Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer

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Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer


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war ganz anders als Irmi. Sie war sanft und still und bescheiden und nachgiebig und Käthe hatte nichts gegen sie. Noch vor Silvester würden Albert und Jenny heiraten, dazu fuhren sie noch einmal zurück nach München, wo Jennys Eltern ein großes Fest ausrichteten. Käthe hielt die Stellung, während Georg mitfuhr mit seinem Lieblingsbruder, er war sein Trauzeuge. Willi fühlte sich hin- und hergerissen. Würde er lieber mit dem Vater gehen oder lieber bei der Mutter bleiben? Bevor sich dazu irgendeiner eine Frage stellte, war es klar, dass das eine von Georgs Extratouren sein würde, die Käthe in Frage stellte, und immer seltener konnte sie mit ihren Vorhaltungen warten, bis Willi schlief, immer öfter wurde er Zeuge von lauter und lauter ausgestoßenen schnellen, scharfen Sätzen, die wie Steine zwischen den Eltern hin und her flogen. Meistens bekam Willi Bauchweh davon und wollte dann nichts mehr essen. Erst wenn er sah, wie sie einander anlächelten, wenn sie sich stumm verständigten über dies und das, was sie eben so und nicht anders haben wollten, dann ließ das Tier in seinem Bauch wieder los und er freute sich auf Fleischbrühe mit Markklößchen und einem Sträußchen im Fett herausgebackener Petersilie.

      16

      Nicht nur im Sommer, sondern das ganze Jahr über sammelte sich damals in Baden-Baden eine große Anzahl von Flüchtlingen der besonderen Art. In den 20er-Jahren vor allem russische Familien mit oder ohne Vermögen, adlige Großstädter, die den politischen Unruhen der Zeit auswichen, Glücksritter, Diplomaten, Spieler. Dazu die vielen, die das Leben dieser Leute angenehm gestalteten, den Nährboden bereiteten für ihr oft zielloses, aber doch kultiviertes Treiben und Tun. Jedes Hotel war ein Ort der Begegnung, eine Bühne für sie.

      „Pass nur auf“, hatte Albert seinem Bruder Georg gesagt, „hier rollt der Rubel! Wenn wir es geschickt anstellen, dann können wir den einen oder anderen in unsere Richtung lenken.“ Auch jetzt in den immer schlechter werdenden Zeiten. Weil die Emigranten alles mitgebracht hatten, den Schmuck und das alte Geld und vor allem auch ihre Kultur, den Wunsch zu tafeln, zu logieren, vielleicht auch zu spielen im Casino und danach den Gewinn zu verprassen, so als ob das Leben morgen schon zu Ende wäre.

      Außerdem lebte hier auf dem Schloss die alte badische Großherzogin mit ihrer kleinen, aber feinen Entourage, und dann gab es noch die Familie Biron, drüben in der Villa Eden, mit den drei Buben, den schönen großen Hunden und dem ganzen Tamtam, das die Baden-Badener machten um solche Bewohner.

      Georg und Käthe mussten noch mehr arbeiten als bisher. Sie waren eingespannt von der Früh’ bis in die Nacht hinein. Immer zu wenig Schlaf. Immer auf dem Quivive. Alles musste flutschen, die Konkurrenz war groß.

      Außer dem Hotelbetrieb nahm man Aufträge an, lieferte dies und das in die privaten Häuser, sogar ins Schloss hinauf, ganz diskret. Die Großherzogin liebte Käthes französische Linzertorte, sie konnte nicht genug davon kriegen, nicht nur im Advent oder für die Festtage, nein, es verlangte ihr immer wieder danach, das ganze Jahr über. Auch ihre Bayerische Creme ließ man schicken. Einmal war Käthe sogar dort im Schloss engagiert für ein Dessertbuffet, als besondere Gäste anwesend waren. Die Kinder der alten Dame, der ehemalige Großherzog und seine Schwester, die schwedische Königin. Das machte Georg stolz. Da wusste er, warum er sie gewollt hatte, seine Käthe.

      Mittenhinein in all das hochwohlgeborene Treiben waren sie also jetzt geraten, Georg, Käthe und ihr Sohn. Wieder gab es eine schöne Villa am Hang, darin unter anderem ein Kinderzimmer und einen Salon.

      Sein Erscheinen in der neuen Schule hatte Willi zu Hause vor dem großen Garderobenspiegel geprobt. Das Kinn gereckt, breitbeinig, die Daumen in die Riemen seiner Schultasche eingehängt und die Ellbogen rechts und links wie eine Bewehrung ausgestellt, so wollte er auftreten. Auftreten wie der Zirkusdirektor im Zirkus Krone, der im letzten Herbst ein Gastspiel in Freiburg gegeben hatte, wohin ihn Friedrichs Mama eingeladen hatte, sie selbst hatte die beiden Buben chauffiert in ihrem schönen Benz.

      Alles klappte hervorragend. Er war der Beste im Kopfrechnen und das erste Diktat ergab eine glatte Eins. Beim Völkerball im Schulhof wurde er von beiden Mannschaftskapitänen angefordert, sie stritten regelrecht um ihn. Und mittags nach der Schule hüpfte er beschwingt zum „Krokodil“ zurück, weil er dort etwas zu essen bekam.

      Irgendwo wurde wieder ein kleines Fleckchen leergeräumt, dort stand dann dampfende Suppe oder ein Stück Fleisch mit Soße, ab und zu Dampfnudeln mit Weinschaum. Weinschaum? War denn das was für einen Sechsjährigen? Also bitte, darum konnte man sich nicht auch noch kümmern, ein Kind musste eben ...

      „... mitlaufen? Willst du das sagen? Ich kann’s nicht mehr hören, Georg. Wir haben ihn doch gewollt, wir haben uns gefreut über ihn, als er kam.“

      „Ja, ja, ja. Aber das sind schwere Zeiten. Da müssen Kinder sich dünn machen. Es ist gut, wenn sie das schnell begreifen.“

      Käthe wusste, woher diese Meinung kam. Das hatte Georg so machen müssen, schnell begreifen, wie das Leben lief. Er hatte sich seinen Platz suchen müssen, der kleine Bub, damals zwischen den Brüdern, auch draußen zwischen den Tabakpflanzen und im Winter dann in der engen Bauernhausstube. Dagegen war Käthe ein Einzelkind gewesen. Der Mittelpunkt ihrer kleinen Familie. Wenigstens eine Zeit lang. Vater, Mutter, Kind. Wenigstens bis der Vater krank wurde und dann mehr und mehr die Aufmerksamkeit der Mutter beanspruchte. Bis er starb, bis dann die Mutter krank wurde und sich daraus eine neue Nähe ergab für die beiden, die Mutter und das heranwachsende Mädchen.

      „Käthe, hier kommen die frischen Erdbeeren, der Bote will gleich das Geld haben.“

      Lang konnte Käthe sich niemals den anderen Gedanken hingeben, denjenigen, die sich nicht um die täglichen Routinen des Hauses drehten. Sie ging an die Theke und suchte die vielen Scheine zusammen, die es brauchte, um diese Schuld zu begleichen.

      Manchmal konnte Georg seine kleine Familie auch überraschen mit ausgefallenen Ideen. Aus dem Blauen heraus nahm er Willi eines Tages bei der Hand, setzte ihn an einen leeren Tisch, dessen Damast glitzerte unter den gläsernen Tropfen der Lüster. Schnipste mit den Fingern und ließ ihm auftischen, seinem Sohn. François, der Chef de Salle, wurde herbeizitiert. Er zog sich die weißen Baumwollhandschuhe an, knöpfte sie über dem Puls zu und räkelte alle zehn Finger in ihrer Verhüllung. Dann ging es los. Zwei Teller übereinander. Zwei Gabeln links, zwei Messer rechts, ein größerer Löffel, ein kleinerer Löffel und eine kleine Gabel hinter dem Teller, jedes einzelne Teil noch einmal liebevoll gestreichelt, so sah es aus, wenn die Besteckteile erneut in den behandschuhten Händen zu ihrem makellosen Glanz gerüstet wurden. Die Serviette aus steifem Leinen wurde neben das Gedeck gelegt. Ein kleines Tellerchen mit kleinem Messer links, drei Gläser rechts hinterm Teller. Wieder schnipste der Vater und hielt plötzlich eine Tasse mit zwei Henkeln in der Hand. Wartete dann wortlos, bis Willi endlich verstand, dass er die Serviette vom Tisch nehmen musste, und sie auf seinen Schoß breitete. Die Suppe roch nach Fisch. Willis Magen revoltierte gegen diesen Geruch.

      „Bon appétit.“

      Das kannte er, diese Zauberformel. Er griff sich den kleinen Löffel, aber bevor er ihn in die Suppe tunken konnte, schleuderte ein schneller scharfer Schlag der väterlichen Hand den Löffel quer über den Tisch. Jetzt kam ein langer Vortrag, wann was wie zu benutzen wäre. Das war der Dessertlöffel, der Suppenlöffel lag hier. Und immer zwischendrin die Lippen mit der Serviette abtupfen. Der Vater ließ die Gläser füllen, nacheinander. Wasser, weißer Wein, roter Wein, ließ die Speisen auftragen. Schon im Mund wurde alles dick und dicker und wollte dann nicht hinunter in den Magen rutschen. Willis Ohren glühten, er schlenkerte mit den Beinen, um seine Nervosität abzuleiten.

      Da rief es von hinten und der Vater wurde gebraucht. Willi ließ Gabel und Messer fallen. Gott sei Dank musste er nicht weiteressen, er wollte es nicht und er würde es nicht tun. Er schlich sich hinaus auf die Straße und marschierte los, dabei rannen ihm die Tränen über die Wangen. Irgendwann drehte er um, versuchte seinen Weg zurückzufinden, es dauerte lange, wurde schon dunkel und ihm war kalt. Jetzt würde er noch geschimpft, dass er sich aus dem Haus bewegt hatte, davor graute ihm schon. Aber keiner hatte ihn vermisst. Als er an der Theke auf den Vater traf, lächelte der ihn an und sagte: „Na, Lektion gelernt?“

      Da wunderte sich Willi sehr und lächelte zurück. Georg zwinkerte ihm zu, schob ihn in die Küche und ermahnte ihn: „Hausaufgaben nicht


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