Der Mitläufer. Wolfgang Mock

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Der Mitläufer - Wolfgang Mock


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machten ein klackendes Geräusch auf dem Parkett, als ich das Fahrrad vom Haken nahm und die Treppe runterlief.

      Auf der Straße war die Hitze des Tages schon zu ahnen. Die Uhr zeigte kurz vor fünf. Kein Mensch zu sehen. Die Stille wurde verstärkt durch das ferne Echo von Schritten. Ich hatte Zeit. Gegen zwölf würde sowieso alles vorbei sein. Alexander hatte immer einen Riesenkult um dieses »fünf vor zwölf« gemacht. Für ihn war es eigentlich immer »fünf vor zwölf« gewesen.

      Inständig hoffte ich, dass sich das Begräbnis heute nicht so in die Länge ziehen würde. In den kommenden Tagen stand ein Treffen mit der Geschäftsleitung an. Großes zeichnete sich ab. Verlegerischer Geschäftsführer, so etwas in der Art. Das könnte ich noch ein paar Jahre über die normale Altersgrenze hinaus machen, dann mit dem Bundesverdienstkreuz aufhören. Jetzt konnte auch Alexander da nicht mehr reingrätschen.

      Ich schwang mich aufs Rad, aber irgendetwas war anders. Ich griff mir an den Schädel. Der Helm. Ich hatte meinen Helm vergessen. Das war mir noch nie passiert. Ich war nicht bei der Sache, Alexander beschäftigte mich. Alexander in den Siebzigern. Und meine unberechenbare Lebensphase. Von der ich immer gehofft hatte, dass niemand etwas wusste. Was sich aber als falsch erwiesen hatte. Ich würde aufpassen müssen. Aber es ist ja vorbei, endgültig vorbei, murmelte ich vor mich hin. Mit Alexander war das endgültig beerdigt. Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach und wie ich plötzlich den Tränen nah war.

      Unterwegs würde ich wirklich auf mich aufpassen müssen.

      Ich stellte das Rad zurück in den Hausflur, lief die Treppe hoch. Schon vor der Wohnungstür hörte ich es. Als ich aufschloss, stand ich unversehens in einem Geflatter und Gezwitscher von drei, vier Spatzen, die sich an dem wehenden Vorhang vorbei in die Wohnung gewagt hatten und den Weg zurück nicht fanden. Ich schloss eine Zimmertür nach der anderen, bis ich sie ins Schlafzimmer getrieben hatte, zog den Vorhang zur Seite, und Spatz für Spatz flatterte ins Freie.

      Ich holte meinen Helm, lief die Treppe runter. Doch dort, wo ich das Rad hingestellt hatte, glänzte nur der Marmor des Treppenhauses. Ich riss die Haustür auf, die Straßen waren leer.

      »Scheiße! Verfluchte Scheiße!«, schrie ich in den Morgen. Nahm das denn nie ein Ende? Jahre ohne richtigen Schlaf. Immer die Angst, dass sie mich aufstöberten, dass es vorbei war mit allem. Und dann Alexander mit seinem unsäglichen Anliegen. Der alles wieder hochbrachte. Die ewige Angst, die Panik. Die Augen von Wenzel, als er mir die Knarre in die Hand drückte. Und jetzt, wo alles vorbei war, klaute mir irgend so ein Arschloch mein neues Rad. Wenzels Knarre. Wenn ich sie jetzt in der Hand hielte, würde ich den Idioten vom Rad schießen. In der Verfassung war ich. Ich zog die Nase hoch. Vermutlich ja doch nicht. Ganz sicher nicht. Außerdem war er längst weg.

      Ich ließ mich auf die Stufen fallen, den behelmten Kopf in den Händen, und weinte.

      Nichts hat mehr Bestand

      Thomas wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Auge. Selbst das wenige, das von damals noch Bestand zu haben schien, löste sich auf. Vorbei, dachte Thomas, so vieles ging spurlos vorbei. Ohne jedes Drama, zumindest ohne großes.

      In der Wohnung über ihm hörte er Romy rumoren. Hier hatte etwas sein Ende gefunden, so unaufgeregt, dass es Tage dauerte, bis er spürte, was für ein Schreck ihm in die Glieder gefahren war. Vor drei Monaten, nach mehr als vierzig gemeinsamen Jahren, war sie eines Morgens aufgestanden, starrte vor sich hin und sagte mit leiser Stimme, sie ertrage ihn nicht mehr. Genau das hatte sie gesagt: »Ich ertrage dich nicht mehr.«

      Thomas erfuhr nie, ob es etwas damit zu tun hatte, aber am Tag zuvor hatten sie Alexander in seiner Wohnung besucht, der spöttisch unter seiner Atemmaske hervorlächelte und zwischen zwei Hustenanfällen gekrächzt hatte: »Ihr geht wohl nirgendwo allein hin.« Einer seiner Sprüche, dachte Thomas, um Haltung bemüht angesichts des nahen Endes, so etwas in der Art. Was ihn aber auch irritierte.

      Romy schien wie vom Blitz getroffen. Hatte einen Moment ruhig neben Alexanders Bett gestanden, ihn angesehen und dann angefangen, sich mit beiden Händen das Gesicht zu reiben, mit aller Kraft. Dann hatte sie ihre schmalen Schultern gestrafft und sich die kurzen, rostroten Haare aus der Stirn gestrichen. Am Abend war sie wortlos früh zu Bett gegangen, und dann am nächsten Morgen fiel der Satz. »Ich ertrage dich nicht mehr.« Sie hatte sich das nicht überlegt, es war nicht das Ergebnis langen Nachdenkens, es war eine Offenbarung. So hörte es sich für Thomas an. »Ich ertrage dich nicht mehr.« Und eine Offenbarung ließ sich nicht erklären, sie hatte keine Logik.

      Auch ihn hatte Alexanders Spruch überrascht. Überrascht und getroffen. Weniger der Spruch als solcher, eher, wie ruhig er ihn hinnahm. Kaum, dass er sich über den glattrasierten Schädel strich, wie er es auch sonst in Momenten der Nachdenklichkeit tat. Es hatte ihn schon ins Herz getroffen, aber er schien auf eine merkwürdige Art vorbereitet. Dabei war nichts vorgefallen. Sie hatten vierzig Jahre nebeneinanderher gelebt. Es gab nichts, was eine solche Zuspitzung begründen konnte. Es war schlicht die Zeit, die vergangen war. Mochte sein, dass es auch das war, dass nie etwas vorfiel. Nur zweierlei wurde ihm bewusst: dass er ratlos war und dass eine Zeit des Abschiednehmens begonnen hatte.

      Seit diesem Satz waren sie sich aus dem Weg gegangen, hatten ihre Maisonette-Wohnung zweigeteilt: Romy bekam den oberen Teil, den sie sofort umbauen ließ; Thomas war in der unteren Wohnung geblieben und konnte nach wenigen Tagen große Fragezeichen in den Staub malen, der von der Baustelle über ihm durch alle Ritzen in die untere Wohnung drang.

      Nicht ein einziges Mal sprachen sie über den Grund der Trennung. Thomas fragte nicht, sie blieb verschlossen. Es gab wohl einfach keinen Grund. Das war der Schluss, den er aus ihrem Schweigen zog. Und es gab keinen Anlass, sah man von Alexanders spöttischer Bemerkung ab. Auch warum sie sich keine Wohnung weit weg von ihm gesucht und auf all die Umbauten verzichtet hatte, fragte er sie nicht. Das zu verstehen, fiel ihm am schwersten.

      Thomas lehnte sich ans Fenster, wollte seine Stirn kühlen, doch die Glut der frühen Morgensonne hatte die Scheiben bereits so aufgeheizt, dass er zurückzuckte.

      Es klingelte – Romy. Sie ging an ihm vorbei in das Zimmer, das bis vor wenigen Monaten ihr gemeinsames Schlafzimmer gewesen war und das er nun als Arbeits- und Schlafzimmer nutzte. Sie holte ein halbes Dutzend schwarzer Kleider und Kostüme aus dem Schrank, warf sie aufs Bett. »Tut mir leid, mein neuer Schrank ist immer noch nicht da.« Sie schaute sich die Kleider an, zog ihr T-Shirt aus und eine der schwarzen Blusen über, dazu einen passenden Rock.

      Thomas sah den Schweiß auf ihrem Hals, schmale Rinnsale aus dem Haaransatz, die sich in ihrer Drosselgrube sammelten und dann in Schüben ihre Brust hinunterliefen.

      »Schreckliches Wetter«, sagte sie.

      Unversehens erfasste ihn ein leichter Schwindel, und er musste sich an die Wand lehnen. Er schaute sie an, in ihrem Blick lag etwas, das er bei ihr noch nie gesehen hatte: unverstellte Abneigung.

      »Wir sind spät dran. Lass uns pünktlich sein. Wenigstens dieses eine Mal.«

      Sein Schwindel verstärkte sich, er senkte den Kopf und blickte auf seine Hände. Feucht fühlten sie sich an. Thomas verschränkte die Finger, ließ es wieder, als ihm auffiel, dass es so aussehen musste, als bete er. Ihm war, als verdunkele sich das Zimmer, als lasse eine plötzliche Stromschwankung die Lampen flackern.

      Von all seinen Träumen hatte er sich verabschiedet, während in der Wohnung über ihm die Handwerker lärmten und Baustaub seine Wohnung überzog wie Mehltau. Eine Schulleitung, oder sogar die letzten Berufsjahre im Bildungsministerium, vielleicht, wer weiß, als Abteilungsleiter. Hinweise gab es, geflüsterte Bemerkungen zwischen Tür und Angel, das anerkennende Händeschütteln eines Kabinettsmitglieds, ein längeres Gespräch mit der Ministerin in ihrem Büro. Mit anschließendem »Gruß an Ihre Frau«. Er wusste, dass ein Angebot auf dem Weg war. Aber er wollte es nicht mehr.

      Dagegen suchte ihn immer häufiger die Vergangenheit heim, obsessiv bisweilen. So erinnerte er sich bei bestimmten Arbeiten, wenn er etwa eine Tasse abwusch, wie er als Student in einem übervollen Seminar eine Rede über den Satz hielt: »Die Revolution muss mit der Revolutionierung der


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