Paganini - Der Teufelsgeiger. Christina Geiselhart
Читать онлайн книгу.ich die amphitheatrisch angelegte Stadt und ihren Hafen zu meinen Füßen wahr. Ungleich aneinandergeschmiegt, klettern die Häuser fast bis zu mir herauf. Sie stehen so schief, dass man mutmaßt, sie könnten ohne die Stütze des Nachbarhauses sogleich einstürzen. Da und dort ragt ein Kirchturm wie ein ausgestreckter Finger in den Himmel und weiter draußen erhebt sich La Lanterna. Dort, wo ich gerade bin, schlendern ein paar Müßiggänger und Maler sitzen herum. Die Weite, das Grün, der silberne Teppich des Meeres, in dem der Himmel schaukelt, tun mir und meinen Augen gut. Aber ich schlendere auch gerne durch die schmutzigen Straßen Genuas. Beobachte die Anwohner, wie sie an warmen Tagen wie dem heutigen herumspazieren oder auf Treppenstufen sitzen oder an niedrigen Mauern lehnen und schwatzen. Oft vernachlässigt, in verwahrlosten Kleidern. Manchmal stoße ich in den Torwegen und an Straßenecken auf verwelkte Frauen. Sie tragen ihr graues, verfilztes Haar auf dem Hinterkopf zu einem hässlichen Kissen geknotet, worunter ein Heer von Läusen zu vermuten ist. Ich senke den Blick, sobald ich an ihnen vorbeikomme. Manche sind nicht älter als Mama und mir stehen die Haare zu Berge bei dem Gedanken, sie könnte eines Tages so aussehen. Über ihre Spindeln gebeugt, erinnern sie an Hexen, denen nur der Besen fehlt.
Ach, Genua, du gefällst mir in deiner Vielfältigkeit, aber ich werde niemals einer deiner schlurfenden, alternden Bewohner werden, denn ich muss weiter. Ich spüre in meinem eckigen Körper den Drang, ich spüre das eilige Klopfen meines Herzens und hinter meiner Stirn toben Tausende von winzigen Melodien, die wachsen, wachsen, zu einem weitverzweigten Geäst in den Himmel.
13
„Mehrere Jahrhunderte vor Christus entstand am Fuß der Apenninen in den tiefen Tälern Liguriens meine Heimatstadt Genua. Und es hieß, Janus, der Römergott mit den zwei Gesichtern, habe sie gegründet. Von ihm stamme ihr Name Ianua, die Pforte zwischen Meer und Bergen.“ An allen Abenden, die Giorgio zu Hause verbrachte erzählte er den Kindern etwas über Italien. Sie sollten seine Geschichte kennen und in Liebe zu ihrem Land aufwachsen. Still wie Mäuschen lauschten Carlotta und Andrea. Aufmerksam hingen sie an seinen Lippen. Hin und wieder machte Giorgio eine Pause und schloss die Augen. Er war zwar noch keine vierzig Jahre alt, aber fühlte sich erschöpft wie ein Sechzigjähriger nach einem arbeitsreichen Leben. Nur schwer verkraftete er den Tod seines Sohnes Umberto. Als er ihn beim ausgelassenen Spiel in die Luft geworfen hatte und wieder auffangen wollte, war er ihm entglitten und mit der Schläfe gegen die Tischkante geschlagen. Seine Frau Giuliana hatte ihm sein Ungeschick noch nicht verziehen. Daran änderte auch Andrea nichts, der nach der erneuten Verhaftung seines Vaters und dem Tod seiner Mutter die Familie Servetto bereicherte. In der Zwischenzeit war Buonarotti freigekommen und agierte im Untergrund radikaler als zuvor. Während Giorgio gemeinsam mit Di Negro ein verzweigtes Netz der Carbonari unter gebildeten und adligen Anhängern webte, flüchtete Buonarotti in die Schweiz, von wo aus er sein radikales Programm leitete. Er blieb mit Giorgio in Kontakt und erwartete von ihm, den Sohn Andrea in seinem Sinne zu erziehen.
„Wann ist die nächste Zusammenkunft bei Di Negro?“ Andrea war mittlerweile zwölf und hungrig nach Bildung, deswegen konnte er sich nicht satt hören an Giorgios verbalen Ausflügen in die Geschichte Genuas. Aber es drängte ihn auch, andere interessante Menschen kennenzulernen. Bei Di Negro verkehrte der um vier Jahre ältere Silvio Pellico Silvio, Dichter und leidenschaftlicher Verfechter eines geeinten Italiens. Er hatte das Gesicht eines Vogels, tiefliegende Augen, einen verwachsenen Körper, doch seine schäumenden Reden imponierten Andrea. Bei Di Negro traf er auch Margherita, siebenjährig und schön wie ein Traum. Oft verspürte Andrea das Verlangen, in ihre venezianischen Locken zu greifen.
„Die nächste Zusammenkunft ist nicht heute und auch nicht morgen, Andrea! Di Negro ist augenblicklich sehr mit der Förderung eines vielversprechenden jungen Violinisten beschäftigt. Ich kenne ihn sogar sehr gut. Als er vier Jahre alt war, hielt man ihn für tot. Heute spielt er wie der Teufel.“
„Der Marchese vergisst dabei auch nicht unsere gute Sache?“
„Niemals, Andrea! Aber beeile dich mit dem Erwachsenwerden. Wir brauchen junge Menschen wie dich. Die Carbonari sind noch nicht auf dem Höhepunkt ihrer Macht.“ Giorgio bat die Kinder, etwas Holz nachzulegen und dann hinauszugehen. Er sagte, er müsse ein wenig arbeiten. Dichter am Kaminfeuer sitzend, dachte er darüber nach, wie öde das Leben doch wäre, gäbe es nicht den Kampf um Italiens Einheit. Seine Frau behandelte ihn kühl, seine Freunde am Hafen begegneten ihm skeptisch, Antonio sah er kaum noch und die Arbeit als Schiffspacker füllte ihn nicht aus. Gerne ginge er als Befreier Italiens in die Geschichte ein. Berühmt werden wie Andrea Doria oder Columbus. Gleichzeitig spürte er, dass er dafür weder das Profil noch die Courage hatte. Er musste sich mit der Rolle des Mannes im Schatten begnügen. Als derjenige, der den Weg für jene vorbereitete, die noch nicht geboren waren.
14
Als Niccolò im September 1801 wieder zu Konzerten aufbrach, begleitete ihn Carlo und nicht der Vater. Die beiden Brüder trafen gegen Abend in Lucca ein. Bevor es ganz dunkel wurde, stiegen sie in einer Herberge ab. Carlo mit verzerrtem Gesicht und von Rückenschmerzen geplagt, Niccolò kerzengerade und in berstend guter Laune. Er schien aus Eisen zu sein, das hatte Carlo schon auf der Fahrt über die holprigen Landstraßen bemerkt. An manchen Stellen wurden sie fürchterlich durcheinandergeschüttelt und drohte der Wagen fast umzukippen. Obwohl sich Carlo am Knauf der Wagentür festgehalten hatte, war sein Kopf gegen die Schläfe des Nachbarn gestoßen, der den engen Raum mit dem Gestank seiner Zigarre verpestete. Niccolò hingegen störte sich an nichts und niemand. Scheinbar fasziniert hatte er aus dem Wagenfenster geschaut und seinem Bruder den Eindruck vermittelt, er betrachte die Landschaft. Als sich aber der Zigarrendunst seines Nachbarn etwas verzogen hatte, sah Carlo, dass Niccolò mit geschlossenen Augen und völlig in sich versunken dasaß.
Das Konzert sollte am 14. September in der Kathedrale von Santa Croce stattfinden. Niccolò und Carlo hatten also noch einige Tage Zeit, sich in der Herberge einzurichten. Allerdings wartete auf den jungen Violinisten eine Prüfung, der alle unterzogen wurden, die an dem heiligen Ort musizieren wollten. Da sich Niccolò allen überlegen fühlte, übte er nicht eine Minute. „Was verstehen die Prüfer vom berühmten und großen Hochamt von Santa Croce schon von Musik?“, sagte er sich. „Von meiner Musik und meinem unerreichbaren Spiel verstehen sie absolut nichts! Ich werde sie mit zwei Bogenstrichen mundtot machen.“
Er hatte freilich nicht damit gerechnet, wegen seines langen und straff gespannten Bogens und seiner eigenwilligen Haltung, mit der die Geige ansetzte, verlacht zu werden. Als er einen kichernden Prüfer fragte, warum er von der alten italienischen Geigenschule in der Tradition von Tartini nichts hielte, da er doch als Mitglied des verehrungswürdigen Hochamts bestimmt ein Anhänger der verehrungswürdigen Tradition im Allgemeinen sei, erntete er vom Prüfer einen vernichtenden Blick. Angesichts dieses Blickes senkte Niccolò die Geige, so tief er konnte, setzte seinen straff gespannten Bogen an und spielte die Variationen über „La Carmagnola“.
Was er sich ursprünglich vorgenommen hatte – Jury und andere Musiker mundtot zu machen –, erreichte er dank dieser Variationen. In alternierenden Läufen auf der E-Saite und auf der vierten Saite stellte er zwei Klangfarben gegenüber und gebrauchte häufig Doppelgriffe, was manchen Prüfer glauben ließ, es spielten zwei Geigen. Die folgenden vierzehn Variationen brachten ihm gigantischen Beifall und nahmen den anderen Kandidaten den Wind aus den Segeln. Keiner von ihnen hatte noch den Mut, sich nach Paganini hören zu lassen.
„Warum hast du ‚La Carmagnola‘ gewählt?“ Carlos Augenbrauen zuckten. „In Genua mag das angehen, weil wir die Ideale der französischen Revolution zu unseren eigenen gemacht haben. Aber hier in Lucca …?“
„Auch in Lucca gibt es Jakobiner, Carlo mio! Ganz blöde sind die hier nicht. Denk an Napoleons Worte: Es gab gute Jakobiner, und es gab eine Zeit, in der jeder intelligente Mann zwangsläufig Jakobiner war.“
„Und du, Niccolò, bist auch einer?“
Niccolò zuckte mit den Achseln. Im selben Moment schon hörte er nicht mehr zu. Er dachte an das Fest in der Kathedrale und lächelte in sich hinein. Das diebische Verlangen erregte ihn, den hochverehrungswürdigen Gottesdienern eine Lektion zu erteilen.
Mit dem Festzug erschien auch die Regierung, die Kathedrale füllte sich, in den Seitengängen des Kirchenschiffes