Und die Titanic fährt doch. Ulrich Land
Читать онлайн книгу.lassen. Wenn einer geistesgegenwärtig war, dann ...«, Phillips beißt seinem eigenen Satz den Schwanz ab, er hat scheint‘s die richtige Seite im Logbuch gefunden, streicht sie glatt, stellt sich steif und stramm hin und zitiert: »00:15 Uhr. CQD. Mayday. SOS. MGY. Position: 41°46‘ Nord, 50°14‘ West. SOS.« Damit schlägt er das Logbuch zu, rekapituliert jedoch weiter, ohne seine stramme Haltung zu lockern: »15. April 1912. Schnelldampfer Titanic, unsinkbar, Flaggschiff der White Star Line, auf Jungfernfahrt vor Neufundland havariert. Platten- und Plankenverbund steuerbordseitig vom Fuß eines Eisbergs zerstört. 2:20 Uhr Schiffszeit: Titanic nach nochmaligem senkrechten Aufbäumen endgültig ...«
»Moment mal, es ist nach unseren Statuten strengstens untersagt, das Missgeschick direkt anzusprechen, geschweige irgendwelche Details auszuplaudern!«, geht der Steward dazwischen, ohne jedoch irgendwas ausrichten zu können gegen den einmal in Fahrt gekommenen Funker.
»... nach nochmaligem senkrechten Aufbäumen endgültig gesunken. Dank selbstlosen Einsatzes seitens des Dritter-Klasse-Passagiers Rod Russell konnten noch im Verlauf des Sinkvorgangs drei Rumpfkammern trotz angeschlagener Schotten vor dem Ozeanzugriff bewahrt werden.«
»Unser Rüssel«, übersetzt Manfred Hart, »unser Rüssel versteht sich nämmich nich nur auffet Dichten, sondern auch auffet Abdichten.« Ein Scherz am Rande, über den er als Einziger zu lachen weiß, dafür aber umso schallender, womit er das betretene Schweigen der anderen mehr als kompensiert. Eins ist jedenfalls sicher: Diese Phantomfiguren hier haben was völlig anderes hinter sich als die Wirklichkeit, die ich erlebt und zu verantworten hab. Die sind tatsächlich abgesoffen. Oder tun zumindest so.
Aber Phillips scharrt mit den Hufen, um seinen Rapport fortzusetzen: »Abgeschotteter Rumpfstumpf des Wracks wird auf halber Höhe über Meeresgrund exakt in der Schwebe gehalten. 1870 Meter unter Normalnull. Willenlos Meeresströmungen ausgeliefert, da zwar ein Heizkessel inklusive Notstromgenerator nicht geflutet, aber die Schraubenwelle zerschlagen. Alle anderen Maschinenräume geflutet oder verschollen, aber Türkisches Bad und die Messe für Butler und Zofen samt Pantry trocken!«
»Die angesoffene Titanic lebt! Wow!«, zieht Batman einen Strich drunter und schüttelt rasselnd seine Fledermausflügel, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen.
»Un nu seht zu, Madame, datt er Euch nich tatsächlich in ‘nen faltigen Nacken ‘ne Nadel setzt!« Hart zieht sich die schwarze, öl- und rußverschmierte Jacke an, was ein nicht zu übersehendes Naserümpfen auf Seiten der selbstredend auf olfaktorische Etikette bedachten Mme Godot hervorruft.
Während Rod Russel die Wände rauf- und runtergeht. »Dass Sie die Mokkatasse schon wieder und immer noch … ein Stich mit spitzer Nadel, um des Himmels Willen, und Sie klappen zusammen wie ein Taschenmesser.«
»Und ab durch die Abfallschleuse ins Wasser! Seebestattung erster Klasse, 2000 Meter tief«, die Zipfel von Batmans Elefantenohren zittern vor Vergnügen, »gurgel glurgh. – Letzte Ehre, wem Ehre gebühret.«
»Ja Scheiße, die Madame tassenklimpert wahrhaftig weiter un weiter un weiter! Un erinnert uns ständig anne ganzen armen Seelen, die von uns gegangen sind. Damals. Fünfzehnhundertdreizehn anne Zahl. Aber Stücker sechs hat der gute Rassel gerettet. Un die Godotsche mitter Mokkatasse is mittenmang dabei. – Un gezz entschuldigt mich«, sagt Hart, stellt mit Befriedigung fest, dass er beim letzten Knopf seiner Jacke angekommen ist, begutachtet noch einmal, ob er sich nicht verknöpft hat, und nuschelt etwas von wegen, er habe im Übrigen was Bessres zu tun, als sich hier an diesem blödsinnigen, ewig gestrigen Schwadronieren zu beteiligen. Seine Maloche erledige sich schließlich nicht von selbst. Worauf er mit seinen abgeschabten Heizerstiefeln ein paar schwere Schritte aufs Parkett dröhnt und den Salon samt Insassen sich selbst überlässt. Und mir.
Aber nichts da! Ich muss jetzt mich erst mal damit befassen, die Spuren meiner unseligen Olympic-Flucht oder – Mist – meines Fluchtversuchs aus dem Weg zu schaffen. Nicht ganz einfach, die gottlob unversehrt gebliebene Vorderseite der auseinandergepflückten Schublade wieder in die Spiegelkommode einzupassen, damit die die Fassade wahren kann und nicht zu erkennen gibt, dass es sich bei dem Schubfach um ein Potemkinsches Dorf handelt. Doch, funktioniert so leidlich. Der restliche Holzschrott am besten unter die Koje!
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5
»Herein«, brülle ich mitten hinein in dieses verschüchterte Klopfen.
Die Tür geht auf, und auf der Schwelle zu meiner Haftkabine nimmt eine Gestalt zögerlich Haltung an. Ich kann beim besten Willen nicht ausmachen, um wen es sich handelt. Das verblassende Licht der Abenddämmerung hat meinen Fantasieausflügen in die submarine Hundertjahreszukunft gereicht, und also hab‘ ich überhaupt nicht gemerkt, dass ich mal langsam das Licht anmachen könnte. Erst jetzt, wo ich diese Schattenfigur im Gegenlicht des hellen Flurs im Türrahmen stehn sehe, fällt mir auf, wie finster es in meiner Kabine schon ist.
»Treten Sie ein«, sage ich noch mal, in der Hoffnung, dass ich ihn erkennen könnte, würde er erst mal ein paar Schritte aus dem Flurlicht heraus auf mich zukommen.
Der Schattenriss-Seppel kommt der Aufforderung nach, und erwartungsgemäß entpuppt er sich, als er die Flurtür hinter sich zugezogen hat. Weniger erwartungsgemäß allerdings: als Lightoller.
Damit erklärt sich auch das zurückgenommene Verhalten, das ewig lange Verharren auf der Schwelle. Muss ihm reichlich peinlich sein, hier seinen direkten Vorgesetzten in einer so erniedrigenden Lage vorzufinden: degradiert, seiner Uniform, seiner Ehrenzeichen, seiner Identität beraubt. Von der Schlaflosigkeit der letzten Nacht und den Grübeleien des Tages gezeichnet.
Auch wenn bezüglich des Debakels keine Schuld auf Lightollers Schultern lastet – er hatte mir 40 Minuten vor der Eisbergkollision die Wache übergeben –, er also von Gewissensbissen ungetrübt hier stehen kann, fühlt er sich tief unter der Schädeldecke wahrscheinlich trotzdem irgendwie mitverantwortlich. Auch er hatte schließlich der sträflichen Missachtung sämtlicher Eiswarnungen, derer der Alte sich schuldig gemacht hatte, nicht widersprochen, sondern mir bei der Wachübergabe auch Captain Smiths Befehl, ohne auch nur das leiseste Fragezeichen hinzuzufügen, weitergegeben, dass wir nur bei Sichtverschlechterung die Geschwindigkeit zu drosseln hätten, also nur im Falle, dass es neblig oder diesig würde.
Lightoller wagt nicht, mir in die Augen zu sehn. Und ich finde irgendwie Spaß daran, meinerseits aus zusammengekniffenen Augenschlitzen giftige Stacheln in seine Pupillen zu bohren, die mit zitternden Ausweichmanövern befasst sind, um meinen eisernen Blicken zu entkommen. Völlig verdattert steht der arme Kerl in der Mitte meiner … ja, soll man sagen: Zelle? Und schweigt. Weniger beharrlich, wie‘s aussieht, als ratlos.
Irgendwann, nachdem er geraume Zeit das böse Spiel meiner Blicktorpedos ertragen hat, scheint er sich wieder darauf zu besinnen, mit welchem Auftrag er eigentlich hierher entsandt worden ist. Jedenfalls greift er von plötzlicher Entschlossenheit erfasst ins Innere seiner Uniformjacke und zieht einen Metallgegenstand heraus, den ich aus dem Augenwinkel nicht identifizieren kann. Während ich mit offen zur Schau getragenem Triumph begutachte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht steigt, legt er das Ding schweigend auf das winzige Wandregal neben meinem Bett, ohne dass ich die Waffen meiner Pupillen auch nur für eine Sekunde milde gestimmter Gnade von seinen Augäpfeln abgezogen hätte. Erst als er zum zweiten Mal in die Innentasche seiner Jacke greift und diesmal mit spitzen Fingern einen kleinen Gegenstand zu Tage fördert, lasse ich mich dazu herab hinzusehn und … und werde bleich: ein Projektil! Eine Kugel. Im gleichen Moment hefte ich meine Augen auf das Regal. Folgerichtig: ein Revolver.
In meinem Schädel schlagen die Gedanken Kapriolen. Lightoller, Kollege und ohne Frage mein bester Freund hier an Bord, immer gewitzt und witzig, immer verständig und verständnisvoll, blitzgescheit und trinkfest, immer moralisch, nie moralisierend, der legt mir einen Revolver und eine Kugel vor die Nase! Offensichtlich im Auftrag des Captains.
Hinter der Stirn ein einziger brausender Tumult, aus dem sich partout kein klarer Gedanke destillieren lässt. Ich bin erschlagen! Vollkommen erschlagen angesichts der Tatsache, dass Smith und Lightoller trotz des nahenden Sturms für solche Manöver … Sturm? Wieso das? Wie kommt jetzt ein Sturm in meinen Kopf? Ja, stimmt, der