Der Schimmelreiter. Theodor Storm
Читать онлайн книгу.Hauke ihr den Arm entgegen: „Elke, gib mir die Hand darauf!“
Ein tiefes Rot schoss unter die dunkeln Brauen des Mädchens. „Warum? Ich lüg ja nicht!“ rief sie.
Hauke wollte antworten; aber sie war schon zum Stall hinaus, und er stand mit seiner Furke in der Hand und hörte nur, wie draußen die Enten und Hühner um sie schnatterten und krähten.
Es war im Januar von Haukes drittem Dienstjahr, als ein Winterfest gehalten werden sollte, „Eisboseln“ nennen sie es hier. Ein ständiger Frost hatte beim Ruhen der Küstenwinde alle Gräben zwischen den Fennen mit einer festen ebenen Kristallfläche belegt, so dass die zerschnittenen Landstücke nun eine weite Bahn für das Werfen der kleinen, mit Blei ausgegossenen Holzkugeln bildeten, womit das Ziel erreicht werden sollte. Tagaus, tagein wehte ein leichter Nordost: alles war schon in Ordnung; die Geestleute in dem zu Osten über der Marsch belegenen Kirchdorf, die im vorigen Jahre gesiegt hatten, waren zum Wettkampf gefordert und hatten angenommen, von jeder Seite waren neun Werfer aufgestellt; auch der Obmann und die Kretler waren gewählt. Zu letzteren, die bei Streitfällen über einen zweifelhaften Wurf miteinander zu verhandeln hatten, wurden allezeit Leute genommen, die ihre Sache ins beste Licht zu rücken verstanden, am liebsten Burschen, die außer gesundem Menschenverstand auch noch ein lustig Mundwerk hatten. Dazu gehörte vor allen Ole Peters, der Großknecht des Deichgrafen. „Werft nur wie die Teufel“, sagte er; „das Schwatzen tu ich schon umsonst!“
Es war gegen Abend vor dem Festtag; in der Nebenstube des Kirchspielskruges droben auf der Geest war eine Anzahl von den Werfern erschienen, um über die Aufnahme einiger zuletzt noch Angemeldeten zu beschließen. Hauke Haien war auch unter diesen; er hatte erst nicht wollen, obschon er seiner wurfgeübten Arme sich wohl bewusst war, aber er fürchtete, durch Ole Peters, der einen Ehrenposten in dem Spiel bekleidete, zurückgewiesen zu werden; die Niederlage wollte er sich sparen. Aber Elke hatte ihm noch in der elften Stunde den Sinn gewandt. „Er wird’s nicht wagen, Hauke“, hatte sie gesagt; „er ist ein Tagelöhnersohn; dein Vater hat Kuh und Pferd und ist dazu der klügste Mann im Dorf!“
„Aber, wenn er’s dennoch fertigbringt?“
Sie sah ihn halb lächelnd aus ihren dunkeln Augen an. „Dann“, sagte sie, „soll er sich den Mund wischen, wenn er abends mit seines Wirts Tochter zu tanzen denkt!“ – Da hatte Hauke ihr mutig zugenickt.
Nun standen die jungen Leute, die noch in das Spiel hineinwollten, frierend und fußtrampelnd vor dem Kirchspielskrug und sahen nach der Spitze des aus Felsblöcken gebauten Kirchturms hinauf, neben dem das Krughaus lag. Des Pastors Tauben, die sich im Sommer auf den Feldern des Dorfes nährten, kamen eben von den Höfen und Scheuern der Bauern zurück, wo sie sich jetzt ihre Körner gesucht hatten, und verschwanden unter den Schindeln des Turmes, hinter welchen sie ihre Nester hatten; im Westen über dem Haff stand ein glühendes Abendrot.
„Wird gut Wetter morgen!“ sagte der eine der jungen Burschen und begann heftig auf und ab zu wandern; „aber kalt! kalt!“ Ein zweiter, als er keine Taube mehr fliegen sah, ging in das Haus und stellte sich horchend neben die Tür der Stube, aus der jetzt ein lebhaftes Durcheinanderreden herausscholl; auch des Deichgrafen Kleinknecht war neben ihn getreten. „Hör, Hauke“, sagte er zu diesem; „nun schreien sie um dich!“ Und deutlich hörte man von drinnen Ole Peters’ knarrende Stimme: „Kleinknechte und Jungens gehören nicht dazu!“
„Komm“, flüsterte der andre und suchte Hauke am Rockärmel an die Stubentür zu ziehen, „hier kannst du lernen, wie hoch sie dich taxieren!“
Aber Hauke riss sich los und ging wieder vor das Haus. „Sie haben uns nicht ausgesperrt, damit wir’s hören sollen!“ rief er zurück.
Vor dem Hause stand der dritte der Angemeldeten. „Ich fürcht, mit mir hat’s einen Haken“, rief er ihm entgegen; „ich hab kaum achtzehn Jahre; wenn sie nur den Taufschein nicht verlangen! Dich, Hauke, wird dein Großknecht schon herauskreteln!“
„Ja, heraus!“ brummte Hauke und schleuderte mit dem Fuße einen Stein über den Weg; „nur nicht hinein!“
Der Lärm in der Stube wurde stärker; dann allmählich trat eine Stille ein; die draußen hörten wieder den leisen Nordost, der sich oben an der Kirchturmspitze brach. Der Horcher trat wieder zu ihnen. „Wen hatten sie da drinnen?“ frug der Achtzehnjährige.
„Den da!“ sagte jener und wies auf Hauke, „Ole Peters wollte ihn zum Jungen machen; aber alle schrien dagegen. ‚Und sein Vater hat Vieh und Land‘, sagte Jeß Hansen. ‚Ja, Land‘, rief Ole Peters, ‚das man auf dreizehn Karren wegfahren kann!‘ – Zuletzt kam Ole Hensen. ‚Still da!‘ schrie er; ‚ich will’s euch lehren: sagt nur, wer ist der erste Mann im Dorf?‘ Da schwiegen sie erst und schienen sich zu besinnen; dann sagte eine Stimme: ‚Das ist doch wohl der Deichgraf!‘ Und alle anderen riefen: ‚Nun ja, unserthalb der Deichgraf!‘ – ‚Und wer ist denn der Deichgraf?‘ rief Ole Hensen wieder; ‚aber nun bedenkt euch recht!‘ – – Da begann einer leis zu lachen, und dann wieder einer, bis zuletzt nichts in der Stube war als lauter Lachen. ‚Nun, so ruft ihn‘, sagte Ole Hensen; ‚ihr wollt doch nicht den Deichgrafen von der Tür stoßen!‘ Ich glaub, sie lachen noch; aber Ole Peters’ Stimme war nicht mehr zu hören!“ schloss der Bursche seinen Bericht.
Fast in demselben Augenblicke wurde drinnen im Hause die Stubentür aufgerissen, und: „Hauke! Hauke Haien!“ rief es laut und fröhlich in die Nacht hinaus.
Da trabte Hauke in das Haus und hörte nicht mehr, wer denn der Deichgraf sei; was in seinem Kopfe brütete, hat indessen niemand wohl erfahren.
– – Als er nach einer Weile sich dem Hause seiner Herrschaft nahte, sah er Elke drunten am Heck der Auffahrt stehen, das Mondlicht schimmerte über die unermessliche weißbereifte Weidefläche. „Stehst du hier, Elke?“ frug er.
Sie nickte nur. „Was ist geworden?“ sagte sie; „hat er’s gewagt?“
– „Was sollt er nicht!“
„Nun, und?“
– „Ja, Elke; ich darf es morgen doch versuchen!“
„Gute Nacht, Hauke!“ Und sie lief flüchtig die Werfte hinan und verschwand im Hause.
Langsam folgte er ihr.
Auf der weiten Weidefläche, die sich zu Osten an der Landseite des Deiches entlangzog, sah man am Nachmittag darauf eine dunkle Menschenmasse bald unbeweglich stillestehen, bald, nachdem zweimal eine hölzerne Kugel aus derselben über den durch die Tagessonne jetzt von Reif befreiten Boden hingeflogen war, abwärts von den hinter ihr liegenden langen und niedrigen Häusern allmählich weiterrücken; die Parteien der Eisbosler in der Mitte, umgeben von alt und jung, was mit ihnen, sei es in jenen Häusern oder in denen droben auf der Geest, Wohnung oder Verbleib hatte; die älteren Männer in langen Röcken, bedächtig aus kurzen Pfeifen rauchend, die Weiber in Tüchern und Jacken, auch wohl Kinder an den Händen ziehend oder auf den Armen tragend. Aus den gefrorenen Gräben, welche allmählich überschritten wurden, funkelte durch die scharfen Schilfspitzen der bleiche Schein der Nachmittagssonne; es fror mächtig, aber das Spiel ging unablässig vorwärts, und aller Augen verfolgten immer wieder die fliegende Kugel, denn an ihr hing heute für das ganze Dorf die Ehre des Tages. Der Kretler der Parteien trug hier einen weißen, bei den Geestleuten einen schwarzen Stab mit eiserner Spitze; wo die Kugel ihren Lauf geendet hatte, wurde dieser, je nachdem, unter schweigender Anerkennung oder dem Hohngelächter der Gegenpartei in den gefrorenen Boden eingeschlagen, und wessen Kugel zuerst das Ziel erreichte, der hatte für seine Partei das Spiel gewonnen.
Gesprochen wurde von all den Menschen wenig; nur wenn ein Kapitalwurf geschah, hörte man wohl einen Ruf der jungen Männer oder Weiber; oder von den Alten einer nahm seine Pfeife aus dem Mund und klopfte damit unter ein paar guten Worten den Werfer auf die Schulter: „Das war ein Wurf, sagte Zacharies und warf sein Weib aus der Luke!“ oder: „Sowarf dein Vater auch; Gott tröst ihn in der Ewigkeit!“ oder was sie sonst für Gutes sagten.
Bei seinem ersten Wurfe war das Glück nicht mit Hauke gewesen: als er eben den Arm hinten ausschwang, um die Kugel fortzuschleudern,