kranke pflegen und Gefangene besuchen. Vier Kirchen: Die päpstische, die lutherische, die zwinglische und die täuferische verfluchen sich untereinander, im Streit, welche nun die wahre Kirche Christi sei. Wir aber wollen niemanden verdammen und mit Petrus antworten, dass Gott die Person nicht ansieht, sondern wer ihn fürchtet und ihm gehorcht, der ist ihm angenehm. Vor Gott werden diejenigen nicht ausgeschlossen und nicht verdammt sein, die im Gehorsam mit Christus leben und ihm nachfolgen. Wir haben hier keine bleibende Statt, darum lasst uns die zukünftige suchen. Jesus hat auf Plätzen, im Kreise seiner Freunde und auf dem Berg gepredigt: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen.«

      Georg hörte gebannt die Worte und es schien ihm, dass die Anwesenheit dieses Mannes den Saal in einen Ort der Erleuchtung, des Friedens und der Zuversicht verwandelte. Endlich ging es nicht um das Verdammen Andersdenkender. Ein Mensch, der wie Jesus die Liebe und den Frieden predigt und deshalb von der Amtskirche als gefährlich erachtet und verfolgt wird. Georg war so in seinen Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, wie jemand ein Lied anstimmte.

      »Freut euch des Herrn, ihr Christen all!

      Ihr Frommen sollt Gott preisen

      Ein neues Lied lasset erschall’n,

      dankt ihm alle Weisen.

      Von ganzem Herzen, ganzer Seel;

      Preist ihn und macht der Freuden viel,

      zu Lob und Ruhm dem Herrn.«

      Die Schwenckfelder sangen voller Inbrunst.

      Dass die Gemeinde sang, dazu noch auf Deutsch, war Georg völlig fremd. In seiner katholischen Kirche war die Gemeinde nur Zuschauer, Priester und Mönche sangen und zelebrierten. Aber wie doch ein gemeinsam gesungenes Lied in der Lage war, eine Gemeinschaft entstehen zu lassen, ergriff Georg in seinem Innersten.

      Aufgeregte Stimmen vor einer Tür, die anscheinend einen weiteren Zugang zu dem Haus gewährte, holten ihn aus seiner Einkehr.

      »Sie haben unseren Freund Melchior ins Gefängnis geworfen, sie machen Ernst, bald sind wir alle an der Reihe!«, rief ein völlig aufgelöster junger Mann und drängte sich an Georg vorbei durch die verstörte Menge.

      »Lasst ihn durch!«

      »Es ist einer von uns.«

      »Der Himmel steh uns bei!«

      Die Unruhe unter den Schwenckfeldern wurde größer und die Leute riefen wild durcheinander. Durch die Gasse, die sich um den Jungen gebildet hatte, sah Georg den Prediger zum ersten Mal. Er saß vollkommen ruhig da, in ein einfaches Gewand gekleidet, eher klein von Gestalt, mit einem Bart, der ihm bis an die Brust reichte. Caspar Schwenckfeld erhob sich, winkte den Jungen zu sich und streckte ihm die Arme entgegen. Als dieser die dargereichte Hand Caspars nahm, ging ein Aufschrei durch die Menge: Man hatte seine Finger zerquetscht, blutige Fetzen hingen herunter.

      »Sie haben Melchior und mich gefoltert, seht meine Hände an! Meister, verzeiht mir, ich bin schwach geworden! Ich habe alles gestanden und Euch verraten. Es kann nicht lange dauern und sie stehen auch vor dieser Tür. Ihr müsst fliehen«, schluchzte der Junge.

      Ein Tuscheln ging durch den Raum, aber scheinbar breitete sich keine Angst unter den Leuten aus. Georg bewunderte die Gelassenheit der Schwenckfelder.

      »Bringt heißes Wasser, Wundsalbe und Binden!«, rief jemand, anscheinend war es der Hausherr.

      Georg beobachtete, wie sich der Junge vor Caspar kniete und dieser ihm über das Haupt strich.


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