Münster - Was nicht im Stadtführer steht. Carsten Krystofiak
Читать онлайн книгу.konnte man am Emsstrand finden, hinterlassen von den Gletschern der letzten Eiszeit. Der Klauenberg, immerhin für Westfalen stolze 70 Meter hoch, bot Schutz vor Wind. Kiefern und Birken wuchsen hier (Eichen gab’s damals nur in Süddeutschland). In der Bauernschaft Neuwarendorf, hundert Meter von der Ems, fanden die Hominiden den idealen Campingplatz.
3.000 Jahre später, Anfang des 20. Jahrhunderts, fing man hier an, Sand für Kalksandsteine zu fördern. Dabei stießen die Arbeiter immer wieder auf Scherben, Knochen und sonstiges »Gedöns«. Lange wurde das lästige Zeugs, das im Sandsieb hängenblieb, einfach weggeschmissen. Erst nach dem II. Weltkrieg interessierten sich Archäologen für die Funde. Mitte der Siebziger finanzierte die Uni Groningen eine ausgedehnte Untersuchung des Areals. Auf einem Gebiet von 500 Metern Länge und 300 Metern Breite fand man 341 frühzeitliche Gräber mit den Resten verbrannter Leichen. Die Niederländer entwickelten ein Verfahren, um das Alter verkohlter Knochen bestimmen zu können. So wurde ermittelt, dass in Neuwarendorf vom 3. Jahrtausend bis 100 v. Chr. Tote beerdigt wurden.
Der älteste Westfalentourist war allerdings schon vor über hunderttausend Jahren hier: Ein Neandertaler. Bis 1997 lag er sechs Meter tief im Torf, bevor ihn ein Hobbyforscher fand. Der Höhlenmensch war etwa Mitte Zwanzig, als er am Kottruper See aus den Latschen kippte. Allgemein war das Klima im Münsterland noch kälter damals, es war ja erst kurz nach der Eiszeit. Da holt man sich schon mal was weg. Befund: Geschwür am Kopf und Knochenentzündung. Bei dem Neandertaler wurden ein Faustkeil, ein Steinmesser und ein Schaber gefunden. Operation gelungen, Patient tot – wurde er Opfer steinzeitlichen Ärztepfuschs? Die Forscher meinen übrigens, der Neandertaler habe keinen Beitrag zum heutigen menschlichen Genpool geleistet. Wenn ich mir die Physiognomie von Volker Pispers ansehe, wäre ich mir da nicht so sicher ...
Da war es in der Bronze- und frühen Eisenzeit erheblich gemütlicher. Darum wurde vor allem gerne gegrillt. Im Münsterland tummelten sich Mammuts, Wollnashörner, Moschusochsen, Wildpferde, Rentiere und Riesenhirsche, wie man an den Resten der Barbecue-Plätze ablesen kann. Mjam. Sogar Löwenknochen fand man in der Asche!
Doch soviel Gegrilltes soll ja überhaupt nicht gesund sein. 1997 fand eine Warendorferin beim Baden im Baggersee einen jungen Mann, dem es gar nicht gut ging. Obwohl der etwa 30-jährige stattliche 1,80 m groß war, diagnostizierten ihm die Mediziner eine Schwächung des Knochenbaus durch falsche Ernährung in seiner Kindheit vor dreitausend Jahren (»Ngg, iss nicht so viele Mammut-Burger!« Das kommt davon!).
Aus den abgeriebenen Zähnen des Neandertalers schlossen die Forscher weiter, dass er großem Stress ausgesetzt gewesen sei und oft mit den Kiefern geknirscht habe. Vielleicht war der gestresste Steinzeitmanager ja Parkplatzwächter auf dem Großfriedhof Neuwarendorf: Auf der zehn Meter breiten (!) Durchgangsstraße wurden zahlreiche Radspuren nachgewiesen, es muss also ein ziemlicher An- und Abfahrtsverkehr geherrscht haben.
Neulich in der Bronzezeit:
Ngg Schmidt ärgert sich über den Warendorfer im Einbaum vor ihm.
Kein Wunder, dass die Bestatter der Frühzeit gut zu tun hatten: Gestorben wurde immer und in jedem Alter. Unter den 341 Toten sind vom Säugling bis zum über 60jährigen Johannes Heesters der Bronzezeit alle Altersklassen vertreten. Am häufigsten erwischte es die Menschen zwischen 30 und 40 Jahren.
Bei der Gestaltung der Grabanlagen wurde viel Wert auf Individualität gelegt (Die Friedhofsordnung wurde erst 3.000 Jahre später erfunden ...). Über 128 verschiedene Grabtypen machten die Archäologen aus, z. B. das Längsgrab mit Baumsarg in rustikaler Weide und mit schlüssellochförmiger Einhegung. Der Klassiker war allerdings das Urnengrab mit kreisrundem Holzzaun. Frauen liegen mit dem Kopf nach Osten; die Männer Richtung Westen.
Auch bei den Grabbeigaben zählte Exklusivität. Waffen für den Herrn, Schmuck und Haushaltswaren für die Dame. Bei den Töpferwaren war Importware aus England besonders schick. Englisches Design war auch bei Messern sehr gefragt. Daneben finden sich Leder, Muscheln, Geweihe und Gefäße aller Art, deren Formgebung an die Ergebnisse von VHS-Töpferkursen erinnert.
Manche haben gedengelte Dolche und Lanzen, andere Rasiermesser, weitere Nadeln und Nägel für die Reise ins Jenseits eingesteckt. Doch einen Gegenstand trugen alle: die Pinzette. Die Pinzette war sozusagen das Handy der Bronzezeit, ohne das kein Homo Sapiens aus der Höhle ging. Warum das so war, weiß niemand. Vielleicht, weil sich die Urmenschen ständig die Kiefernnadeln in die Füße traten? Oder aufgrund einer psychologisch geschickten, prähistorischen Werbekampagne (»Ngg-Pinzetten – für mehr Paarung und Fleisch im Leben!«)? Auch Feuerzeuge, bestehend aus verschiedenen Feuersteinen, trugen einige Tote in Futteralen am Gürtel. Die Anmachtour »Haste mal Feuer« funktionierte also schon in der Bronzezeit! Die wichtigste Grabbeigabe war jedoch Brot. In allen Särgen und Urnen findet sich Sauerteigbrot aus Weizenmehl. Pumpernickel ist also wohl eine Erfindung der Neuzeit.
Nicht nur Menschen, sondern auch Haus- oder besser Höhlentiere wurden pietätvoll bestattet: Zwischen den Toten wurde auch ein Hundegrab mit Spielzeug für den Bronzezeit-Bello entdeckt.
Schon unter den ersten Bestattungsunternehmern scheint es Schlitzohren gegeben zu haben: Im Holz einiger Baumsärge wurden 3.000 Jahre alte Holzwürmer nachgewiesen.
Und noch ein Problem plagte die frühzeitliche Friedhofsverwaltung: Einige Gräber sind bereits zu ihrer Zeit verwüstet worden. Grabräuber? Leichenschändung? Oder jugendlicher Vandalismus? (»Diese Hools von heute! In der Eiszeit hat’s das nicht gegeben!«) Die Forscher glauben an vorsätzliche Grabräuberei, weil offenbar gezielt die großen Waffengräber angegraben wurden.
Wer noch mehr über die Neuwarendorfer der Bronzezeit wissen will, kann ja mal ein bisschen im Kottruper See gründeln: Die Überreste von 13 Toten aus der Grabanlage werden bis heute gesucht.
(Erschienen 2009)
Anmerkung:
Manche Geschichten, die sich lustig lesen, sind richtig harte Arbeit. So wie diese hier. Denn das Quellenbuch ist ein Fachliteratur-Wälzer von etlichen hundert Seiten und die wenigen interessanten Stellen sind gut in endlosen Kapiteln voller dröger Zahlen, lateinischgriechischer Fachtermini und technischer Details versteckt. Die verwertbaren S(ch)ätze auszugraben, kostet nicht nur Stunden, sondern auch Nerven. Ich mein’, warum beschweren sich die Archäologen, dass ihre Arbeit nicht wertgeschätzt wird, wenn sie nicht populär erzählen können, was daran so spannend ist?
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