Unrast. Olga Tokarczuk

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Unrast - Olga Tokarczuk


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sich erst etwa eine Stunde vor seiner Heimkehr ein, so hatte er sie eingestellt, um Strom zu sparen, und in den beiden dunklen Zimmern ballte sich noch die feuchte, von Meersalz durchsetzte Kälte.

      Er aß immer das gleiche einfache Gericht, das war das Einzige, was ihm noch nicht langweilig geworden war. In Scheiben geschnittene Kartoffeln, mit Speck und Zwiebeln in einen Topf geschichtet. Mit Majoran und Pfeffer bestreut, gut gesalzen. Ein ideales Gericht mit ausgewogenem Nährstoffgehalt: Fett, Kohlehydrate, Ballaststoffe, Eiweiß und Vitamin C. Er aß vor dem Fernseher, obwohl der ihn noch mehr als alles andere anwiderte, deshalb öffnete er zu guter Letzt eine Flasche Wodka und leerte sie. Dann ging er schlafen.

      Was für ein schrecklicher Ort, diese Insel! In den Norden gesteckt wie in eine dunkle Schublade, windig und nass. Aus irgendwelchen Gründen blieben die Leute hier wohnen und hatten keineswegs vor, in warme, helle Städte auszuwandern. Sie steckten in ihren kleinen Holzhäuschen längs der wieder neu asphaltierten Landstraße, die bergan führte und sie zu ewiger Kümmerlichkeit verurteilte.

      Wandert einmal an der Landstraße entlang, über die Bankette auf den kleinen Hafen zu, der aus ein paar undefinierbaren Gebäuden besteht, eine Plastikbude, wo es die Fahrscheine für die Fähre gibt, ist auch noch da, und ein kläglicher Yachthafen, um diese Jahreszeit ganz leer. Im Sommer kommt vielleicht die eine oder andere Yacht mit exzentrischen Touristen, die des Trubels in den südlichen Gewässern, der Rivieren, des Azur und der heißen Strände überdrüssig sind. Oder Leute wie wir geraten durch Zufall an diesen trostlosen Ort, Ruhelose, stets nach neuen Abenteuern hungernd, mit ihren Rucksäcken voll chinesischer Instantsuppen. Und was seht ihr? Den Rand der Welt, wo die Zeit, die von der leeren Küste in See gestochen ist, enttäuscht ans Land zurückkehrt und diesen Ort gnadenlos dem hartnäckigen Stillstand aussetzt. Worin unterscheidet sich denn hier das Jahr 1946 von 1976 und dieses wiederum vom Jahr 2000?

      Eryk war hier vor Jahren nach einer langen Reihe schöner und weniger schöner Abenteuer hängen geblieben. Ganz am Anfang jedoch, vor sehr langer Zeit, ist er aus seinem Land – seinerzeit eins von diesen unansehnlichen flachen kommunistischen Ländern – geflüchtet und heuerte als junger Emigrant auf einem Walfängerschiff an. Er hatte damals ein paar englische Worte zwischen »yes« und »no« zur Verfügung, gerade genug für das einsilbige Geknurre, das die harten Jungs auf dem Schiff miteinander wechseln. »Nimm«, »zieh«, »schneid«. »Schnell« und »fest«. »Fang auf« und »knote«. »Scheiße« und »verfickt«. Für den Anfang reichte es. Es reichte auch, den eigenen Namen gegen einen einfachen, allgemein bekannten einzutauschen – Eryk. Sich des zischenden Leichnams zu entledigen, den niemand richtig aussprechen konnte. Und es reichte auch, die Mappe mit allen Papieren ins Wasser zu werfen – Schulzeugnisse, Diplome, Studienscheine und Impfbescheinigungen –, das alles taugte hier zu nichts, konnte höchstens die anderen Matrosen beschämen, deren Biographie aus ein paar langen Reisen und Abenteuern in Hafenkneipen bestand.

      Das Leben auf dem Schiff ist nicht mit Salzwasser getränkt und auch nicht mit dem süßen Regen der Nordmeere, nicht einmal mit Sonne, sondern mit Adrenalin. Man hat keine Zeit zum Nachdenken oder zum Grübeln über Fehler der Vergangenheit. Das Land, aus dem Eryk stammte, war fern und nicht sehr maritim, ans Meer war er nur ganz gelegentlich gekommen. In Häfen genierte er sich. Lieber waren ihm Städte an einem ungefährlichen Fluss, über den sich verbindende Brücken spannten. Eryk hatte keineswegs Heimweh, hier im Norden gefiel es ihm viel besser. Er hatte vor, ein paar Jahre auf dem Schiff zu arbeiten und Geld zu verdienen. Dann würde er ein Holzhaus bauen, eine flachsblonde Emma oder Ingrid ehelichen und Söhne zeugen. Sein Beitrag zu ihrer Erziehung würde darin bestehen, dass er mit ihnen Schwimmer bastelte und Meeresforellen zubereitete. Irgendwann einmal, wenn seine Abenteuer ein entsprechend handliches Paket abgäben, würde er seine Memoiren schreiben.

      Er wusste selbst nicht, wie es gekommen war, dass die Jahre einfach durch sein Leben hindurchrannen, schwerelos, flüchtig, ohne Spuren zu hinterlassen. Höchstens in seinen Körper schrieben sie sich ein, vor allem in seine Leber. Das war später. Aber gleich am Anfang, nach seiner ersten Seefahrt, verschlug es ihn für drei Jahre ins Gefängnis, weil ein böser Kapitän seine ganze Besatzung zu Handlangern beim Schmuggel eines ganzen Containers mit Zigaretten und einem großen Paket Kokain gemacht hatte. Doch sogar im Gefängnis dieses fremden Landes blieb Eryk dem Meer und den Walen verfallen. In der Gefängnisbibliothek befand sich nämlich nur ein englischsprachiges Buch, wahrscheinlich hatte ein anderer Sträfling es vor Jahren dort gelassen. Es war eine alte Ausgabe vom Anfang des Jahrhunderts, die Seiten waren brüchig und vergilbt, von zahlreichen Spuren des täglichen Lebens gezeichnet.

      So sicherte sich Eryk drei Jahre lang (eigentlich keine zu strenge Strafe, bedenkt man, dass tausend Seemeilen weiter nach geltendem Recht auf dieses Vergehen der Tod durch den Strick gestanden hätte) eine kostenlose Perfektionierung seiner Sprache, Englisch für Fortgeschrittene, einen Kurs in Literatur- und Walkunde sowie Psychologie und Reisewissenschaft – alles aus einem Lehrbuch. Eine gute, konzentrierte Methode. Nach fünf Monaten konnte er Ishmaels Abenteuer schon stellenweise auswendig vortragen und wie Ahab reden, was ihm besonderen Spaß machte, weil das die Eryk genehmste Ausdrucksweise war, in der er sich wie in bequemer Kleidung fühlte, ganz egal wie altmodisch und wunderlich sie war. Und was für ein Glück, dass es dieses Buch gerade dorthin und in die Hände dieses Menschen verschlagen hatte. Das ist ein den Reisepsychologen unter dem Namen Synchronizität bekanntes Phänomen, ein Beweis für den Sinn der Welt. Ein Beweis dafür, dass sich in diesem schönen Chaos in alle Richtungen Fäden entspinnen, die eine Bedeutung haben, Netze seltsamer Logik, und wenn man an Gott glaubt, sind das die verschlungenen Spuren seines Fingerabdrucks. Das dachte Eryk.

      In dem fernen exotischen Gefängnis nun, wo man abends vor tropischer Schwüle kaum Luft bekam und wo Sehnsucht und Furcht das Gehirn marterten, da versenkte sich Eryk nun in die Lektüre dieses Buches, verschwor sich ihm und empfand dabei ein eigenartiges Glück. Ohne dieses Buch hätte er das Gefängnis wahrscheinlich nicht durchgestanden. Seine Zellengenossen, lauter Schmuggler wie er, wurden oft Zeuge, wenn er laut las, und erlagen bald auch dem Zauber der Abenteuer, die die Walfänger erlebten. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn sie sich nach der Rückkehr in die Freiheit in der Geschichte des Walfangs weitergebildet hätten, wenn sie Dissertationen über Harpunen und die Ausrüstung von Segelschiffen geschrieben hätten. Und wenn die Begabtesten von ihnen die höchste Stufe der Einweihung erklommen hätten, indem sie sich auf Ausdauer als Fachgebiet spezialisiert hätten. So kam es jedenfalls, dass die drei Zellenkameraden, ein Matrose von den Azoren, ein Matrose aus Portugal und Eryk, in ihrem speziellen Rotwelsch kommunizierten. Sogar über ihre kleinen schlitzäugigen Wärter redeten sie in diesem Jargon:

      »Zum Teufel! Dieser Alte, das ist vielleicht ein famoser Kerl!«, rief beispielsweise der Azorenmatrose aus, wenn einer ihnen ein Päckchen durchweichter Zigaretten in die Zelle geschmuggelt hatte.

      »Bei meiner Seel, ich bin beinah derselbigen Meinung, also sprich den Segen!«

      Ihnen war es nur recht, wenn jeder Neue, der zu ihnen in die Zelle kam, anfangs kaum etwas verstand, er wurde ihr Fremder, den sie für ihr soziales Ersatzleben brauchten.

      Jeder von ihnen hatte seine Lieblingsabschnitte, die er abends bei ihrem Leseritual vortrug, bis die anderen gegen Schluss im Chor einfielen.

      Doch die Hauptthemen der Gespräche in ihrem immer besseren Englisch waren das Meer, die Seereisen, das Ablegen vom Ufer, das Vertrauen auf das Wasser, das – wie sie nach einer mehrtägigen Diskussion, die den Vorsokratikern alle Ehre gemacht hätte, feststellten – das wichtigste Element auf dem Erdenrund war. Sie planten schon die Strecken für die Heimreise, bereiteten sich auf die Anblicke vor, die sich ihnen unterwegs bieten würden, formulierten in Gedanken das Telegramm an die Familie. Wovon würden sie leben? Sie überboten sich gegenseitig an Einfällen, doch ehrlich gesagt kreisten sie immer um ein und dasselbe Thema, ohne sich dessen bewusst zu sein, waren sie bereits angesteckt, hatten sich infiziert: Was ihr Denken beherrschte, war die bloße Möglichkeit, dass so etwas wie ein weißer Wal existierte. Jeder wusste, dass es noch Länder gab, in denen Walfang betrieben wurde, und auch wenn diese Arbeit heute nicht mehr so romantisch war, wie Ishmael es beschrieben hatte, würde man doch schwerlich eine bessere finden. Angeblich suchte man in Japan Leute für den Walfang. Was waren Dorsche und Heringe schon gegen Wale … Wie ein


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