Unverarschbar. Martell Beigang
Читать онлайн книгу.vom letzten Jahr sowie ein paar aktuelle Playlisten. In dem etwa linienbusgroßen Raum (wahrscheinlich dem Herzstück der Sendelogistik) lungern acht Studenten herum. Sie sitzen an oder auf ausrangierten Schultischen. Ben fragt sich, ob diese Studenten immer noch oder im Zuge der Retro-Welle wieder so wie früher aussehen, denn sie wirken erschreckend müslihaft auf ihn. Da wird so mancher Keim über Nacht in Wasser eingeweicht, denkt er, während sein Blick über Stapel von Papier, CDs, leeren Pizzakartons und Musikzeitschriften streicht. Erstaunlich, daß die Freaks hier unter solchen Arbeitsbedingungen ein so cooles Programm auf die Beine stellen. Ben ist wie immer pünktlich, also viel zu früh. Die Studenten kommen ihm unglaublich jung vor. Er fühlt sich wie Dr. Pfeiffer in Die Feuerzangenbowle, der sich als erwachsener Mann hier einschmuggelt hat. Ben fragt sich zu Marie durch, die ihn freundlich lächelnd begrüßt. Sie hat blonde Rastalocken und ein Lippenpiercing.
„Grüß dich, Ben, du, der Aufnahmeraum ist noch belegt. Da werden gerade zwei Tänzerinnen interviewt. Die machen irgend so eine Uraufführung nächste Woche. Willste nen Kaffee?“
Wahrscheinlich wird das Campus Radio vom Kultusministerium unterstützt und dazu angehalten, wenigstens ein paar im klassischen Sinne kulturell wertvolle Themen zu bringen, analysiert Ben das bunte Treiben im Sender. Die Tänzerinnen sind fertig und gehen an Ben vorbei, der eine von beiden umwerfend schön findet. Er hört, daß sie einen französischen Akzent hat, und ihre dunklen, fast schwarzen Augen durchbohren ihn, als sie rehgleich an ihm vorbeistreicht. Scheiße, denkt er, warum haben die meisten Tänzerinnen eigentlich keine vernünftigen Titten? Zuviel Sport in der Pubertät ist einfach nicht gesund. Der Aufnahmeraum sieht im Gegensatz zum Büro sehr akkurat aus und bietet eine mit anderen Studios vergleichbare Technik. Zunächst geht der Titel von Ben auf Sendung. Er freut sich, ihn nach langer Zeit mal wieder zu hören und vor allem, daß ihn im gleichen Moment ein Haufen anderer Leute ebenfalls hören. Das ist doch das Schönste, denkt Ben, wenn ich meine Musik mit irgendwem teilen kann.
„Liebe Hörer. Ich sitze hier gerade mit Ben ... äh ...“ Sie gerät ins Stocken und flüstert Ben zu: „Sorry, wie war noch mal dein Nachname?“
„Schröder.“
„... also mit Ben Schröder, dessen chilligen Titel Wohin mit all der Liebe? wir gerade gehört haben. Ben, auf der Kompilation Kölner Schule sind zwanzig Titel von ganz unterschiedlichen Acts. Wie ist es zu dieser Zusammenarbeit gekommen?“
Ben denkt, weil irgend so ein weltfremder Spinner zu viel Geld übrighatte und nicht gepeilt hat, daß Köln nicht Hamburg ist und es hier einfach kein Zusammengehörigkeitsgefühl gibt, weil alle Angst vor dem berüchtigten Kölner Klüngel haben. Aber diese kritische, soziokulturelle Einschätzung kann er ja schlecht über den Äther schicken.
„Also, äh, dieser Sampler ist eine Art Bestandsaufnahme der Kölner Szene, die aufzeigt, wie vielschichtig und heterogen im Moment hier gearbeitet wird.“
„Aha, und was machst du sonst so?“
Wie, sonst? Musik natürlich. Na, ganz verschiedene Sachen eben. Soll sie halt auf meiner Website nachgucken, denkt er ärgerlich. Oder Moment mal – wollte sie eigentlich fragen: Was machst du beruflich? Das ist hier doch hoffentlich kein beschissener Party-Smalltalk, wo er sich Sätze anhören muß wie „Und, kann man davon leben?“ Oder besser noch: „Machen Sie das amateurmäßig oder semiprofessionell?“ Wahnsinn. Da könnte er sich noch stundenlang drüber aufregen, aber so langsam sollte er sich mal eine passende Antwort aus seinem Gehirn schrauben. Tick, tack, tick ...
„Tja, also, ich beschäftige mich ausschließlich mit dem Themengebiet Musik, in seiner gesamten Komplexität.“
Langsam wird Ben locker und hofft, daß die nächste Frage mal ein bißchen mehr hergibt.
„Vielen Dank für das Interview. Jetzt kommen wir zu den Konzerthinweisen fürs Wochenende ...“
Echt, das war alles? Das war aber ganz schön lau, denkt Ben, so richtig aus den Puschen kam das Interview jetzt aber nicht. Beim Rausgehen fragt er sich, ob er jemals einen Status erreichen wird, bei dem sein Interviewpartner vorab etwas über ihn weiß oder, wenn nicht, sich die Mühe macht, es zu recherchieren, um dann auch mal eine interessante, gerne auch persönliche oder sonstwie inhaltlich relevante Frage zu stellen. Er hat das Gefühl, bei allem, was er musikalisch macht, immer wieder bei Null anzufangen. Erst im Flur merkt er, daß ihn das richtig wütend macht. So eine redundante Scheiße. Was denkt sich diese kleine Freizeitredakteurin eigentlich? Ben kommt hier extra vorbeigefahren, erklimmt den fünften Stock ohne Atemgerät und das alles, um dann so ein hohles, nichtssagendes Drecksinterview zu geben. Diese kleinen, schlecht vorbereiteten Independent-Schlampen sind doch keinen Deut besser als die Girlies von MTV, und die haben sich wenigstens vor der Sendung unter den Achseln rasiert. Aber ehrlich. Um sich Luft zu machen, zückt Ben seinen schwarzen Edding extra breit und verziert noch ein bißchen das Treppenhaus mit ein paar postmodernen Aphorismen: Fuck the Shit you Fuckers! Völlig genervt geht er zu seinem VW-Bus und sieht, daß ein Knöllchen unter dem Scheibenwischer klemmt. Wütend rupft er es raus, zerknüllt es und wirft es auf die Straße. Dabei entfährt ihm ein Laut, wie Chewbacca, als der zusammen mit Han Solo vom Todesstern flüchtet: Naaaaaaaeeeeeein. Fassungslos steigt er in seinen Bus und läßt ihn vorglühen. Er braucht zwei Versuche, bis er anspringt. An der ersten Ampel klingelt seine Funke (Smoke on the water). Er schaut auf das Display und sieht, daß es Tine ist, seine Exfreundin. Ben versucht, möglichst gut drauf zu klingen: „Hey, hallo, na, so eine Überraschung.“
„Hör mal, Ben“ purzeln Eiswürfel durch die Leitung, „ich muß mit dir reden.“
„Tun wir doch gerade“, versucht Ben das sich ankündigende Drama noch etwas hinauszuzögern und macht sich schon mal auf das Schlimmste gefaßt, denn er hat ein ganz komisches Gefühl. Verrückt, wie schnell und plastisch sich Emotionen in nur einem Satz bündeln und sich dann auch noch digital zerhackt durchs Telephon übertragen lassen.
„Ben, ich wollte dir sagen, ich meine, bevor du es vielleicht von jemand anderem hörst, ich hatte etwas mit Volker.“ Pause.
Ben fährt rechts ran. „Warum erzählst du mir das?“
„Ich dachte, das könnte dich vielleicht interessieren.“
„Mich interessieren? Mir ist es verdammt egal, mit wem du rum...“
„Ben, es tut mir leid.“
Ben ist sprachlos. Er weiß nicht, was er dazu sagen soll. Er kann nicht einmal Wut empfinden, sie zumindest nicht adäquat kanalisieren. Er fühlt sich abgeschnitten von sich selbst. Er sieht nur noch in ein schwarzes Loch und drückt sie weg. So eine überflüssige Scheiße. Man muß sich das mal klarmachen. Es gibt gegenwärtig etwa sechs Milliarden Menschen, ergo circa drei Milliarden Männer auf der Welt, und Tine muß sich gerade einen seiner besten Freunde, nämlich Volker, raussuchen, um ihre sexuelle Freiheit wiederzuentdecken. Das hat doch alles keinen Stil. Das Schicksal scheint Gefallen an hochpotenzierten Szenarien zu finden. Volker reiht sich nahtlos in seine momentane Schadensbilanz ein. Klar, er hat kein Recht mehr, irgend etwas von Tine zu erwarten, sie ist frei, kann machen, was sie will, aber daß sie jetzt auch noch anfängt, ihm sein rudimentäres Restleben zu vermiesen, ist einfach eine Nummer zu hart. Er könnte schreien, kann aber noch nicht einmal das und beginnt, apathisch in der Gegend herumzufahren. Ein Wunder, daß er dabei keinen Unfall baut. Irgendwann bekommt er Hunger. Er hat zwar keinen Appetit, aber sein Körper meldet sich mit einem respektablen Loch im Bauch. Keine Frage, ein Fall für Lena. Die vollschlanke Jugoslawin ist Inhaberin der rustikalen Eckkneipe Bei Lena, die sich als letzte Bastion der realen Welt gegen die schicken Sushi-Bars und Coffee-Lounges rund um den Media-Park behauptet. Außer Kölsch gibt es bei ihr die besten Bratkartoffeln der Welt, und das mitten in der Nacht, was vor allem Taxifahrer zu schätzen wissen. Beim Gericht Bratkartoffeln à la Lena kommen noch riesige, gebratene Speckscheiben oben drauf. Wahrscheinlich ist das das einzige, was Ben jetzt helfen kann, und instinktiv führt ihn seine autistische körperliche Hülle genau an diesen Ort.
„Hey, schönerrr Mann, warum du schaust so trraurig?“
Ben hat etwas Manschetten, Lena sein ganzes Elend zu erzählen, deswegen deutet er den groben Themenkomplex lediglich an: