Unrast. Olga Tokarczuk

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Unrast - Olga Tokarczuk


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Haare schneiden. Große und Breitschultrige wie dieser Mann da, und Kleine, Zerbrechliche, wie jene Frau, die ihm gerade mal bis zur Taille reicht.

      Sie haben auch ihre eigene Musik. Das ist die Symphonie der Flugzeugmotoren, ein paar einfache Klänge, die sich im rhythmusfreien Raum ausbreiten, ein orthodoxer zweimotoriger Chor, düster rußig, rot und schwarz unterlegt, ein Largo, bestehend aus einem einzelnen Akkord, der sich selbst ermüdet. Ein Requiem, das mit dem mächtigen Introitus des Starts beginnt und mit dem zur Landung abklingenden Amen endet.

      Reise zu den eigenen Wurzeln

      Hostels, die herbergsartigen Unterkünfte, müsste man wegen »Ageism« zur Rechenschaft ziehen, wegen Diskriminierung aufgrund des Alters. Aus irgendwelchen Gründen nehmen sie nur junge Leute als Übernachtungsgäste auf. Sie setzen sich selbst diese Altersgrenzen, doch jemand über vierzig würde die Schwelle mit Sicherheit ohnehin nicht überschreiten. Warum sollen junge Leute solch ein Vorrecht haben? Sind sie rein biologisch nicht schon mit allen Vorzügen ausgestattet?

      Nehmen wir zum Beispiel diese Rucksacktouristen, aus denen sich die Mehrheit der Gäste in den Hostels rekrutiert. Männer wie Frauen sind kräftig und groß, haben gesunde helle Haut, selten rauchen sie oder konsumieren andere Schweinereien, höchstens ab und zu mal einen Joint. Sie reisen ökologisch bewusst zu Lande, mit Nachtzügen oder überfüllten Langstreckenbussen. In manchen Ländern können sie auch noch trampen. Abends kommen sie in diesen Hostels an, und beim Essen stellen sie einander Die Drei Reisefragen. Woher bist du? Woher kommst du gerade? Wohin fährst du? Die erste Frage stellt die senkrechte Achse dar, die nächsten beiden die waagrechte. Mit Hilfe dieser Konfiguration können sie eine Art Koordinatensystem erstellen, und wenn es ihnen gelungen ist, einander auf dieser Karte zu platzieren, können sie ruhig schlafen.

      Einer, den ich im Zug traf, war wie die meisten auf der Suche nach seinen Wurzeln. Das war eine ziemlich komplizierte Reise. Mütterlicherseits war seine Großmutter russische Jüdin, sein Großvater Pole aus Wilna (sie hatten Russland mit der Armee von Anders verlassen und sich nach dem Krieg in Kanada niedergelassen). Väterlicherseits war sein Großvater Spanier, seine Großmutter Indianerin, den Namen ihres Stammes habe ich vergessen. Er war am Anfang seiner Reise, und das alles schien ihn etwas zu erdrücken.

      Reisekosmetika

      Heute bietet jede Drogerie, die etwas auf sich hält, ihren Kunden eine spezielle Serie von Kosmetika für die Reise. Manche Ketten stellen ganze Regale dafür bereit. Hier kann man sich mit allem ausstatten, was man für die Reise braucht: Shampoo, Waschmittel in der Tube, um in Hotelwaschbecken die Unterwäsche waschen zu können, zusammenklappbare Zahnbürsten, Sonnenschutzcreme, Insektenspray, Tüchlein mit Schuhcreme (erhältlich in einer breiten Farbpalette), Intimhygiene, Fußcreme, Handcreme. Das Charakteristische daran ist immer die Größe: Es sind Miniaturen, Tübchen und Gläschen, daumengroße Fläschchen, im kleinsten Näh-Set haben drei Nadeln, jeweils drei Meter Faden in fünf verschiedenen Farben, zwei weiße Notknöpfe und eine Sicherheitsnadel Platz. Vor allem der Haarlack in Sprayform wird nützlich sein, der Miniaturbehälter passt in die hohle Hand.

      Offensichtlich hält die Kosmetikindustrie das Reisephänomen für eine verkleinerte Kopie des sesshaften Lebens, für seine spielerische, leicht infantile Miniatur.

      La mano di Giovanni Battista

      Es gibt zu viel Welt. Man müsste sie verkleinern, nicht weiter und größer machen. Man sollte sie wieder in eine kleine Dose stopfen, in ein mobiles Panoptikum, das man nur samstagnachmittags anschauen dürfte, wenn die Tagesarbeit getan, die saubere Wäsche vorbereitet ist, die gestärkten Hemden auf der Stuhllehne hängen, die Böden gescheuert sind und der Streuselkuchen zum Auskühlen auf der Fensterbank steht. Dann würde man durch ein kleines Loch hineinschauen wie in ein Fotoplastikon und jede Einzelheit bestaunen.

      Leider aber ist es dafür wohl zu spät.

      Wahrscheinlich bleibt einem nichts anderes übrig, als zu lernen, wie man unentwegt eine Wahl trifft. Wie man so wird wie der Reisende, den ich einmal in einem Nachtzug kennengelernt habe. Der sagte, er müsse in regelmäßigen Abständen in den Louvre fahren und vor dem einen Bild stehen, das es seiner Meinung nach wert ist, gesehen zu werden. Vor dem Bild von Johannes dem Täufer, um mit dem Blick seinem erhobenen Finger zu folgen.

      Original und Kopie

      In der Cafeteria eines Museums sagte mir einmal jemand, nichts vermittle ihm eine solche Befriedigung wie der Umgang mit Originalen. Er stellte auch die Behauptung auf, je mehr Kopien es auf der Welt gebe, desto größer sei die Macht des Originals, eine Macht, die manchmal fast so groß ist wie die einer Reliquie. Denn wichtig ist das Einmalige, weil darüber die Gefahr der Zerstörbarkeit schwebe. Die Bestätigung seiner Worte fand sich in Gestalt einer Touristengruppe, die in der Nähe mit gottesdienstartiger Andacht ein Bild Leonardo da Vincis zelebrierte. Nur ab und zu hielt jemand die Spannung nicht aus, das deutlich vernehmbare Klicken eines Fotoapparates ertönte und klang wie eine Art »Amen« in einer neuen Zeichensprache.

      Der Zug der Feiglinge

      Es gibt Züge, die ganz auf den Schlaf der Passagiere eingerichtet sind. Der ganze Zug besteht nur aus Schlafwagen und einem Buffetwagen, nicht mal ein richtiger Speisewagen ist nötig. Ein solcher Zug verkehrt zum Beispiel zwischen Stettin und Breslau. Er fährt um 22.30 los und kommt um 7.00 an, obwohl die Strecke gar nicht so lang ist, es sind gut 340 Kilometer, die müssten sich in fünf Stunden zurücklegen lassen. Aber es geht ja nicht immer nur um Geschwindigkeit, das Unternehmen denkt auch an den Komfort der Passagiere. Der Zug hält auf offener Strecke und steht in Nacht und Nebel, ein leises Hotel auf Rädern. Es lohnt sich nicht, mit der Nacht um die Wette zu laufen.

      Es gibt auch einen durchaus guten Zug auf der Strecke Berlin – Paris. Und Budapest – Belgrad. Und Bukarest – Zürich.

      Ich glaube, diese Züge sind für die Leute ersonnen, die Angst vorm Fliegen haben. Sie sind öffentlichkeitsscheu, besser erwähnt man nicht, dass man mit ihnen fährt. Es wird auch keine besondere Werbung für sie gemacht. Diese Züge haben eine feste Kundschaft, nämlich den unglückseligen Teil der Menschheit, der bei jedem Start und jeder Landung tausend Tode stirbt. Das sind die mit den schwitzigen Händen, die hilflos ein Taschentuch nach dem anderen zerknüllen und die Stewardessen am Ärmel zupfen.

      Ein solcher Zug steht bescheiden auf einem Nebengleis, er fällt nicht auf. (Zum Beispiel der von Hamburg nach Krakau wartet in Altona, hinter Reklametafeln verborgen.) Wer zum ersten Mal damit fährt, irrt erst auf dem Bahnhof herum, bevor er ihn findet. Das diskrete Einsteigen dauert seine Zeit. In den Seitentaschen des Gepäcks stecken Schlafanzug und Pantoffeln, Kosmetika, Ohrenstöpsel. Die Kleidung wird sorgfältig auf spezielle Bügel gehängt, Zahnbürste und Zahnpasta gibt man in die winzige aufklappbare Waschkonsole. Bald kommt der Schaffner und nimmt die Bestellung für das Frühstück entgegen. Kaffee oder Tee – das ist die Scheinfreiheit des Zuges. Wenn sie einen Billigflug gebucht hätten, wären sie in einer Stunde am Ziel, hätten Geld gespart. Und sie hätten die Nacht – in den Armen ersehnter Geliebter, ein Abendessen in einem Restaurant auf der Rue Ble-Ble, wo es Austern gibt. Ein abendliches Mozart-Konzert in einer Kirche. Einen Spaziergang am Flussufer. Doch so müssen sie sich restlos der Dauer einer Zugreise ergeben, nach althergebrachter Weise persönlich jeden Kilometer hinter sich bringen, jede Brücke, jeden Viadukt und jeden Tunnel auf dieser Reise zu Lande passieren. Nichts kann man auslassen oder überspringen. Die Räder berühren jeden Millimeter der Strecke, machen daraus ihre Augenblickstangente, eine nie wiederholbare Konfiguration von Rad und Schiene, Zeit und Ort, die es im ganzen Kosmos nur einmal gibt.

      Kaum ist dieser Zug der Feiglinge ohne große Ankündigung in die Nacht aufgebrochen, füllt sich schon die Bar. Männer in Anzügen kommen für ein paar Schnäpse oder ein großes Bier, um besser einschlafen zu können; gut gekleidete Schwule blitzen mit den Augen umher wie mit Kastagnetten, Fußballfans schauen sich verloren um, getrennt von der Gruppe, die mit dem Flugzeug geflogen ist, sind sie unsicher wie Schafe außerhalb ihrer Herde; Freundinnen über vierzig, die ihre langweiligen Männer zu Hause gelassen haben und sich auf Abenteuerreise begeben.


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