Der Mitläufer. Wolfgang Mock

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Der Mitläufer - Wolfgang Mock


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sie ihr Geld verdiene, war Chloe ausgewichen. Selbst bei der Frage, ob Alexander denn von ihrem Vorhaben wisse, blieb sie vage, nahm unvermittelt fünf Paar Schlüssel aus der Handtasche und reichte sie Chrissie. »Mein Vater kann das Bett nicht mehr verlassen. Außerdem geht er nicht mehr ans Telefon. Der Schlüssel mit dem runden Kopf ist für die Wohnungstür, der eckige für den Hauseingang.« Die Adresse stand auf einem kleinen Schlüsselanhänger.

      Von ihrer Assistentin hatte sie sich die Telefonnummern heraussuchen lassen, dann Meta, Doris und Thomas angerufen. Bei Frank hatte sie gezögert, und es hatte gedauert, bis sie ihn in seiner Redaktion erreichte. Als er abhob, war seine Stimme kühl, ablehnend, man spürte die Routine, die er im Abwimmeln von Menschen besaß.

      Aber dann.

      »Chrissie, bist du das?« Fast ein Jubelschrei.

      Über eine Stunde telefonierten sie, kramten in Erinnerungen. Kein einziges Wort darüber, dass sie ihn damals verlassen hatte, Hals über Kopf aus der Wohngemeinschaft ausgezogen war.

      »Schön, dass du angerufen hast. Hat mich wirklich sehr gefreut. Sehr«, hatte Frank gesagt, bevor sie auflegten.

      Wie die anderen, so war auch Frank einverstanden gewesen. Seitdem hatten sie Alexander in regelmäßigen Abständen besucht, an seinem Bett gesessen, ihm Geschichten erzählt und seinem rasselnden Atem und dem Schnaufen der Beatmungsgeräte zugehört.

      Bis zu seinem Tod. Der zwar abzusehen war, sie dann aber doch überraschte. Er hatte etwas Unvermitteltes gehabt. Am nächsten Tag hätte Alexander ins Krankenhaus kommen sollen.

      Chrissie schloss die Bürotür hinter sich, lief die Treppe zu ihrer darüber liegenden Wohnung hinauf und zog sich um. Obwohl die Hitze durch die offenen Fenster der kleinen Villa drückte, war ihre Haut völlig trocken. Sie liebte die Hitze, so wie sie Schnee und Kälte mied. Ihre Haare waren dicht und gelockt wie vor vierzig Jahren, nur fast weiß. Sie nahm einige schwarze Kleider aus dem Schrank, hielt sie vor den Körper, entschied sich schnell für eins mit weiten, halblangen Ärmeln, damit die Arme nicht so nackt waren auf dem Friedhof. Dabei fiel ihr Blick in das Dunkel des Schranks. Einen Augenblick zögerte sie, dann kniete sie sich hin, drückte die Jacken und Kostüme auseinander, verschwand mit dem Oberkörper zwischen ihnen und tauchte schließlich wieder auf, in der Hand ein Paar schwarze, hochhackige Schuhe mit enormen Plateausohlen. Klein wie sie war, hatten ihr die Schuhe ein Gefühl der Größe vermittelt, von Unbesiegbarkeit. Jahrzehnte schon hatte sie sie nicht mehr getragen, sie waren tückisch. Selbst nachdem sie so schwer damit umgeknickt war, dass sie zwei Monate einen Gips um ihren Knöchel tragen musste, hatte sie sich nicht überwinden können, die Schuhe wegzuwerfen. Noch heute schmerzte der Knöchel gelegentlich. Sie zog die Schuhe an, sie passten. Sie würde vorsichtig sein.

      Das Kleid über dem Arm, die Schuhe an den Füßen, ging sie ins Nebenzimmer, fuhr ihren Laptop hoch, schloss für einen Moment die Augen, atmete durch und begann, eine lange Mail an ihre beiden Söhne zu schreiben, eine Mail für beide, lieber Felix, lieber Marcus.

      Mit den Gedanken war sie nicht bei der Sache. Hin und wieder, was sie selbst überraschte, hatte sie sich nach dem Telefonat mit Frank und auch später noch, als sie sich bei Alexander über den Weg liefen, bei dem Gedanken ertappt, wie es wohl gewesen wäre, hätte sie ihn damals nicht verlassen. Wie es heute wäre mit Frank.

      Sie zog das Kleid über, schminkte sich und ging wieder hinunter ins Büro. Anne, ihre treueste Mitarbeiterin, wartete schon auf sie. Zügig gingen sie durch, was für heute anstand, vor allem die Beratungsangebote an eine Handvoll Startups und zwei Forschungseinrichtungen.

      »Die Schuhe sehen sexy aus«, sagte Anne, »Plateausohlen sind schwer im Kommen.«

      »Die stammen aus den Siebzigern.«

      »Neid«, lachte Anne.

      »Zu übertrieben für eine Beerdigung?«

      »Ach wo.«

      Chrissie nahm die Trauerkarte von ihrem Schreibtisch, schaute auf die Adresse des Friedhofs und verließ das Büro. Auf dem Weg durch den Vorgarten dachte sie noch, dass die Pflanzen Wasser brauchten. Als sie sich am Tor zu der kleinen Gründervilla mit ihrem Büro und ihrer Wohnung umwandte, war ihr einen Augenblick, als verabschiede sie sich von dem Haus. Dann verscheuchte sie den Gedanken, stieg in ihren Alfa, klemmte die Todesanzeige hinter die Sonnenblende und machte sich auf den Weg.

      Für einen Augenblick fragte sie sich, ob wohl Moretti auf dem Friedhof sein würde. Aber warum sollte er?

      Morgens um fünf

      Ich hatte mich gefreut, als Chrissie anrief. Wirklich gefreut. Nach so langer Zeit. Und ich war auch sofort dabei, als es um die Betreuung von Alexander ging. Obwohl ich mehr als genug Termine hatte. Aber ich war gern dabei. Nicht nur, weil ich so Chrissie wiedersehen konnte, auch wegen Alexander. Vor allem wegen Alexander.

      Ich blinzelte und hörte den Vögeln zu. Mit dem ersten Licht hatten sie angefangen zu lärmen. Die Vorhänge wehten leicht vor den offenen Fenstern. In ein, zwei Stunden würde die Wärme kaum mehr erträglich sein. Schrecklich, dachte ich, schrecklich, das einmal nicht mehr erleben zu können. Ich streckte mich, und für einen Moment kam ich dem alten Gefühl, bis ich vierzig wurde, nah: dem Gefühl, unsterblich zu sein. Das Kreischen der in den Hinterhöfen um ihr Revier kämpfenden Vögel wurde lauter, ich warf die dünne Bettdecke zur Seite. Entsetzlich, dass das einmal vorbei sein sollte.

      Malcolm McLaren, überlegte ich faul, oder Messiaen? Walking with Satie oder Réveil des Oiseaux? Ich stieg aus dem Bett, entschied mich für McLarens Walking with Satie und legte mich wieder hin. Leise summte ich das Lied mit, während McLaren durch das frühlingsbelebte Paris streunte.

      Ach, Chrissie.

      Ich dämmerte wieder ein, aber gegen den Lärm der Vögel kam ich nicht an. Ein Zeichen, sagte ich mir, stand auf, stellte mich ans Fenster, wunderte mich, wie wenig Vögel überhaupt zu sehen waren, freute mich über die Andeutungen einer Erektion und ließ meine Gedanken von der Leine. Sie sprinteten direkt zu Cheyenne. Cheyenne. Stolze Indianerin. Von wegen. Brotverkäuferin auf dem Markt. Die letzten Wochen, als mich die Hitze früh aus dem Bett trieb, hatte ich immer, wenn Zeit war, mein Brot bei ihr gekauft. Ich ließ mir immer eine besondere Frischhaltetüte geben, die extra kostete und in einem Regal tief unten hinter ihr lag. Wenn Cheyenne sich danach bückte, flatterte ein Tattoo von geflügelten Schlangen aus ihrer knappen Hose. So eine Schlange, das wär’s. Zumal sich bei mir die Überzeugung festgesetzt hatte, dass Cheyenne sich besonders lange bückte, um den geflügelten Fabelwesen alle Zeit der Welt zu lassen, aus ihrer Hose unter das Hemdchen zu flattern. Ich glaubte, einen gewissen Spott in ihren Augen zu sehen, als sie sich aufrichtete und ich ihrem Blick etwas fahrig auswich.

      Ich hielt den Kopf unter die Dusche und zog mein Fahrradtrikot an. Was mir schon jetzt zu warm vorkam. Ich goss lauwarme Milch und Ahornsirup über eine Schale mit Dinkel-Cornflakes. Dann holte ich Alexanders Todesanzeige, lehnte sie an die Sirupflasche und aß meine Cornflakes.

      Alexander war gestorben, wie er es wollte. Sein Ende hatte er selbst bestimmt. Mich hatte das viel Kraft gekostet, Panikattacken, schweißgebadete Träume – bis heute. Die Beerdigung würde dem ein Ende machen. Meine Angst war verschwunden. Beerdigung hieß auch, dass sie den Leichnam freigegeben hatten. Wenn es auch gedauert hatte, was meine Nerven erheblich strapazierte. Metas wohl auch. »Frank«, hatte sie gestern noch am Telefon gesagt, »Frank, es ist vorbei.« Danach war mir so leicht wie lange nicht.

      Ich nahm noch einen Schluck warmen Roibos-Tee, was mir einen Schweißausbruch bescherte. Alle würden sie da sein. Gemeinsam hatten wir Alexander für die Zeit, die ihm noch geblieben war, begleitet. Jetzt würden wir uns auch gemeinsam von ihm verabschieden. Wahrscheinlich würde es das letzte Mal sein, dass die Wohngemeinschaft vollzählig war. Selbst wenn einer nur als Toter dabei war.

      Ich füllte die Trinkflasche mit Apfelschorle, warf noch eine Magnesium-Tablette hinein und steckte mir die Flasche ins Trikot. Mein Mountainbike, das ich im vergangenen Jahr in einem dieser hypermodernen Fahrradgeschäfte gegen einen ordentlichen Haufen Geld eingetauscht hatte, hing eins


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