Und die Titanic fährt doch. Ulrich Land

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Und die Titanic fährt doch - Ulrich Land


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wohin mit sich, stöckeln auf dem Parkett der Empfangshalle des fremden Schiffs von einem Fuß auf den andern und sehen ihren Männchen entgeistert zu, wie diese umgehend wieder Haltung angenommen haben und unterm zitternden Zylinder wild gestikulierend den nächstbesten Steward anraunzen, er möge jetzt sofort und zwar auf der Stelle directement das Gepäck von diesem elenden todgeweihten Äppelkahn herüberschaffen. Allez allez! Man gedenke nicht, eine einzige weitere Nacht, geschweige denn einen weiteren Tag ohne die Leuten ihres Standes zustehenden Annehmlichkeiten zu verbringen. Was wisse er denn schon, welche Schätze und Kleinodien in den Koffern der gnädigsten Gattin ruhten! Er glaube doch wohl nicht, dass er mit seinem kümmerlichen Stewardsalär dafür werde aufkommen können, wenn all die unschätzbaren Werte an Bord dieser bleiernen schwarzen Ente mit eingedrücktem Schnabel in den Fluten versinken würden. Nein, diese Dinge hätten ja wohl Vorrang vorm dreisten Geplärr irgendwelcher runtergekommenen Jammergestalten und Auswanderergrüppchen aus der dritten Klasse.

      Natürlich kann ich kein Wort verstehen, aber man braucht die Gesten nur eins zu eins zu übersetzen. Merkwürdig, Bilder ohne Ton, das verstärkt die Wirkung enorm.

      Erste Klasse, Frauen und Kinder aus der zweiten Klasse, und wenn dann noch Platz ist auf der Olympic, ein paar von der dritten – aber, he, was ist mit den Verletzten? Ist doch die Hauptsache, dass die – aber nichts da! Hier von der Krankenstation jedenfalls holen sie offenbar keinen hoch, um ihn an Bord des rettenden Dampfers zu verbringen. Würde ich doch mitbekommen. Logisch, auch so eine Olympic hat nur begrenzte Kapazitäten – zumal man die Erste-Klasse-Leute ja unmöglich, ganz und gar unmöglich in die Schlafräume der dritten Klasse abschieben kann –, angesichts dessen sind die Lebenden wichtiger als die Halbtoten. Versteht sich. Jedenfalls herrscht hier unten auf den Fluren tödliche Stille. Keine hektischen Schritte, kein Türenknallen, Tragbahrenangeecke, Nurse-Gemecker. Oder man hat, verdammt, hat man die Verletzten schon nach oben gebracht, als ich geschlafen hab? Dass ich die beim Luchsen in die Olympic-Empfangshalle nicht zu sehn kriege, sagt natürlich gar nichts. Die können sich eh nicht auf den Beinen halten, haben andere Sorgen als die Diademe ihrer Dame, müssen keine Stewards anpöbeln. Die werden direkt durchgereicht. Vermutlich in Kabinen gestopft, die Leute von der Crew räumen mussten. Egal, aber das heißt ja dann wohl – das heißt, ich – bin ich längst allein hier unten? Alle Kabinen drumrum ausgestorben? He! Hallo!! Ich will hier nicht als Einziger – das könnt ihr nicht machen! Ich bin Offizier, William McMaster Murdoch, Erster Offizier der Titanic! Gewesen. Aber trotzdem. Ihr könnt mich hier nicht mutterseelenallein versauern lassen!

      Allein mit diesen Idioten, die da immer wieder durch meinen Schädel flitzen, mich runterziehn in zweitausend Meter Tiefe und hundert Jahre nach vorne katapultieren. – He, Batman, halt einfach die Fresse!

      »Das wüsst‘ ich aber. Dafür bin ich schließlich hier. Yeah. Gekürt als der unsterbliche Titan, der die Genossen Leidensgenossen bei Laune hält. Und also werd‘ ich genau das perfekt besorgen. Kpow, Power ohne Ende.«

      Dann kümmer dich gefälligst um deine Leidens- und Zeitgenossen und lass mich in Ruhe mit deinem Schwachsinn!

      Und schon hör ich mich wieder »raus hier, ich muss raus hier« schreien. Aber, nichts! Keiner reagiert. Da kann ich mir die Pfoten wund bollern an der Tür. Rührt sich nichts da draußen auf dem Flur, kein Mucks. Die haben mich tatsächlich hier abgeschrieben. – He he!! – Hört mich denn keiner?! – Nein, Murdoch, dich hört keiner. – Verdammt und zugenäht, aber ich muss raus hier! Ich hab‘ keine Schuld. Ihr solltet mir vielmehr auf Knien danken, dass der Nachen die Nase noch überm Wasser hat. Stattdessen – mein Gott, ich krieg die Panik hier, das weiß doch jeder. Ich bin nicht gemacht für die Einsamkeit. War immer unter Menschen – allein hier rumsitzen und aufs Verstreichen der Zeit warten, da werd ich verrückt! Wahrscheinlich ist der halbe Schiffsbauch leer, vielleicht schon drei Viertel! Bloß noch ein paar handverlesene Leutchen, die notwendig sind, damit der Betrieb hier aufrechterhalten werden kann, notdürftig. Nur noch die Allernötigsten. Vierzig Heizer, fünfzehn Trimmer, eine Hand voll Ingenieure. Und die außer mir noch verbliebenen sieben Führungsoffiziere. Man darf gespannt sein, ob wenigstens die die Courage haben, nicht wie die Ratten das sinkende Schiff zu verlassen. Jedenfalls einstweilen nicht. – Mich hier verfaulen lassen als den letzten der Mohikaner, das könnt ihr doch nicht machen. Ich muss raus hier!

      Am Bullauge, da muss doch was zu machen sein. Durchs Bullauge raus, und drüben einfach das Tau von diesem Fender hoch zum Bootsdeck. Und ob die mich in dem Trubel da drüben als Titanicoffizier Murdoch erkennen – höchst unwahrscheinlich, so ohne Uniformjacke und alles. Kann ich mich garantiert unter die Zweite-Klasse-Passagiere mischen: verschüchterter Handlungsreisender in Sachen nautische Navigationsgerätschaften oder so was, irgendwas, wovon ich was verstehe. Bloß dass diese Schraubknebel vom Bullaugenglas, die sind so was von knochenhart angezogen! Ohne Werkzeug keine Chance. Ein Stuhlbein, wenn ich hier in der guten Stube wenigstens einen Stuhl hätte. Nur der Toilettenstuhl, und der ist aus Eisenrohr, alles steif und fest verschweißt. Das Bett ist verschraubt und in die Kabinenwand eingelassen, und die Waschschüssel gibt auch keine Brechstange her. Die – ja, das müsste gehn – die Schublade von der Spiegelkommode, die Rahmenlatten oder wie die Dinger heißen, bin schließlich kein Tischler. Trotzdem, das Zerlegen einer Schublade sollte mir gelingen. Rausreißen, zwei, drei satte Fußtritte, auseinanderzerren: stabiles Buchenholz! Wer sagt‘s denn. Bloß ein bisschen zu dick für die Öse des Knebels. Muss also doch die Waschschüssel dran glauben. Das Geschepper, Geklirre hört ja sowieso niemand. Wenn keiner da ist, kann auch keiner was hören. So, jetzt die größte Scherbe vom Rand, die mit der handschmeichelnden Wulst. Haha. Im Vergleich dazu kann man auf jedem Schnitzmesser, Stechbeitel, was weiß ich, nach Rom reiten! Einen halben Zentimeter von der Latte runterschaben; ja, halber Zentimeter müsste reichen.

      »Never, junger Mann, das hält nie und nimmer! Wenn Ihr geneigtes Gehör für einen Ratschlag aus den Tiefen des Nordatlantiks zugänglich ist.«

      Ein ganz entschiedenes: Nein! Und jetzt halt mich nicht auf, Blödmann ...

      »Batman ist mein Name, wenn‘s recht ist.«

      Lass mich einfach in Ruhe, ich hab‘ zu tun, muss mich ranhalten! – Du könntest mal mit anpacken, dämliches Hirngespinst, aber dafür bist du ja nicht zu gebrauchen. ›Power ohne Ende‹, dass ich nicht lache.

      Das gibt‘s doch nicht, was ist denn das für ‘n Holz? Mein Gott, ist doch alles nagelneu, müsste doch eigentlich … tut mir den Gefallen aber nicht. Ist die Schubladenlatte offenbar doch nicht als verlängerte Fensterklinke gedacht. Aber zwei, zwei von der Sorte! Zwei Latten parallel neben den Knauf legen und dann festknoten, hätte man Hebelwirkung genug. Sind zwar kürzer, die beiden Seitenlatten, aber dafür ja dann doppelt. – Jau, siehste! Man muss nur erfinderisch … meine Güte, ist die Luft kalt. Wunderbare Meeresluft, aber saukalt. Jetzt hör auf zu palavern! Das Fendertau – verdammt noch mal, wieso ist das so weit auf Abstand? War doch eben höchstens ein Meter oder zwei! Der, der wird größer, der Abstand, die legt grade ab – dieser Scheiß-Batman hat‘s doch geschafft, mich auszubremsen –, die Olympic legt ab. Hat schon abgelegt.

      - . -

       4

      Unsere Turbine läuft. Läuft wacker. Unüberhörbar. Wir tuckern elend langsam, aber tuckern vorwärts. Sechs Knoten, schätze ich mal. Etwas mehr als ein Viertel der Dienstgeschwindigkeit. Na ja, immerhin. Dann, warte, ja, dann dürften wir New York in sechs, eher sieben Tagen erreichen.

      Glutrote Wolkenbänder am Abendhimmel, orangefarbene Hochnebellaken ausgelegt zum Bleichen, Federn aus einem geplatzten Wolkenkissen haben sich planmäßig verteilt und sind zur Ruhe gekommen. Hier und da taumeln immer noch ein paar versprengte Eisbrocken im Wasser, warten träge auf ihr trauriges Ende. Ein breit auseinandergezogenes Trümmerfeld aus zerschlagenen Eisschollen. Verschnitt- und Versatzstücke in allen Größen und allen Weiß-türkis-grau-Schattierungen heben sich nur undeutlich vom grünen Wasser ab, das ansonsten immer noch wie mit einem Abzieher glattgezogen daliegt und dort, wo es nicht von Eiskadavern gestört wird, das selbstvergessene Farbenspiel der Dämmerung verdoppelt. Stille meilenweit. Jetzt schon seit Tagen. Fragt sich, wo sind die Nordmeerstürme hin? Das Wellengetöse, die Wolkentürme? Brauen die, zurückgezogen in irgendeine Teufelsküche, das


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