Sophienlust Staffel 15 – Familienroman. Susanne Svanberg
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Inhalt
Wir beide brauchen Zärtlichkeit
Trotz des geöffneten Fensters herrschte in dem Eisenbahnabteil drückende Schwüle. Betti, das Hausmädchen von Andrea von Lehn, atmete insgeheim auf, als sie merkte, dass sich die vierköpfige Familie, die bisher das Geschehen in dem kleinen Raum diktiert hatte, offensichtlich ihrem Reiseziel näherte. Das Familienoberhaupt suchte die Koffer und die übrigen Gepäckstücke zusammen und ermahnte die beiden Söhne, die herumliegenden Reste von Äpfeln sowie andere Überbleibsel des Reiseproviants wegzuräumen.
Als die vier das Abteil verlassen hatten, kam es Betti beinahe leer vor. Außer ihr war jetzt nur noch eine junge Frau mit einem Kind da. Das Kind, ein ungefähr drei- bis vierjähriges Mädchen, hatte sich an die Mutter geschmiegt und schlief. Betti wunderte sich, dass das Kind schlafen konnte, denn die beiden Jungen hatten einen beträchtlichen Lärm vollführt. Doch nun war außer dem Rattern der Räder kein Geräusch mehr zu vernehmen.
Betti erhob sich, um ihren Platz zu wechseln. Sie setzte sich ans Fenster und blickte hinaus auf die vorbeifliegenden Bäume und Häuser. Sie schämte sich ein wenig, dass sie gute Laune hatte. Wenn man von einem Begräbnis kam, hatte man schließlich nicht heiter, sondern traurig zu sein. Aber Betti konnte beim besten Willen keine große Trauer wegen des Ablebens ihrer Großtante Therese empfinden. Erstens hatte besagte Großtante das hohe Alter von sechsundachtzig erreicht und zweitens hatte Betti ihr nicht besonders nahe gestanden, sodass sie die Tante in den letzten Jahren kaum zu Gesicht bekommen hatte. Aber trotzdem hatte Großtante Therese ihr ihre gesamten Ersparnisse vermacht. Es handelte sich dabei zwar nicht um eine große Summe, aber es war so viel, dass Betti sich rosigen Träumen hingab. Sie sah sich in einer hübsch eingerichteten Wohnung herumwirtschaften – oder vielleicht sogar, wenn sie Glück hatte, in einem kleinen Häuschen.
Was wohl Helmut dazu sagen wird?, überlegte das Hausmädchen. Sicher wird er sich freuen, obwohl … Unbewusst runzelte Betti die Brauen. Als sie vom Tod ihrer Großtante erfahren und Frau von Lehn um einen kurzen Urlaub gebeten hatte, um zu dem Begräbnis fahren zu können, hatte Helmut Koster darauf bestanden, seine Verlobte zu begleiten. Es war sehr schwer gewesen, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Jetzt, im Nachhinein, war Betti sich noch immer nicht klar darüber, warum sie Helmuts Begleitung eigentlich abgelehnt hatte. Sie hatte vorgegeben, ihn nicht von seiner Arbeit abhalten zu wollen, aber sich selbst gegenüber gestand sie ein, dass sie nur ein Vorwand gewesen war.
Konnte es sein, dass sie einfach eine Abneigung dagegen hatte, mit Helmut ein paar Tage allein zu sein? Betti schüttelte über sich selbst den Kopf. Was wollte sie denn? Helmut liebte sie, und sie erwiderte seine Liebe.
»Mami, Mami, sind wir bald da?« Die Stimme des kleinen Mädchens, das soeben erwacht war, riss Betti aus ihren Grübeleien.
»Nein, wir sind noch nicht da, schlaf weiter«, erwiderte die Mutter.
»Ich mag nicht mehr schlafen. Ich bin ganz munter. Lass mich zum Fenster. Ich möchte hinausschauen.«
Die Kleine kletterte auf den Sitz gegenüber von Betti und streifte dabei deren Rock.
»Kannst du nicht aufpassen, Evi?«, wurde sie von ihrer Mutter ermahnt. »Du machst das Kleid der Dame schmutzig.«
Evi warf Betti einen schuldbewussten Blick zu, doch diese meinte lächelnd: »Es ist nicht so schlimm. Falls mein Rock wirklich schmutzig geworden ist, kann ich ihn leicht waschen. Schau einmal, siehst du die beiden Pferde auf der großen Wiese?«
»O ja. Schade, jetzt sind sie weg.«
»Ja, der Zug fährt recht schnell«, erwiderte Betti.
»Mami, hast du die beiden Pferde gesehen?«
»Nein«, entgegnete Evis Mutter mit gelangweilter Stimme.
»Eines war schwarz, das andere braun«, erzählte Evi. »Leider war kein weißes dabei. Mir gefallen weiße Pferde am besten. Dir auch?«
»Ja, ja«, sagte Evis Mutter.
»Weißt du noch, als wir bei dem Mann, dem … Wie hat der Mann geheißen?«
»Ach, lass mich in Frieden! Wie soll ich wissen, an wen du denkst?«
»An den Mann, der zwei weiße Pferde im Stall hatte. Kannst du dich an ihn erinnern? Wir waren mit Vati dort.«
»Hör endlich auf, von weißen Pferden zu faseln. Wen interessiert denn das?«
Betti sah die junge Frau erstaunt an. Sie konnte sich deren Verhalten nicht recht erklären. Warum war sie so ungeduldig mit dem Kind? Evi war ein niedliches kleines Mädchen mit dunklen Locken und blauen Augen. Wenn das mein Kind wäre, dachte Betti, wäre ich stolz darauf und würde ihm keine so unfreundlichen Antworten geben.
Evi schien jedoch an die abweisende Art ihrer Mutter gewöhnt zu sein, denn sie plauderte unbekümmert weiter: »Ich mag auch Kühe gern. Am liebsten habe ich Rehe.«
»So?«, fragte Betti. »Rehe sieht man nur selten. Sie sind sehr scheu und laufen davon.«
»O nein. Ich habe schon oft im Wald welche gesehen. Früher, als wir noch bei Vati wohnten.« Ein Schatten huschte über das Gesicht des Kindes. »Jetzt wohnen wir leider nicht mehr im Wald«, fügte es traurig hinzu.
»Rede keinen Unsinn zusammen«, wies die Mutter ihre kleine Tochter zurecht. »Wozu brauchst du einen Wald? Sei froh, dass wir in der Stadt eine so günstige Wohnung gefunden haben.«
Evi sagte nichts mehr, aber ihr Gesichtsausdruck verkündete deutlich, dass sie anderer Ansicht war als ihre Mutter.
Das Kind tat Betti ein wenig leid. Deshalb sagte sie: »Ich kann gut verstehen, dass du gern im Grünen wohnen würdest. Mir geht es genauso, aber ich habe das Glück, bei einer Familie zu leben, die ein Haus auf dem Land besitzt.«
Evi hörte interessiert zu. »Sind das deine Eltern?«, fragte sie.
»Nein«, erwiderte Betti, »ich habe keine Eltern mehr.«
»Du Arme!«, rief Evi spontan aus. »Ich habe wenigstens noch meine Mami. Schöner würde es aber sein, wenn auch Vati …«
»Musst du unbedingt unsere Familienangelegenheiten vor Fremden ausplaudern?«, wurde sie von ihrer Mutter unterbrochen.
»Ich plaudere nichts aus«, verteidigte sich Evi. »Ich wollte der Frau nur von meinem