Unrast. Olga Tokarczuk

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Unrast - Olga Tokarczuk


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und ihn zum Mittagessen abholt. Sie reden kaum ein Wort. Danach lässt er sich ins Hotel fahren, er fühlt sich schwach und legt sich angezogen aufs Bett. Er riecht seinen Schweiß, den ekelerregenden Geruch der Angst.

      Angezogen liegt er auf dem Rücken, umgeben von den Dingen aus den Taschen und Tüten. Angestrengt erforscht sein Blick ihre Konstellationen, ihr Verhältnis zueinander, die Richtungen, die sie weisen, die Figuren, die sie bilden. Das könnte eine Prophezeiung sein. Darin ist eine Nachricht für ihn enthalten, ein Brief über seine Frau und sein Kind, vor allem aber über ihn selbst. Er kennt nicht den Brief, er kennt nicht die Zeichen, mit Sicherheit hat sie keine Menschenhand geschrieben. Ihr Zusammenhang mit ihm ist offensichtlich, allein die Tatsache, dass er sie betrachtet, ist wesentlich; und dass er sie sieht, ist ein großes Geheimnis. Es ist ein Geheimnis, dass er überhaupt schauen und sehen kann, das Geheimnis ist, dass er ist.

      Überall und nirgends

      Wenn ich mich auf eine Reise begebe, verschwinde ich von der Landkarte. Niemand weiß, wo ich bin. An dem Punkt, von dem ich ausgegangen bin, oder an dem Punkt, zu dem ich strebe? Existiert ein »Dazwischen«? Bin ich wie dieser verlorene Tag, wenn man nach Osten fliegt, und die gewonnene Nacht nach Westen? Gilt für mich dasselbe Gesetz, auf das die Quantenphysik so stolz ist: dass ein Atom gleichzeitig an zwei Orten sein kann? Oder ein anderes Gesetz, von dem wir noch nichts wissen und das noch nicht belegt worden ist: dass man an ein und demselben Ort zweifach nicht existieren kann?

      Ich glaube, es gibt viele, die so sind wie ich. Entschwundene, Abwesende. Sie tauchen plötzlich im Ankunfts-Terminal eines Flughafens auf und fangen an zu existieren, wenn der Beamte ihnen einen Stempel in den Pass drückt oder eine höfliche Dame ihnen an einer Hotelrezeption einen Schlüssel aushändigt. Wahrscheinlich haben sie schon entdeckt, wie wandelbar sie sind, wie abhängig von Orten und Tageszeiten, von der Sprache, der Stadt, dem Klima. Fließend, mobil, illusionshaft – das ist gleichbedeutend mit zivilisiert. Barbaren reisen nicht, sie streben nur nach einem Ziel oder fallen an einem Ort ein.

      Die Frau, die mir Kräutertee aus ihrer Thermosflasche anbietet, als wir zusammen auf den Bus vom Bahnhof zum Flughafen warten, denkt ähnlich. Ihre Hände sind mit einem komplizierten Hennamuster bemalt, das mit jedem Tag blasser wird. Beim Einsteigen hält sie mir einen Vortrag zum Thema Zeit. Sie sagt, sesshafte, ackerbauende Menschen bevorzugten den Trost einer zyklischen Zeit, in der alles wieder an seinen Anfang zurückkehren muss, zu einem Keim schrumpft und den Weg zu Reife und Tod aufs Neue gehen muss. Doch Nomaden und reisende Händler mussten eine andere Zeitform ersinnen, die dem Unsteten besser entsprach. Das war eine lineare Zeit, sie war für sie geeigneter, weil sie das Maß für die Annäherung an ein Ziel und für den Zinszuwachs war. In dieser Zeitform ist jeder Augenblick neu und unwiederholbar, das macht die Menschen geneigter, Risiken auf sich zu nehmen, mit beiden Händen zu greifen, was sie bekommen können, den Augenblick auszukosten. Doch im Grunde war das eine bittere Entdeckung: Wenn eine Veränderung in der Zeit unwiderruflich ist, werden Verlust und Trauer zu einer alltäglichen Erfahrung. Deshalb haben sie auch ständig Worte wie »vergeblich« oder »verschwendet« auf der Zunge.

      »Vergebliche Anstrengung, verschwendete Mittel«, lacht die Frau und verschränkt die bemalten Hände hinter dem Kopf. Die einzige Möglichkeit, in einer solchen in die Länge gezogenen, linearen Zeit zu überdauern, sei das Wahren von Abstand, sagt sie. Ein Tanz, dessen Schritte im Wechsel von Annäherung und Entfernung bestehen. Ein Schritt vor, ein Schritt zurück, ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts – eine Schrittfolge, die man sich leicht merken kann. Und je größer die Welt werde, desto größer die Entfernung, die man sich auf diese Weise ertanzen könne, man könne hinter sieben Meere, hinter zwei Sprachen, hinter eine ganze Religion wandern.

      Ich habe jedoch eine andere Meinung zum Thema Zeit. Die Zeit aller Reisenden sind viele Zeiten in einer, eine ganze Vielheit. Das ist eine Inselzeit, Archipele der Ordnung im Ozean des Chaos, das ist die Zeit, die Bahnhofsuhren erzeugen – überall anders, eine Zeit nach Absprache, eine meridionale Zeit, die niemand besonders ernst nimmt. Die Stunden verschwinden im fliegenden Flugzeug, der Morgendämmer tritt blitzartig ein, der Mittag und gleich dahinter der Abend traben ihr schon auf den Fersen. Die hektische Zeit der Großstädte, wo man sich nur für kurze Zeit einfindet, um sich in die Gefangenschaft eines Abends zu begeben, und die träge Zeit der unbewohnten Ebenen, die man aus dem Flugzeug sieht.

      Ich glaube auch, dass die Welt im Innern steckt, in den Gehirnwindungen, in der Zirbeldrüse, er steckt einem im Hals, dieser Globus. Eigentlich kann man ihn aushusten und ausspucken.

      Flughäfen

      Es gibt die großen Flughäfen, die uns mit dem Versprechen der Umsteigemöglichkeiten in Mengen versammeln, sie haben ihre geordneten Verbindungen und Flugpläne im Dienste der Bewegung. Doch auch wenn wir nicht vorhaben, uns in den nächsten paar Tagen fortzubewegen, lohnt es sich, sie näher kennenzulernen.

      Früher wurden sie wie die Bahnhöfe an den Stadtrand gelegt, als eine Art Anhang. Aber heute haben sie sich so weit emanzipiert, dass sie ihre ganz eigenständige Identität haben. Bald wird man sagen können, dass es die Städte sind, die als Arbeits- und Schlafstätten Anhängsel der Flughäfen bilden. Denn inzwischen ist ganz klar, dass das wahre Leben in der Bewegung stattfindet.

      Warum sollten heutzutage Flughäfen richtigen Städten in irgendetwas nachstehen? Es gibt dort Kunstausstellungen, Konferenzzentren, sie sind Schauplatz für Festivals und Shows. Es gibt Gärten und Promenaden, kulturelle Veranstaltungen werden angeboten. In Schiphol kann man schöne Rembrandtkopien bewundern, auf einem asiatischen Flughafen gibt es ein Religionsmuseum, eine sehr gute Idee. Außerdem haben wir dort Zugang zu guten Hotels und etlichen Bars und Restaurants. Es gibt kleine Läden, Supermärkte und Geschäftspassagen, in denen man sich nicht nur für die Reise versorgen kann, man kann bereits hier alle möglichen Souvenirs kaufen, um am Zielort keine Zeit damit zu verschwenden. Es gibt Fitness Clubs, Massagesalons – klassisch und asiatisch –, Friseure und Anlageberater, Niederlassungen von Banken und Mobiltelefongesellschaften. Wenn die körperlichen Bedürfnisse schließlich gedeckt sind, kann man sich zur geistigen Erbauung in die zahlreichen Kapellen und Meditationsräume begeben. Auf manchen Flughäfen werden für die Reisenden Autorenlesungen geboten. Irgendwo im Rucksack habe ich noch das Programm einer solchen Lesung: »Geschichte und Grundfragen der Reisepsychologie«, »Die Entwicklung der Anatomie im 17. Jahrhundert«.

      Alles ist gut organisiert, Laufbänder erleichtern den Wechsel von einem Terminal zum anderen, dann geht es von einem Flughafen zum andern (manche sind mehrere Flugstunden voneinander entfernt!), und ein diskreter Ordnungsdienst sorgt indessen für das reibungslose Funktionieren dieses großen Mechanismus.

      Heute sind Flughäfen mehr, als ihr Name sagt, sie bilden eine spezielle Kategorie von Stadtstaaten mit festem Standort, jedoch ständig wechselnder Bevölkerung. Die Flughafenrepubliken, Mitglieder des Internationalen Luftfahrtverbands, haben noch keine Vertretung bei den Vereinten Nationen, aber das wird sicher nicht mehr lange dauern. Sie sind ein Beispiel für ein System, in dem die Innenpolitik weniger wichtig ist als die Verbindungen mit anderen zum Verband gehörenden Flughäfen, denn nur damit können sie ihre Existenz rechtfertigen. Sie sind ein Beispiel für ein extravertiertes System, die Verfassung steht auf jedem Fahrschein gedruckt, und der einzige Personalausweis seiner Bürger ist die Bordkarte.

      Die Einwohnerzahl ist stets fluktuierend. Interessanterweise sind bei Nebel und Gewitter immer Bevölkerungszunahmen zu verzeichnen. Damit sich jeder überall und stets wohlfühlen kann, dürfen die Einwohner nicht zu auffällig sein. Manchmal könnte man auf dem Laufband beim Anblick der anderen Reisebrüder und -schwestern den Eindruck haben, dass wir Präparate in Formalin sind, die einander aus ihren Gläsern angucken. Leute, die aus den Bildern in Reiseführern herausgeschnitten worden sind. Unsere Adresse ist der Platz im Flugzeug, beispielsweise 7D oder 16A. Die großen Laufbänder tragen uns in entgegengesetzte Richtungen: Die einen sind in Pelz und Mütze, andere in Hemden mit Palmenmuster und Bermudashorts, manche mit schneegetrübten Augen, andere sonnengebräunt, diese durchdrungen von nördlicher Feuchtigkeit, dem Geruch faulender Blätter und aufgeweichter Erde, jene mit Wüstensand in jeder


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