Vampire, Wiedergänger und Untote. Wolfgang Schwerdt

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Vampire, Wiedergänger und Untote - Wolfgang  Schwerdt


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Ethnien als auch an ihrem Austausch. Ganz verschiedene religiöse Strömungen haben die Vorstellungen des Volksglaubens ebenso gespeist wie Einf lüsse antiker Kulturen oder durchreisender Völker.22 »Das Resultat dieser Vielfalt ist Variantenreichtum, der häufig nicht durch die Entwicklung besonders origineller Elemente besticht, sondern durch Neukombination, durch den Zusammenfall der unterschiedlichsten Elemente.«23

      Originell im Sinne von »einzigartig« ist der südosteuropäische Wiedergänger vor allem in seinem Kern als Blut und Lebensenergie saugender »Grabflüchter« mit vampirisierendem Potenzial. Die Tatsache, dass das Opfer des Vampirs selbst zum Vampir wird, ist also im Gegensatz zum erregenden Halsbiss keine moderne literarische Erfindung.

      Vampir zu werden ist gar nicht schwer. Die kleinste Unregelmäßigkeit im Leben, bei der Geburt, beim Tod, bei und selbst nach der Beerdigung kann dazu führen, dass man als Leichnam sein Grab verlässt und seine Gemeinde drangsaliert – wohlgemerkt seine Gemeinde, denn Vampire sind außerordentlich standorttreu. Es ist kein Zufall, dass die Bewohner von Kisolova und Medvegya den Behörden gedroht hatten, sich durch Wegzug in Sicherheit zu bringen.

      Das Potenzial an Vampiren ist außerordentlich groß.24 Es ist also kein Problem, zu einer wann auch immer auftretenden Viehseuche, Dürrekatastrophe oder Todesserie den passenden Wiedergänger aus den Reihen der jeweiligen Dorfgemeinschaft auszumachen. Die Zeugung eines Kindes zu Ostern, am Karfreitag oder in der Fastenzeit, die Geburt an einem Unglückstag, der Fluch der Hebamme, bevor das Kind in den Armen der Mutter liegt, besondere körperliche Merkmale wie Missbildungen oder auch nur ein Muttermal können aus dem Neugeborenen nach seinem Tode einen Vampir machen. Der Kontakt mit einem Vampir, wann immer er zu Lebzeiten auch stattgefunden hat, kann ebenfalls dazu führen, dass der Betroffene nach seinem Tode seine Dorfgenossen als schädigender Wiedergänger heimsucht. Ein Vampirdasein droht auch jenen Verstorbenen, bei deren Trauerfeierlichkeiten rituelle Fehler gemacht wurden oder Störungen welcher Art auch immer aufgetreten sind. Die größte Gruppe der potenziellen Vampire bilden aber die »sozial Andersartigen«, jene Menschen, die ob verschuldet oder unverschuldet Regeln verletzen, die Ordnung stören. So gehören zum gefährdeten (und gefährlichen) Personenkreis arge Flucher, Geizhälse oder gar Menschen, die an Feiertagen arbeiten. Exkommunizierte, ungetauft verstorbene Kinder, Hexen, Zauberer, im Krieg Gefallene, Selbstmörder, Verschwender des Familienvermögens, Wegelagerer, Brandstifter, Schlafwandler, Dirnen oder im hohen Alter Verstorbene stellen nur einen Ausschnitt des gewaltigen Spektrums der südosteuropäischen Vampirisierungsverdächtigen dar.25 Auf unsere heutigen Verhältnisse übertragen, dürften auch Hartz-IV-Empfänger in diese Aufzählung potenzieller Wiedergänger gehören.

      Ebenso komplex wie die Möglichkeiten, zum Vampir zu werden, sind die Abwehrmaßnahmen. Das beginnt mit dem genauesten Einhalten der Trauerriten, um der Transformation eines friedlich Verstorbenen in einen Vampir vorzubeugen. So müssen unbedingt Augen und Mund geschlossen werden, zur Not muss die Kinnlade mit einer Bibel gestützt werden. Eine lückenlose Totenwache soll jede Störung verhindern, nicht einmal ein Tier darf über den aufgebahrten Toten oder das Grab springen oder fliegen, bevor die Beerdigung ordnungsgemäß abgeschlossen ist. Und sollten die Hinterbliebenen allzu laut jammern und heulen, könnte der Tote später ebenfalls zur Rückkehr animiert werden. Kein Wunder, dass auch das Repertoire der Maßnahmen, die ergriffen werden können, wenn die Verwandlung in einen Vampir wahrscheinlich nicht mehr verhindert werden kann, recht umfangreich ist. Da ist beispielsweise das Fischernetz, das in das Grab des Verdächtigen gelegt wird. Natürlich ist das Netz an sich kein Hindernis für den mit übermenschlichen Kräften und magischen Fähigkeiten ausgestatteten Wiedergänger. Aber Vampire leiden unter einem Zählzwang. Erst wenn er alle Knoten des Netzes durchgezählt hat, darf er sich befreien, aus seinem Sarg steigen und die Menschen heimsuchen. So dienen einige der Maßnahmen, zu denen auch die Beigabe von Getreidekörnern gehört, eher dazu, den Lebenden einen zeitlichen Vorsprung für weitere Abwehrmaßnahmen zu verschaffen. Das Zerschneiden von Fuß- und Kniesehnen, Fesselungen und andere körperliche Verstümmelungen und sogar das Pflanzen eines Baumes sollen den Toten vom Verlassen des Grabes abhalten. Und um das Auf blasen des Körpers durch den Teufel und damit die Vampirisierung auf diesem Wege unmöglich zu machen, wird der verdächtige Verstorbene mit Nadeln, Nägeln oder Weißdorn durchlöchert.

      Aber die Wahrscheinlichkeit, dass der zum Vampir mutierte Verstorbene nicht am Verlassen seines Grabes gehindert werden kann, ist immer gegeben. Und da der Untote vor allem seine Familie heimzusuchen pflegt, bemüht man sich, alle Hinweise auf seine Herkunft zu verwischen. So muss der Verstorbene sein Todeshaus auf eher unüblichen Wegen verlassen, etwa unter der angehobenen Schwelle hindurch oder durch speziell für diesen Zweck angebrachte Öffnungen in Wand oder Dach. Der Weg zum Friedhof darf natürlich auch nicht geradlinig verlaufen, häufige Pausen vor allem an Kreuzungen, sollen den zukünftig Heimsuchenden verwirren, das auf dem Rückweg verschüttete Wasser Spuren verwischen. Außerdem fürchtet der Vampir das Wasser offensichtlich ebenso wie das Feuer. Diese Eigenschaft machte man sich beispielsweise in Bulgarien zunutze, indem man dem Toten Schießpulver und Streichhölzer in den Gürtel stopfte. Aus Angst, die brennbaren Sachen zu entzünden, so die Hoffnung der Hinterbliebenen, würde sich der Vampir nicht bewegen.26

      Aber inzwischen sind wir ja in der Phase angelangt, in der der Verstorbene zum Vampir geworden ist und aller Bannrituale zum Trotz doch sein Grab verlässt. Am Ende wird sich nicht jeder Vampir von den Verwirrspielchen irritieren lassen und schließlich doch die Behausungen seiner potenziellen Opfer ausfindig machen. Dort erwartet ihn dann ein letzter ritueller Verteidigungswall mit uns als außenstehenden Betrachtern zum Teil aus der klassischen Literatur bekannten Abwehrmechanismen. Da begegnen uns das Kreuz, mit Pech auf die Eingangstore der Häuser gemalt, oder der Knoblauch, als duftende Versiegelung sämtlicher Öffnungen wie Fenster, Türen oder Schlüssellöcher. Amulette und in die Kleidung eingenähte Weißdornen, das Aufsuchen besonderer für Vampire nicht zugänglicher Orte und sogar das Essen der Erde aus dem Vampirgrab oder das Trinken des Blutes des als Vampir erkannten Leichnams können, so der Volksglaube, vor dem Unhold schützen.

      Erst als allerletzter Schritt, wenn alles andere versagt hat, folgt die spektakuläre Vernichtungsaktion: Die Gräber der Verdächtigen werden geöffnet, die Leichen auf ihre Vampirzeichen hin begutachtet und die als Vampir erkannten Verstorbenen gepfählt, geköpft und verbrannt. Auch die Vernichtungsrituale unterscheiden sich von Region zu Region und können ganz spezielle Verfahren beinhalten. In einigen Regionen entnimmt man das Herz des Toten, kocht es in Wein und legt es anschließend wieder in den Leichnam zurück. Und selbstverständlich ist bei der Pfählung nicht nur die Art des verwendeten Holzes oder Gegenstandes, sondern auch das Prozedere bei der Pfählung selbst entscheidend für den Erfolg der letzten Maßnahme. Vor allem die Phase der Vampirvernichtung war es schließlich, die die Aufmerksamkeit der Behörden, die wissenschaftlichen Untersuchungen, die Berichte und gelehrten Traktate des 18. Jahrhunderts hervorgebracht hat.

      Bei genauerer Betrachtung des Gesamtkomplexes »Vampirglaube« fällt auf, dass er sich keineswegs in durch Angst motivierten Leichenschändungsexzessen ausdrückt. Gerade der rituelle Stufenplan, der der Vampirvernichtung vorausgeht, diese sogar vermeiden hilft, zeigt, dass das Leben, der Umgang der Gemeinschaft mit dem Andersartigen im Vordergrund stehen. Die Vampir-, also Konfliktprophylaxe steht im Mittelpunkt des gemeinschaftlichen Lebens. Sie zieht sich, wie wir gesehen haben, unabhängig von Krankheiten, Seuchen oder »unheimlichen« Todesserien durch das ganze Leben, von der Geburt bis zum Tod, und bezieht die Verstorbenen durchaus mit ein. Gemeinsame Rituale wirken stabilisierend, identitätsstiftend für eine Gemeinschaft. Und es sind gerade die Unterschiede im Prozedere oder bei den Abwehrmaßnahmen, die die Zugehörigkeit zur jeweiligen Region oder gar Dorfgemeinschaft untermauern und damit gemeinschaftliche Identität und individuelle Sicherheit stiften. Am Ende dient auch die im Einzelfall unvermeidliche Vernichtung des Vampirs der sozialen Stabilisierung. Die Vernichtung des verstorbenen »Sündenbocks« stellt die zuvor gestörte Ordnung, die Normalität wieder her.27

      Die spezielle Ausprägung des südosteuropäischen Wiedergängers und vor allem seine bis heute auffällige Präsenz im Volksglauben lassen sich auf eine Reihe von Ursachen zurückführen. So liefern weder das orthodoxe Christentum noch der Islam Erklärungen oder gar rituelle Hilfestellungen für die Zeit des Übergangs vom Diesseits ins Jenseits.


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