Ein herrliches Vergessen. Petra Häußer

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Ein herrliches Vergessen - Petra Häußer


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direkt neben einem Mann, der Klavier spielte, und es dunkel wurde und vorne auf einer großen Fläche Bilder entstanden, die sich bewegten, und sie eintauchen konnten in eine andere Welt, ihre eigene Bedingtheit, ihre Sorgen, die quälenden Unzulänglichkeiten ihres realen Lebens vergessend.

      Es war eine aufregende spannende Geschichte von einem kleinen Jungen und einem Mann, die sich zufällig treffen. Der Mann ist Glaser, aber keiner in der Stadt braucht neue Fenster. Da haben sie zusammen eine rettende Idee: Der Junge wirft Steine in die Fenster und rennt schnell weg. Daraufhin kommt der Mann und bietet an, sie zu reparieren, was nun gerne jeder annimmt. Als ein großer dicker Polizist den beiden auf die Schliche kommt, wollte Willi aufstehen und gehen. Gott sei Dank blieb er dann doch sitzen bis zum guten Ende.

      Tagelang sah er die Bilder immer wieder vor sich, erinnerte sich an die Geschichte, plagte die Mutter, noch einmal mit ihm dorthin zu gehen zum Kinematographen, aber sie hatte einfach keine Zeit dazu, das musste er doch verstehen. Jenny ließ sich schließlich von ihm gewinnen mitzukommen. Der Mann an der Kasse erinnerte sich noch an ihn, weil Herr von Majakovsky ihn förmlich vorgestellt hatte, „der Kleine aus dem ,Krokodil‘ “, sagte er und der Mann an der Kasse nickte Verstehen.

      „Na, mein Freund, hat’s dir so gut gefallen?“, begrüßte er ihn lächelnd. Und Willi nickte.

      Von da an machte er sich regelmäßig auf nach dem Mittagessen, wenn die Hausaufgaben fertig waren, und schlenderte hinüber ins Aurelia Kino zu Herrn Beck, so hieß der Besitzer, sein neuer Freund, nur um ihm guten Tag zu sagen oder vielleicht um die Prospekte in der Eingangshalle zu sortieren, die abgerissenen Eintrittskarten und die Bonbonpapiere vom Boden zu sammeln oder auch alles, was die Damen und Herren so zwischen die Stuhlreihen hatten rutschen lassen, für Herrn Kammerle, den Pianisten, die Noten zu sortieren, ihm sein Bier und seinen Wurstweck zu bringen, und dies und das.

      Kurz vor Weihnachten rief Herr Beck Willi zu sich und hielt ein kleines grünes Blatt in der Hand.

      „Weißt du, was das ist, Willi?“

      Nein, er wusste es nicht.

      „Das ist ein kleines Wunder. Es ist ein Geldschein, ein ganz neuer. Eine Rentenmark. Die kriegst du jetzt von mir für alle deine Arbeit, die du für mich hier geleistet hast. Wer arbeitet, hat verdient, bezahlt zu werden. Schau sie dir an, diese neue Mark. Sie ist klein, aber fein. Auf die werden wir uns wieder verlassen können.“

      Willi steckte das Papier ein und zeigte es niemandem. Eine Weile trug er es in der Hosentasche, kruschtelte es immer wieder heraus und betrachtete es. Dann legte er es irgendwann vorsichtig in die Zigarrenkiste, die er von Herrn von Majakovsky geschenkt bekommen hatte und in der er seine Klebebildchen aufbewahrte. Lange überlegte er hin und her, was er dafür kaufen könnte. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt betrat er nun das ein oder andere Geschäft und fragte nach den Preisen der Waren, die man dort ausgestellt hatte. Was kostete diese Bonboniere, dieses Stück Seife, diese Zigarre? Für seinen Vater als Geschenk wäre sie gedacht. Aha, nickte der Verkäufer und gab ihm freundlich Auskunft. Die genannten Zahlen hörte er sich an, schrieb sie zu Hause in ein Heft und grübelte darüber nach, wie er so viel Geld zusammensparen könnte.

      Jenny schaffte es besser als die Eltern, ihm zuzuhören, auch wenn er einfach so auftauchte mitten am Tag, ohne darauf zu achten, womit sie gerade beschäftigt war. Meist saß sie im Büro und hatte Berge von Papieren vor sich liegen oder sie schrieb viele kleine Zahlen untereinander in ein dickes Buch, mit gestochen schöner Schrift. Die konnten nicht zusammenfallen wie Käthes Soufflé, oder kalt werden wie der Rôti de Jour, den es schnell aufzutischen galt. Und manchmal brauchte nicht er Jenny, sondern sie brauchte ihn. Als Begleitung zum Einkaufen. Sie nahm ihn mit in die schönen Modegeschäfte, er musste sich auf einen Stuhl setzen und warten, bis sie sich in einer kleinen Kabine ein Kleid aus der Auslage angezogen hatte, sich vor ihn stellte und ihn erwartungsvoll ansah.

      „Und? Wie steht mir das? Wie sehe ich aus?“

      Dann durfte man nicht einfach „schön“ sagen, obwohl sie das war. Sie war immer schön! Man musste sich Mühe geben, das zu umschreiben.

      „Diese Farbe passt gut zu deiner Haarfarbe. Man kann deine schönen seidenen Strümpfe sehen, das gefällt mir. Das graue Kleid mit dem Pelzrand sieht eleganter aus als das grüne. Die Perlen am Halsausschnitt glitzern so fröhlich wie deine Augen.“

      Bald hatte er eine Anzahl schöner Sätze parat, die Jenny glücklich machten. Wenn sie schon weder mit Albert noch mit einer Freundin einkaufen gehen konnte wie damals zu Hause in München, dann musste Willi ihr doch ein guter Ersatzkamerad sein. Aber meistens sagte Jenny dann eben diesen Satz, dass sie es sich noch einmal überlegen müsste. So war das Einkaufen ein Spiel mit Möglichkeiten und ein herrlicher Zeitvertreib. Besser war es allerdings, sich bei der Rückkehr nicht von der Mutter erwischen zu lassen, weil es sie ein bisschen nervös machte, wenn er seine Zeit mit Jenny verbrachte, und weil sie eigentlich wollte, dass er endlich wieder mit den Buben aus seiner Klasse spielen ging. Ein Kind gehörte unter Kinder.

      19

      Als es wärmer wurde, ließ er sich also von Amir Komarowski abholen zum Fahrradfahren oder zum Ballspielen auf der Lichtenthaler Allee, dann später zum Tennisbälle Einsammeln an den Plätzen, wo die Herren der großen Villen am Hang sich nach und nach einfanden, da war dann auch der Hermann dabei, der Sohn vom Pfarrer, und der Kurt, der Sohn vom Kurarzt. Am Ende eines langen Nachmittags steckte man jedem der Buben eine Münze zu, einen Zehner, einen Fünfziger oder einmal sogar eine Mark-Münze. Das Geld wanderte in die Zigarrenkiste und sammelte sich dort an. Manchmal legte Willi alles auf seinen Schreibtisch nebeneinander, dann zählte er die Münzen, notierte sie nach Wert, addierte am Schluss und unterstrich diese Summe, indem er sein hölzernes Lineal zu Hilfe nahm, das letzte Weihnachtsgeschenk von Mine und Fried. Diese Summe gab ihm Anlass, beim Einschlafen über Anschaffungen nachzudenken und sich auszumalen, wie der Erwerb dieser Dinge sein Leben verändern könnte.

      So und ein bisschen anders ging es weiter. Willi brauchte neue Hosen, weil die anderen zu kurz geworden waren und der Hosenbund spannte, er brauchte neue Stiefel, er schrieb nicht mehr auf die Schiefertafel, sondern in richtige Hefte aus Papier. Die Mutter durfte ihn nicht mehr küssen, wenn der Hermann und der Amir ihn abholten, er brachte Jenny eine Rose mit, als sie Geburtstag hatte – nach langem Hin und Her: sollte er sie einfach abpflücken, dort in der Anlage, wo so unzählig viele nebeneinander standen und eigentlich doch keiner eine besondere Bewunderung zukam, eine der Art, wie Jenny sie zollen würde, davon war er überzeugt, oder war das eventuell Diebstahl und könnte er von einem dicken Polizist am Jackenkragen gepackt und ins Gefängnis gezerrt werden? Also wäre es nicht besser, diese Rose mit eigenem Geld, das er doch hatte, in einem Blumenladen zu kaufen? Dabei fühlte er sich dann wohler, er hätte keine Entschuldigung gehabt für den Diebstahl, das wäre das größte Problem gewesen.

      An einem Abend im November, als er nicht allein nach Hause gehen wollte und sich deshalb bis spät in die Nacht noch auf der Lauer befand, wann die Eltern wohl endlich Schluss machen würden und er mit ihnen zusammen zurückgehen könnte in das kalte, leere dunkle Haus am Hang, vertrieb er sich die Zeit damit, so viele halb leere Weingläser an der Theke auszutrinken, dass ihm schwindelig davon wurde und er in die große Bodenvase taumelte, sie umriss, sodass sie zerbrach und das Wasser sich über den spiegelglatten Marmorboden der Eingangshalle ergoss.

      Der Vater kam gerannt mit allen anderen, die den Lärm hörten, stemmte die Hände in die Hüften und polterte: „Was ist denn da los“, griff sich seinen Sohn, schnupperte an ihm und dann begann er zu lachen, er lachte noch immer, als Käthe Willi an der Hand nahm und wegzog und dabei ein sehr böses Gesicht machte.

      Man konnte eigentlich nie sicher sein, wie etwas ausgehen würde, am besten man war immer auf alles gefasst und überlegte schon mal, was man tun könnte, wenn ...

      „Wir leben noch“, sagte Amir immer. Er sagte eigentlich wir „läbben noch“. Und das sei das Wichtigste. Alles andere lasse sich irgendwie richten, solange man noch seine Arme und Beine habe und vor allem seinen Kopf auf dem Hals.

      Inzwischen war Willi zehn Jahre alt geworden und würde bald nach Weihnachten schon elf Jahre alt sein.

      Am 12. November kam


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