Das Haus der Freude. Edith Wharton

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Das Haus der Freude - Edith Wharton


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sich fast sicher, dass sie ihn »erobert« hatte; noch ein paar Tage Arbeit und sie würde ihre Belohnung davontragen. Aber gerade jetzt erschien ihr dieser Lohn nicht sehr verlockend, sie konnte bei dem Gedanken an ihren Sieg keine Freude finden. Es würde nur eine Erholung von ihren Sorgen sein, mehr nicht – und wie wenig wert wäre ihr das noch vor ein paar Jahren erschienen: Ihre Ambitionen waren in der ausdörrenden Luft des Versagens immer kleiner geworden. Aber warum hatte sie versagt? War es ihr Fehler oder der des Schicksals gewesen?

      Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter, nachdem sie ihr Vermögen verloren hatten, mit einer Art grimmiger Rachsucht zu sagen pflegte: »Aber du wirst alles zurückbekommen – du wirst alles zurückbekommen, mit deinem Gesicht …« Die Erinnerung rief in ihr eine ganze Reihe von Gedanken wach, und sie lag in der Dunkelheit und ließ die Vergangenheit, aus der ihre Gegenwart erwachsen war, wieder auferstehen.

      Ein Haus, in dem niemand daheim das Essen einnahm, es sei denn man hatte eine »Gesellschaft«; eine ewig bimmelnde Türglocke; in der Empfangshalle ein Tisch, der mit quadratischen Umschlägen überhäuft war, die man in aller Eile öffnete, und mit länglichen, denen man erlaubte, in den Tiefen einer Bronzeschale zu verstauben; eine Reihe französischer und englischer Zofen, die ihre Kündigung mitten im Chaos eilig durchsuchter Kleiderschränke und Ankleidezimmer aussprachen; eine ebenso schnell wechselnde Dynastie von Kindermädchen und Bediensteten; Streitereien in Vorratskammer, Küche und Salon; überstürzte Reisen nach Europa und dann die Rückkehr mit vollgestopften Koffern und mit Tagen, an denen man endlos auspackte; halbjährige Diskussionen darüber, wo der Sommer verbracht werden sollte; graue Zeiten der Sparsamkeit und glanzvolle Zeiten des Geldausgebens – das war der Hintergrund von Lily Barts ersten Erinnerungen.

      Über dieses turbulente Element, das den Namen »Zuhause« trug, herrschte die lebhafte und entschlossene Gestalt einer Mutter, noch jung genug, ihre Ballkleider zu Fetzen zu tanzen, während die verschwommenen Umrisse eines Vaters in eher neutralen Farben den Raum zwischen dem Butler und dem Mann einnahm, der kam, um die Uhren aufzuziehen. Sogar in ihren kindlichen Augen war Mrs. Hudson Bart jung erschienen, aber Lily konnte sich an keine Zeit erinnern, in der ihr Vater nicht kahlköpfig und leicht gebeugt gewesen wäre, mit grauen Strähnen im noch verbliebenen Haar und einem müden Gang. Es war ein Schock für sie, als sie später erfuhr, dass er nur zwei Jahre älter als ihre Mutter gewesen war.

      Lily sah ihren Vater selten bei Tageslicht. Den ganzen Tag über war er »im Geschäft«, und im Winter war es lange nach Einbruch der Dunkelheit, wenn sie seine erschöpften Schritte auf der Treppe und dann seine Hand an der Tür des Schulzimmers hörte. Er hatte sie gerade ganz still geküsst und das Kindermädchen oder die Erzieherin das eine oder andere gefragt, da kam auch schon Mrs. Barts Zofe, um ihn daran zu erinnern, dass er auswärts essen würde, und er ging – nach einem Nicken für Lily – eilig davon. Im Sommer, wenn er sich ihnen für einen Sonntag in Newport oder Southampton anschloss, schien er noch weiter weg und stiller als im Winter zu sein. Es sah so aus, als ermüde es ihn, wenn er sich ausruhen sollte, und er saß dann stundenlang da und starrte aus einer ruhigen Ecke der Veranda auf den Meereshorizont, während die Unruhe, die das Leben seiner Frau verbreitete, ein paar Meter entfernt unbeachtet weiterging. Im Allgemeinen fuhren Mrs. Bart und Lily jedoch den Sommer über nach Europa, und noch bevor das Dampfschiff die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, war Mr. Bart hinter dem Horizont verschwunden. Manchmal hörte seine Tochter, wie er dafür gerügt wurde, dass er nicht daran gedacht hatte, Mrs. Barts Uberweisung zu schicken, doch die meiste Zeit wurde er weder erwähnt, noch dachte man an ihn, bis seine geduldige, gebeugte Gestalt am Dock in New York auftauchte, um als Prellbock zwischen den ungeheuren Gepäckbergen seiner Frau und den Bestimmungen des amerikanischen Zolls zu fungieren.

      Auf diese unstete und doch erregende Weise verbrachte Lily ihre Jugendjahre; im Zickzackkurs glitt das Familienschiff auf einem schnellen Strom der Vergnügungen dahin, hin und her gezogen von der Unterströmung eines ständigen Mangels – des Mangels an Geld. Lily konnte sich nicht an die Zeit erinnern, in der sie Geld genug gehabt hatten, und auf vage Art schien ihr Vater immer an dieser Unzulänglichkeit schuld zu sein. Es konnte jedenfalls mit Sicherheit nicht Mrs. Barts Fehler sein, von der ihre Freunde sagten, sie könne »wunderbar wirtschaften«. Mrs. Bart war berühmt für die unbegrenzten Wirkungen, die sie mit begrenzten Mitteln erzielte, und für die Dame selbst und für ihre Bekannten lag etwas Heroisches darin, so zu leben, als wäre man viel reicher, als es das Kontobuch verzeichnete.

      Natürlich war Lily stolz auf die Tüchtigkeit ihrer Mutter in dieser Beziehung; sie war in dem Glauben erzogen worden, dass man, koste es, was es wolle, einen guten Koch haben und, wie Mrs. Bart es nannte, »anständig angezogen« sein musste. Mrs. Barts schlimmster Vorwurf ihrem Gatten gegenüber war die Frage, ob er denn erwarte, dass sie »im Dreck« leben sollten, und seine verneinende Antwort wurde immer als Rechtfertigung dafür angesehen, in Paris per Telegramm das eine oder andere zusätzliche Kleid zu bestellen und den Juwelier anzurufen, dass er schließlich doch das Türkisarmband schicken sollte, das Mrs. Bart sich am Morgen angesehen hatte.

      Lily kannte Leute, die »im Dreck« lebten, und deren Erscheinung und Umgebung rechtfertigten den Widerwillen ihrer Mutter gegen eine solche Lebensform. Diese Leute waren meist Cousins, die in schäbigen Häusern wohnten, mit Kupferstichen nach Coles »Reise des Lebens«2 an den Wänden ihres Salons und schlampigen Hausmädchen, die »Ich werde nachsehen« zu den Besuchern sagten, die ihre Visite zu einer Stunde machten, in der alle anständigen Leute herkömmlicherweise oder auch wirklich ausgegangen waren. Das Widerwärtige an der Sache war, dass viele dieser Cousins reich waren, so dass in Lily die Vorstellung entstand, dass Leute, die im Dreck lebten, es aus freier Wahl taten und weil ihnen jegliches Anstandsniveau in ihrem Verhalten fehlte. Dies vermittelte ihr das Gefühl bewusster Überlegenheit, und Mrs. Barts Kommentare über die Vogelscheuchen und Geizhälse in der Familie waren nicht notwendig, um Lilys von Natur aus ausgeprägten Geschmack am Luxus zu fördern.

      Lily war neunzehn, als die Umstände sie zwangen, ihre Weltsicht zu revidieren.

      Im Jahr zuvor hatte sie ein glanzvolles Debüt gehabt, an dessen Rand allerdings eine schwere Gewitterwolke voller Rechnungen aufzog. Das Licht ihres Debüts hing noch am Horizont, aber die Wolke war dunkler geworden und plötzlich brach sie auf. Diese Plötzlichkeit verstärkte den Schrecken, und es gab noch immer Zeiten, in denen sie von neuem mit schmerzhafter Genauigkeit jede Einzelheit des Tages durchlebte, an dem der Schlag fiel. Sie und ihre Mutter hatten am Mittagstisch gesessen, vor ihnen das chaufroix3 und kalter Lachs vom Dinner des vergangenen Abends; es gehörte zu Mrs. Barts wenigen Einsparungen, im Familienkreis die teuren Überbleibsel ihrer Gastlichkeit zu verzehren. Lily empfand die angenehme Mattigkeit, welche die Strafe der Jugend dafür ist, bis zum Morgengrauen getanzt zu haben; ihre Mutter aber war trotz einiger Linien um den Mund und auf ihren Schläfen unter den blonden Haarwellen so munter, entschlossen und rosig, als ob sie nach ungestörtem Schlaf aufgestanden wäre.

      In der Mitte des Tisches zwischen den schmelzenden marrons glacés4 und den kandierten Kirschen erhob eine Pyramide aus Rosen ihre kräftigen Stengel; die Blumen hielten ihre Köpfe so hoch wie Mrs. Bart, aber ihre rosarote Farbe hatte sich in verbrauchtes Lila verwandelt, und Lilys Sinn für das Angemessene wurde durch ihr Wiederauftauchen auf dem Mittagstisch verletzt.

      »Ich finde wirklich, Mutter«, sagte sie vorwurfsvoll, »wir könnten uns zum Mittagessen ein paar frische Blumen leisten. Nur ein paar Narzissen oder Maiglöckchen –«

      Mrs. Bart sah ausdruckslos vor sich hin. Ihre eigene Überempfindlichkeit richtete sich auf die Welt, und es war ihr gleichgültig, wie ihr Mittagstisch aussah, wenn niemand da war außer ihrer Familie. Aber sie lächelte über die Unschuld ihrer Tochter.

      »Maiglöckchen«, sagte sie ruhig, »kosten zurzeit zwei Dollar das Dutzend.«

      Lily war unbeeindruckt. Sie wusste sehr wenig vom Wert des Geldes.

      »Wir würden nicht mehr als sechs Dutzend brauchen, um diese Schale zu füllen«, wandte sie ein.

      »Sechs Dutzend wovon?«, fragte die Stimme ihres Vaters an der Türe.

      Die zwei Frauen schauten erstaunt auf, denn, obwohl es Samstag war, war der Anblick von Mr. Bart zur Mittagszeit doch ungewohnt. Aber weder seine Frau noch seine Tochter waren interessiert


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