Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors. Richard Rost

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Das Ketzerdorf - Der Aufstieg des Inquisitors - Richard  Rost


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Du hast keine Schuld auf dich geladen. Geh hin in Frieden und verkünde in Zukunft deinen Glauben. Mein Freund Taddäus wird deine Wunden behandeln!« Caspar Schwenckfeld segnete den Jungen, streifte sich das schlichte Holzkreuz über den Kopf und hängte es ihm um. Dann führte eine Bedienstete des Arztes den Jungen hinaus. »Möge Melchior standhaft bleiben im Glauben und Zeugnis ablegen, der Herr wird es ihm lohnen.«

      »Gott stehe ihm bei!«

      »Der Herr möge ihn befreien!«

      »Gott segne ihn«, murmelte die Gemeinde durcheinander.

      »Habt keine Angst vor den Menschen, die euch nach dem irdischen Leben trachten«, nahm Caspar erneut das Wort, als gäbe es keine Gefahr. »Bereitet euch auf das himmlische Leben vor, das in Ewigkeit währt. Wehret hingegen dem Bösen, das euer Seelenheil gefährdet. Geht in eure Häuser und lebt den Geist Gottes in eurem Inneren. Legt Zeugnis ab und verbreitet euren Glauben weiter an eure Kinder und Kindeskinder. Gehet, ihr seid entlassen. Amen.«

      Georg war sich sicher, dass nur ein heiliger Mann so über den irdischen Dingen stehen konnte, wie Caspar Schwenck­feld es vermochte.

      Schnell war der Prediger wieder von seinen Anhängern umringt und schüttelte die vielen Hände.

      »Ich möchte auch den Propheten anschauen«, flüsterte ein kleines Mädchen mit langen blonden Zöpfen, zerrte an Georgs Wams und sah ihn flehend mit großen Kinderaugen an. »Kannst du mich nicht ein wenig hochheben, damit ich auch etwas sehe?«

      »Na, dann komm!« Georg nahm die Kleine auf seine Schultern.

      »Bist du ganz allein hier? Wie heißt du denn?«, fragte er, während sie sich an seinem Kopf festhielt.

      »Ich bin Agatha, mein Vater ist ein Medicus und das ist unser Haus.«

      »Dann bist du eine Streicherin und dein Vater Taddäus Streicher?«

      »So ist es. Und wer bist du?«

      »Ich bin Georg Mayer, Student und …« Weiter kam Georg nicht, denn die Kleine strampelte aufgeregt mit den Beinen gegen seine Brust.

      »Lass mich schnell runter, der Prophet kommt und ich muss ihm die Hand geben, hat meine Mutter gesagt!« Die Kleine lief davon und er verlor sie aus den Augen. Georg wusste nicht, wie ihm geschah, plötzlich kam Caspar Schwenckfeld auf ihn zu, blieb direkt vor ihm stehen und sah ihn an. Er hatte nur zuhören wollen, jetzt fühlte er sich wie ein ertappter Eindringling. Doch in dem Moment, in dem ihn der Blick dieser gütigen und sanften Augen traf, wich das Gefühl von ihm und Georg war überwältigt. Die Zeit schien stillzustehen. Der Meister legte ihm seinen Arm auf die Schulter.

      Georg stand wie angewurzelt da, konnte nichts antworten. Eine Erleuchtung war über ihn gekommen. Er nahm gar nicht mehr wahr, wie er mit den anderen die steile Treppe hinaufging. Erst als er wieder hinaus in die abendliche Kühle trat, entglitt ihm ein tiefer Seufzer und er flüsterte: »Aber sprich nur ein Wort, und so wird meine Seele gesund!« Gott meint es ernst mit mir. Er hat mich zu diesem Prediger geführt. Jetzt gehöre ich innerlich zu ihm, wie all die anderen Zweifler, die vom Wittenberger Enttäuschten, die der Päpstlichen und deren Gefolgschaft Überdrüssigen sowie die Unschlüssigen und die religiös Heimatlosen. Aber wo wird meine Heimat sein?

      Wache auff/ Meine

      Seele/ klinge vnd ſchal-

      le Muſica vnd Seiten Spiel/

      Frühe wil ich auffwachen/ Deß

      Herren Namen rühmen/ Vnd

      des Abends wil ich frölich ſein.

      Gott/ ich wil dir dancken vnter

      den Völckern/ Jch wil dir Lob-

      ſingen vnter den Leuten. Denn

      deine Gütte erſtrecket ſich/ ſo

      weit der Himmel iſt/ vnd deine

      Warheit/ ſo weit die Wolcken

      gehen. Der Herr hat groſſe

      Ding an mir gethan/ der da

      mächtig iſt/ vnd deß Nahme heylig iſt.

      Aus »Gebete Caspar Schwenckfelds«

      1

      »Schaut, dass ihr heimkommt, versoffenes Pack!«

      Anna Dorn schlug energisch die Tür zu und strich sich die schweißverklebten Strähnen aus dem Gesicht. Nachdem sie die letzten betrunkenen Gäste aus der Wirtsstube des »Raben« ins Freie verfrachtet hatte, kehrte sie in den Schankraum zurück, wo der alte Blärsch am Stammtisch schnarchte. Unter ihm hatte sich auf dem Boden, wie so oft, eine übel riechende Lache gebildet.

      Anna versuchte, den Wirt noch immer mit Wohlwollen und Demut zu betrachten. Sie konnte sich gut daran erinnern, wie sie dem Alten vor Dankbarkeit um den Hals gefallen war, als er sie vor vier Jahren aus dem Waisenhaus geholt hatte. Damals hatte sie geglaubt, dass sie einen neuen Vater bekommen würde. Alle Kinder im Heim wünschten sich sehnlichst eine neue Familie. Aber dem Blärsch stand der Sinn nach etwas anderem. Freie Kost und Logis bei Mithilfe in der Wirtschaft hatte er der Schwester Oberin versprechen müssen und ihr einen schönen Batzen zugesteckt.

      Kurze Zeit später war klar geworden, was er im Schilde führte. Manches Mal hatte er versucht, sich an ihr zu vergreifen, und nur weil die Blärschin Anna wegen ihrer Schreie zu Hilfe gekommen war, hatte er von ihr abgelassen. Wenn er am Abend betrunken war und sie lüstern anstarrte, versuchte sie, ihn möglichst auf Abstand zu halten. Sie hatte nur noch Abscheu für ihren vermeintlichen Retter übrig.

      Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Anna stand einige Augenblicke da und kämpfte mit sich und dem gestrigen Bibelwort. War dies eine von den zahlreichen Erniedrigungen, die ihr im Himmelreich vergolten würden? Unter dem alten Blärsch aufwischen und gleichzeitig an die himmlischen Freuden denken?

      »Ach, Georg, du hast gut reden! Ich wüsste mir schon Freuden, aber halt irdische«, seufzte sie leise.

      Georg, der Prediger der Sankt-Mang-Kirche, war ihr einziger Lichtblick und Rückhalt. Sie kannte ihn bereits aus dem Waisenhaus, wo er Lesen und Schreiben unterrichtete. Schließlich hatte er sie eingeladen, seine Bibelstunden zu besuchen. Er war eben ganz anders als die ungebildeten Wirtshausbrüder. Seine große, noble Erscheinung, die gütigen Augen und sein gepflegtes schulterlanges Haar hatten sie seit jeher beeindruckt.

      Sie war neugierig und löcherte ihn mit Fragen, und er allein war es, der ihren Wissensdurst stillen konnte. Oft hatte er ihr von Caspar erzählt, seinem Meister, den er pries und verehrte. Er hatte sich in das katholische Kempten begeben, um dort die Menschen zurück zu den Ursprüngen des Christentums zu führen. Das Wort Gottes in seiner reinsten Form, ohne Beiwerk.


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