Das Haus der Freude. Edith Wharton
Читать онлайн книгу.zu, wohin er sie fahren solle.
II
In der Droschke lehnte sie sich mit einem Seufzer zurück.
Warum musste man als Mädchen so teuer für das geringste Abweichen von der Normalität bezahlen? Warum konnte man nie etwas ganz Natürliches tun, ohne es hinter einem kunstvollen Gebäude kleiner Listen verbergen zu müssen? Sie hatte einem Impuls nachgegeben, als sie in Lawrence Seldens Wohnung mitgegangen war, und es war so selten, dass sie sich den Luxus impulsiven Handelns erlauben konnte! Diesmal würde es sie jedenfalls mehr kosten, als sie sich leisten konnte. Es beunruhigte sie sehr, dass sie erkennen musste, dass sie trotz jahrelanger Wachsamkeit zweimal innerhalb von fünf Minuten einen Fehler begangen hatte. Die dumme Geschichte von der Schneiderin war schlimm genug – es wäre so einfach gewesen, Rosedale zu erzählen, dass sie mit Selden Tee getrunken hatte! Die reine Feststellung der Tatsache hätte diese in harmlosem Licht erscheinen lassen. Aber nachdem sie sich einmal bei einer Unwahrheit hatte ertappen lassen, war es doppelt dumm gewesen, den Zeugen ihrer Verwirrung so schroff abzufertigen. Hätte sie Geistesgegenwart genug bewiesen und Rosedale erlaubt, sie zum Bahnhof zu fahren, so hätte dieses Zugeständnis vielleicht sein Schweigen erkaufen können. Er verfügte über die Genauigkeit seiner Rasse im Abschätzen von Werten, und zu einer lebhaft bevölkerten Nachmittagsstunde in Gesellschaft von Miss Lily Bart den Bahnsteig entlangzugehen, wäre bares Geld in seiner Tasche gewesen, wie er es vielleicht selbst ausgedrückt hätte. Er wusste natürlich, dass auf Bellomont eine große Gesellschaft gegeben würde, und die Möglichkeit, für einen von Mrs. Trenors Gästen gehalten zu werden, hatte er bei seinen Kalkulationen sicher berücksichtigt. Mr. Rosedale war zurzeit noch in einem Stadium seines sozialen Aufstiegs, in dem es wichtig war, solche Eindrücke hervorzurufen.
Das Ärgerliche war, dass Lily all das wusste, wusste, wie einfach es gewesen wäre, ihn auf der Stelle zum Schweigen zu bewegen, und wie schwierig es werden würde, dies im Nachhinein zu tun. Mr. Simon Rosedale gehörte zu den Menschen, die es sich zur Aufgabe machen, alles über jedermann in Erfahrung zu bringen; er glaubte, seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft dadurch unter Beweis stellen zu können, dass er eine lästige Vertrautheit mit den Gewohnheiten derjenigen zeigte, die er gern als gute Bekannte hingestellt hätte. Lily war davon überzeugt, dass innerhalb von vierundzwanzig Stunden die Geschichte von ihrem Besuch bei ihrer Schneiderin im Benedick unter Mr. Rosedales Bekanntschaft in regem Umlauf sein würde. Das Schlimmste bei alledem war, dass sie ihn immer abweisend behandelt oder ganz ignoriert hatte. Bei seinem ersten Auftreten in der Gesellschaft – als ihr unbedachter Cousin Jack Stepney ihm eine Einladung für eine der ausufernden, unpersönlichen Van-Osburgh-»Riesengesellschaften« besorgt hatte (zum Ausgleich welcher Art von Gefälligkeiten war nur zu leicht zu erraten) –, war Rosedale mit dieser Mischung aus künstlerischem Einfühlungsvermögen und geschäftlicher Cleverness, die seiner Rasse eigen ist, instinktiv zu Miss Bart hingezogen worden. Sie durchschaute seine Motive, denn ihr eigenes Vorgehen wurde von ebenso hübschen Berechnungen gesteuert. Erziehung und Erfahrung hatten sie gelehrt, sich gegenüber Neuankömmlingen gastfreundlich zu verhalten, da sogar ganz und gar nicht Vielversprechende ihr später von Nutzen sein konnten; außerdem gab es genug »Verliese«, die sie verschlucken würden, wenn sie es nicht waren. Aber ein instinktiver Widerwille hatte all die Jahre gesellschaftlicher Disziplin zunichtegemacht und sie Mr. Rosedale ohne jegliche Anhörung in sein »Verlies« abschieben lassen. Er hinterließ nur noch die kleine Welle des Amüsements, das sein schleuniges Abgefertigtwerden bei ihren Freunden hervorrief; und obwohl er später (um die Metapher zu wechseln) weiter unten im Strom wieder auftauchte, war es doch nur für flüchtige Augenblicke mit langen Zwischenzeiten, in denen er unter der Oberfläche blieb.
Bisher war Lily nicht von Skrupeln geplagt worden. In ihrem unmittelbaren Kreis hatte man Mr. Rosedale für »unmöglich« erklärt und man ließ Jack durchaus die Verachtung spüren, die man für seinen Versuch empfand, seine Schulden mit Abendeinladungen zu bezahlen. Sogar Mrs. Trenor, deren Sinn für Abwechslung schon zu einigen riskanten Experimenten geführt hatte, weigerte sich, auf Jacks Bemühungen einzugehen und Rosedale als gesellschaftliche Neuheit auszugeben; sie erklärte, dass dieser kleine Jude ja wohl, soweit sie sich erinnern konnte, bereits ein Dutzend Mal der Gesellschaft serviert und von ihr zurückgewiesen worden war; und solange Judy Trenor unbeugsam blieb, waren Mr. Rosedales Chancen äußerst gering, über den äußeren Kreis der Van-Osburgh-Riesenempfänge hinaus in die Gesellschaft einzudringen. Jack gab das Rennen mit einem lachenden »Ihr werdet schon sehen« auf, blieb aber mannhaft bei seinen Waffen und zeigte sich mit Rosedale in den Restaurants, die gerade in Mode waren, in Gesellschaft persönlich sehr farbiger, gesellschaftlich aber eher obskurer Damen, die für solche Zwecke jederzeit zur Verfügung stehen. Seine Bemühungen waren bisher jedoch umsonst gewesen, und da Rosedale ohne Zweifel für die Dinners zahlte, hatte der Schuldner bisher den größeren Gewinn von der Sache.
Mr. Rosedale war daher, wie unschwer zu erkennen ist, noch kein Faktor, den man fürchten musste –, es sei denn, man begab sich in seine Gewalt. Und das war genau, was Miss Bart getan hatte. Ihre unbeholfene Schwindelei hatte ihm gezeigt, dass sie etwas zu verbergen hatte; und sie war sicher, dass er noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen hatte. Etwas in seinem Lächeln sagte ihr, dass er nicht vergessen hatte. Sie versuchte mit leisem Schaudern, den Gedanken loszuwerden, aber er verfolgte sie den ganzen Weg zum Bahnhof und auch den Bahnsteig entlang mit einer Beharrlichkeit, als wäre er Mr. Rosedale selbst.
Sie hatte gerade noch Zeit, ihren Platz einzunehmen, bevor der Zug anfuhr; aber nachdem sie sich einmal in ihrer Ecke zurechtgesetzt hatte mit dem instinktiven Gefühl für Wirkung, das sie nie im Stich ließ, schaute sie sich um in der Hoffnung, noch andere Gäste der Trenor-Party zu sehen. Sie wollte sich von sich selbst ablenken, und Konversation war das einzige Fluchtmittel, das sie kannte.
Ihre Suche wurde mit der Entdeckung eines sehr blonden Mannes mit weichem rötlichem Bart belohnt, der am andern Ende des Wagens offenbar versuchte, sich hinter einer entfalteten Zeitung zu verbergen. Lilys Augen leuchteten, und ein kleines Lächeln entspannte ihre Mundwinkel. Sie hatte gewusst, dass Mr. Percy Gryce auf Bellomont sein würde, aber sie hatte nicht mit dem glücklichen Zufall gerechnet, ihn im Zug für sich zu haben. Diese Tatsache vertrieb alle beunruhigenden Gedanken an Mr. Rosedale. Vielleicht würde der Tag schließlich doch noch besser enden, als er begonnen hatte.
Sie fing an, die Seiten ihres Romans aufzuschneiden, wobei sie in aller Ruhe ihre Beute durch die niedergeschlagenen Wimpern hindurch betrachtete und sich gleichzeitig eine geeignete Methode für den Angriff zurechtlegte. Etwas in seiner Haltung völligen Aufgehens in seine Lektüre sagte ihr, dass er sich ihrer Anwesenheit bewusst war: Kein Mensch war jemals derartig in eine Abendzeitung vertieft gewesen! Sie erriet, dass er zu schüchtern war, um zu ihr zu kommen, und dass ihr eine Möglichkeit, ihn anzusprechen, einfallen müsste, die nicht wie ein Annäherungsversuch von ihrer Seite wirken durfte. Der Gedanke, dass jemand, der so reich war wie Mr. Percy Gryce, schüchtern sein könnte, amüsierte sie; aber sie hatte sehr viel Nachsicht mit solchen Eigenarten, und außerdem konnte seine Schüchternheit ihren Zwecken besser dienen als zu viel Selbstsicherheit. Sie verstand die Kunst, den Verlegenen Selbstbewusstsein zu vermitteln, aber sie war nicht sicher, ob sie ebenso über die Fähigkeit verfügte, selbstbewusste Menschen in Verlegenheit zu bringen.
Sie wartete, bis der Zug den Tunnel verlassen hatte und durch die ärmlichen Ausläufer der nördlichen Vororte raste. Dann, als er seine Geschwindigkeit in der Nähe von Yonkers verlangsamte, stand sie auf und ging langsam den Wagen entlang. Als sie an Mr. Gryce vorüberging, schlingerte der Zug plötzlich, und er merkte, dass eine schmale Hand sich an der Rücklehne seines Sitzes festhielt. Er fuhr erschreckt auf, sein argloses Gesicht sah aus, als ob man es in karmesinrote Farbe getaucht hätte, sogar die rötliche Färbung seines Bartes schien sich zu vertiefen.
Der Zug schwankte wieder und warf Miss Bart dabei fast in seine Arme. Sie verschaffte sich mit einem Lachen Halt und trat ein wenig zurück, aber er wurde vom Duft ihres Kleides umhüllt, und seine Schulter hatte ihre flüchtige Berührung gespürt.
»Oh, Mr. Gryce, Sie sind es? Es tut mir ja so leid – ich habe gerade versucht, den Steward zu finden, um eine Tasse Tee zu bekommen.«
Sie gab ihm die Hand, als der Zug seine normale Geschwindigkeit wieder aufnahm, und stand dann