Zuhause wartet schon dein Henker. Franziska Steinhauer
Читать онлайн книгу.zumindest nicht mehr wehren konnte, als er hier festgebunden wurde.« Er griff nach einem Skalpell aus seinem Koffer, durchschnitt die Fessel so, dass der Knoten unbeschädigt erhalten blieb. »Nur für den Fall, dass es sich hier um eine besondere Knotentechnik handelt. Hm.« Er beugte sich über die Handgelenke. »Hier sind oberflächliche Hautläsionen. Ich würde annehmen, die sind beim Drapieren entstanden. Der Strick selbst ist nicht blutig. Er war tot oder wehrlos.«
Er sah über die Schulter. »Ist der Fotograf schon fertig?«
»Ja, der hat schon jede Menge Aufnahmen gemacht«, bestätigte Björn.
»Gut. Dann also weiter.« Der kleine Lichtkegel kroch langsam über den Hals des Opfers aufwärts. »Hier ist keine Verletzung zu sehen.« Erik Hardberg murmelte leise vor sich hin. »Genaues kann ich erst nach der Obduktion sagen. Die findet auch bei deutlich besserer Beleuchtung statt.«
Auf Höhe der Brust kam der schwankende Lichtpunkt abrupt zum Stillstand. Bewegte sich konzentriert von links nach rechts. Die blassen Latexfinger machten sich ungelenk an der Kleidung des Gekreuzigten zu schaffen.
»Mit kalten Händen eine echte Herausforderung. Also, hier ist der Stoff beschädigt, ich sehe nach, was sich darunter befindet.«
Lundquist und Knyst beugten sich weit vor, um auch einen Blick erhaschen zu können. »Meinst du, hier wurde er verletzt?«, wollte Lars wissen, versuchte, in dem hellen Fleck Details zu erkennen.
»Ja. Und tatsächlich, eine Wunde!« Der Rechtsmediziner fokussierte den Lichtpunkt auf die Stelle. »Könnte eine Stichwunde sein. Herzgegend. Eventuell ist er daran gestorben. Aber auch das…«
»…kannst du erst nach der Obduktion sagen. Ja.« Lundquist richtete sich wieder auf. Massierte gedankenverloren eine Stelle an der Lendenwirbelsäule. »Mit dem Kopf nach unten gekreuzigt, die Stichwunde auf der falschen Körperhälfte. Jesus bekam den Lanzenstich in die rechte Seite. Diese ganze Inszenierung soll vielleicht nur an eine Kreuzigung erinnern, aber ihr nicht gleichen.«
»Warum?«, fragte Lars verblüfft.
»Angst vor Blasphemie?«, schlug Lundquist vor. »Der Täter wollte niemanden beleidigen.«
»Ach, beleidigen nicht – töten schon?«, grinste Hardberg. »Sonderbare Logik.«
»Denkbar wäre doch, dass der Täter davon ausging, Mommsen fahre auf direktem Weg in die Hölle, während er selbst trotz allem hoffte, einen Platz … da wollte er niemanden verstimmen.« Lundquist warf einen nachdenklichen Blick auf die dunkle Gestalt, die noch immer regungslos hinter dem Fenster verharrte. »Dann müsste der Täter allerdings ein Motiv haben, das auch vor dem Herrn als solches Bestand hätte. Im Moment fällt mir da nur der Tyrannenmord ein. Auslöschung des Usurpators. Komm, vielleicht kann die Witwe etwas Licht ins Dunkel bringen.«
»Na dann. Wir sehen uns morgen. Ich nehme ihn jetzt mit«, verabschiedete sich der Rechtsmediziner, packte Stirnlampe und andere Utensilien in die Tasche zurück. »Todeszeitpunkt, grob geschätzt, gegen 16 Uhr heute Nachmittag. Bis morgen also!« Er nickte den beiden Ermittlern aufmunternd zu und verschwand zügig in Richtung Auto.
»Ulrika, es tut mir leid, aber wir haben ein paar Fragen an dich. Dein Mann wurde Opfer eines Verbrechens – je schneller wir die Spur des Täters finden …« Lundquists Stimme verdämmerte.
Die spirrelige Frau drehte sich nicht um, starrte weiter aus dem Fenster, nickte kurz.
Zog ihre knielange Wolljacke fester über der Taille zusammen.
»Wo bringen sie ihn hin?«
»In die Rechtsmedizin.«
»Gut. Die Mädchen sollen das nicht sehen müssen. Der Vater ans Kreuz gebunden, nein, das wäre nicht gut.« Ulrikas Stimme war nur ein Flüstern.
»Es ist natürlich ein großer Schock für die ganze Familie.«
»Ich verstehe, dass ihr viele Fragen habt. Mir ist auch nicht klar, warum jemand den Pfarrer von Hummelgaard töten sollte.«
»Dein Mann war allgemein beliebt?«
»Beliebt ist ein großes Wort. Und es trifft nicht das, was nun alle in der Gemeinde über ihn sagen werden. Respektiert passt sicher besser. Viele wandten sich mit ihren Fragen an ihn – allerdings war er nicht immer ein guter Ratgeber. Nicht immer seine Schuld. Es ist manchmal unglaublich, in welchen Lebensbereichen sich die Menschen einen Hinweis erbitten. Von finanziellen Themen hatte er nicht viel Ahnung, dennoch wollte man von ihm Ratschläge zu Geldanlagen, Aktienkäufen, Spekulationen mit Warentermingeschäften. Ich denke, einen Pfarrer sollte man eher bei ethischen und religiösen Fragestellungen um Orientierungshilfe bitten. In dem Bereich ist er kompetent – oder sollte es zumindest sein.«
Lars spürte eine gewisse Unruhe in sich aufsteigen. Diese Frau sprach so wohlgesetzt, als ginge das Geschehen in ihrem Garten sie nichts an, als habe es mit ihr persönlich nichts zu tun. Nun, dachte er, Ehekrisen gibt es sicher auch in Pfarrersfamilien, aber wenn meine Gitte in diesem Ton … dann haben wir den richtigen Zeitpunkt für eine Trennung vielleicht schon verpasst.
»Die Gemeinde hat ihn also respektiert. Gibt es jemanden, den du als einen Feind bezeichnen würdest?«, hörte Lars den Freund von fern weiterfragen.
»Feinde? Nein, so etwas hatte er nicht.«
»Aber?«
»Nun, der ein oder andere ist vielleicht ein wenig verärgert über ihn gewesen. Wie gesagt, seine Ratschläge waren manchmal von zweifelhafter Qualität. Allerdings liegt es in der Entscheidung des Einzelnen, ob er den Rat annehmen möchte oder nicht. Im Nachhinein will das nur niemand wahrhaben und sucht nach einem Schuldigen, einem Verantwortlichen. Menschen sind so.«
»Wer war denn besonders verärgert über ihn?«, hakte Knyst nach.
»Hinnerk, Arft, Bjarne, Bruno … und einige der weiblichen Gemeindemitglieder auch. Susanne, Patricia, Annasophia, Meike …« Knyst schrieb eifrig mit. »Ich brauche die vollständigen Namen, bitte, sonst frage ich beim falschen Bjarne nach«, sagte er und warf Ulrika einen auffordernden Blick zu, der allerdings zwischen ihren Schulterblättern verloren ging.
Mit einem plötelichen Ruck wurde die Tür aufgerissen!
Zornbebend stand ein junger Mann im Raum. »Was macht die Polizei in unserem Garten?«, forderte er mit blitzenden Augen zu wissen.
Lundquist registrierte, dass der gesamte Körper des Neuankömmlings vor unterdrückter Wut bebte.
»Und wer sind die beiden Pfeifen hier?« Breitbeinig baute er sich mitten im Zimmer auf. Kleidung und Haar in tiefem Schwarz, weißgeschminkte Haut, am Mittelfinger der linken Hand ein Totenkopfring.
Die Mutter drehte sich betont langsam zu ihm um. »Mein Sohn Olaf«, stellte sie mit schleppender Stimme vor. »Diese beiden Herren hier sind von der Kriminalpolizei Göteborg. Sven Lundquist und Lars Knyst. Hör zu – dein Vater ist tot. Jemand hat Arne getötet. Deshalb ist die Polizei hier.«
Der Jugendliche warf sich in einen der Sessel, die Beine weit gespreizt, füllte so die gesamte Sitefläche. »Tot? Echt jetet?«
»Ja. Dein Vater wurde ermordet.«
»Scheiße! Während ich gepennt habe? Wer sollte denn ausgerechnet den Pfarrer … Komm, das ist doch völliger Quatsch!«
»Es stimmt«, mischte sich Lundquist ein. »Dein Vater wurde heute Nachmittag umgebracht.«
»Weiß Astrid das schon? Und was ist mit Esther?«
»Astrid ist meine älteste Tochter, Esther das Nesthäkchen. Und: Nein, bisher wissen sie es nicht. Astrid ist bei einer Freundin, die beiden wollen gemeinsam ein Referat ausarbeiten. Esther ist beim Training, ich kann beide nicht über die Handys erreichen.« Die Witwe machte plötzlich einen nervösen Eindruck. »Es wird die beiden hart treffen. Sie sollten nicht unvorbereitet auf die Polizei treffen. Olaf? Könntest du bitte draußen am Tor auf die beiden warten? Es ist ja schon Zeit …«
»Hast du mal rausgesehen? Es gießt!« Widerwillig