Kranichtod. Thomas L. Viernau
Читать онлайн книгу.des Ortes hatten sich einen Spaß daraus gemacht, mit ihren Katapulten Zielschießen darauf zu veranstalten.
Etwas versteckt am Rande des Dorfes lag das alte Gut mit seinem Park und den alten Wirtschaftshöfen. Auch sie boten jahrelang ein Bild des Jammers. Seit drei Jahren war das Gut wieder belebt. Der alte Quappendorff hatte als erstes Fenster und das Dach des Gutshauses instand setzen lassen, dann die Räume renoviert und eine Zentralheizung einbauen lassen. Der Park wurde vorsichtig entrümpelt und der kleine Teich im hinteren Teil des Parks sah nach zwei Sommern schon wieder ganz manierlich aus. Dennoch war das Pensum der noch zu bewältigenden Aufgaben immens.
Quappendorff hatte vom Landkreis ein paar Strukturfonds anzapfen können und einige brauchbare Mitarbeiter wurden ihm auf Anfrage vermittelt. Aus der Vielzahl der Bewerber für die ausgeschriebenen Stellen hatte er sich drei Leute auserwählt. Den etwas unauffälligen Leuchtenbein, den praktisch veranlagten Zwiebel und die etwas schrille, dafür aber vielseitige Gunhild Praskowiak. Allesamt waren keine jungen Hüpfer mehr, hatten einige Brüche in ihrer Vita, aber waren doch für die Ideen des Barons zu begeistern. Im Übrigen arbeitete er sowieso lieber mit gestandenen Leuten als mit den jungen Hitzköpfen. Das hatte er lange genug als Lehrer praktizieren müssen – jetzt wollte er endlich einmal etwas effizient und zügig durchziehen.
II
Auszug aus dem Gutachten zur
Schätzung und Taxierung des Grundstücks Lankenhorst
A 47/2322/FG-XIII-Az. 03299/01
Lage des Grundstücks: äußere Ortslage Dorf Lankenhorst
Größe: 45 000 qm
Ausweisung: denkmalgeschütztes Ensemble bestehend aus:
1) Gutshaus, erbaut 1821, zweigeschossiger Bau mit
2 Seitenflügeln und Walmdach, überdachte Fläche 1175 qm
2) Torhaus, erbaut 1888, eingeschossiger Bau mit
ausgebautem Dachgeschoß, überdachte Fläche 147 qm
3) Pavillon, erbaut 1847, offener Rundbau, 22 qm
4) Eiskeller, wahrscheinlich 1823 erbaut, einsturzgefährdet
5) Park, alter Baumbestand mit 2400 Laubbäumen und ca.
3000 Nadelbäumen, darunter zahlreiche seltene Arten (u.a.
Eiben, Blutbuchen, Traubenstieleichen), Teich, ca.400 qm,
umlaufende Mauer aus Feldsteinen, zwei Parktore, Zugang zum
Hellsee mit Bootssteg und eigenem Ufer, befestigt
Gesamtschätzwert: 418 000 Euro
Gegenwärtiger Besitzer: Land Brandenburg
Pacht: Stiftung Kultur-Gut Lankenhorst e.V., vertreten durch Rochus von Quappendorff
Pachtdauer: 99 Jahre
gez. Dr. Achim Wellenkamp
Dipl. Architekt, Büro Wellenkamp & Möller, Eberswalde
III
Der Archivar
Rolf-Bertram Leuchtenbein war ein unauffälliger Mensch. Unauffälligkeit war sein Lebensprinzip. Schon als Schuljunge zeichnete er sich durch seine diskrete Art aus. Keiner bemerkte ihn so richtig. Auf dem Schulhof stand er immer etwas abseits, schaute zwar stets interessiert zu, wenn es ab und zu mal zu kleineren Prügeleien kam, aber beteiligen oder gar selbst einmal eine Prügelei anfangen, war nicht sein Ding.
In der Klasse saß er meist weit hinten, blickte oft interessiert aus dem Fenster, nahm aber ansonsten an dem ganzen Unterrichtsgeschehen nicht so richtig teil. Sowohl die Lehrer als auch seine Mitschüler waren etwas ratlos, wie man mit diesem offensichtlich recht langweiligen Menschen umgehen sollte. Seine Eltern, beide schon etwas älter – daher auch der etwas antiquierte Vorname – waren eigentlich ganz froh über den unauffälligen Nachwuchs. Er machte nicht diese Probleme, die andere Eltern mit ihren renitenten Kindern hatten, und er war auch nicht so anstrengend wie die übermäßig begabten Kinder, die ständig beschäftigt werden mussten, um ihren unnatürlichen Wissensdrang zu stillen. Eigentlich ein Glücksfall.
Seine Leistungen waren nicht überragend, aber auch nicht so schlecht, dass man sich schämen musste. Berti, so wurde er damals genannt, schlängelte sich überall durch. Er war der Idealtyp des Mitläufers. Wenn jemand in der Klasse über ihn stolperte, dann lag das vor allem daran, dass man ihn nicht bemerkte.
Berti trug stets ausgesprochen unauffällige Kleidung. Grelle Farben waren im suspekt. Sein Outfit war den Bedingungen einer Polytechnischen Oberschule in einem Berliner Vorort optimal angepasst. Jeans, meist in einem undefinierbaren Farbton zwischen Blau und Grau, graue Pullover und eine olivgrüne Jacke – anders sah man Berti eigentlich nicht in der Öffentlichkeit. Er war nicht groß, aber auch nicht klein. Berti bewegte sich in all seinen schulischen Entwicklungsphasen stets im Durchschnitt. Seine Stimme war nur sehr leise zu vernehmen. Lautes Gebrüll oder andere akustische Signale waren nie von ihm zu erwarten.
Einmal sollte er im Musikunterricht ein Lied singen. Alle waren gespannt und warteten auf diese ungewöhnliche Lautäußerung. Berti kniff. Er entschuldigte sich mit einer plötzlichen Erkältung, die ihn erwischt hatte. Der Musiklehrer schaute etwas ungläubig auf den Jungen und ließ ihn fortan in Ruhe. Es war mitten im schönsten Mai, als das passierte.
Auch später - Berti machte eine Lehre zum Versicherungskaufmann - fiel er durch seine unauffällige Art nicht weiter auf. Erstaunlich war dann jedoch, dass er nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Lehre nicht bei der Staatlichen Versicherung seinen Berufsweg begann. Er revoltierte.
Etwas Unerhörtes schien sich da in ihm seinen Weg zu brechen. Berti, der sich jetzt mit dem etwas cooleren Namen Rolfbert anreden ließ, bewarb sich bei der Stadtbezirksbibliothek von Berlin-Friedrichshain als Aushilfskraft. Natürlich wurde er genommen.
Hier schien er sich sichtlich wohler zu fühlen als im Versicherungswesen. Die Bücher um ihn herum schwiegen still und alles hatte seine Ordnung. Außerdem hatte er hier eine sehr nette und freundliche Kollegin. Eigentlich war es seine Chefin. Eine jugendlich frische, resolute Dame mit goldlockigem Wallehaar und wohlgeformten Rundungen. Allerdings hielt sich Rolfbert diskret zurück. Schließlich sollte man ja nicht während der Arbeitszeit ..., und überhaupt, eine Liaison d’Amour im Arbeitsverhältnis galt immer als problematisch.
Die Wende beendete das paradiesische Leben in den labyrinthischen Gängen der Bibliothek. Rolfbert wurde kurzerhand eingespart, die Stadt hatte andere Sorgen als das öffentliche Lesebedürfnis ihrer Bewohner. Nun fing ein harter und traumatischer Leidensweg für den schüchternen, jungen Mann an. Endlose Gänge durch die Arbeits- und Sozialämter der Stadt, ab und an eine Gelegenheitsarbeit, dann mal wieder eine Umschulung. Rolfberts Alltag wurde immer trister.
Wenig Erbauung hatte er noch. Es schien sich zu rächen, was einst so vorteilhaft war: seine Unauffälligkeit. Ein Wesenszug, der im real existierenden Sozialismus ein sorgenfreies und grundsolides Leben ermöglichte, der aber jetzt in der schrill bunten Welt der Selbstdarsteller und Möchtegernhelden eher kontraproduktiv war. Überall wurde er ignoriert und kam bei Bewerbungen nicht so recht zum Zuge. Stets drängelte sich ein anderer, meist unverschämter Mitbewerber vor und bekam auch stets die begehrte Stelle.
Ihm blieben meist nur tröstende Worte. Eines Morgens fand Rolfbert einen Brief vom Arbeitsamt in seinem Briefkasten. Er solle sich doch bitte bei einem Baron von Quappendorff vorstellen. Eine Stelle als Archivar wäre vakant. Zwar vorerst nur als Dreijahresvertrag, aber mit einem interessanten Einsatzgebiet und einer ganz ordentlichen Entlohnung.
Seufzend setzte sich Rolfbert an seinen Computer, kopierte kurz seinen Lebenslauf, die abgespeicherten Zeugnisse und Referenzen, und tippte eine kurze Bewerbung nach Standardmuster. Viel Hoffnung machte er sich ja nicht.
Ein Baron, nun ja, bisher hatte er mit dem Adel noch nicht so viel Erfahrungen sammeln können. Aber warum denn auch