Nixentod. Thomas L. Viernau
Читать онлайн книгу.Woche war vergangen. Linthdorf hatte die Tage mit banalen Dingen verbracht: Suchmeldungen aus dem gesamten Bundesgebiet, Koordinierungsgespräche mit Kollegen aus Berlin, Berichte schreiben für den Chef. Abends war er erschöpft nach Hause gefahren.
Er lebte in Berlin, fuhr jeden Tag nach Potsdam mit der S-Bahn, den altersschwachen Daimler nutzte er hauptsächlich für Dienstfahrten ins Umland. Er hasste den Berliner Stadtverkehr. Hier wurde er bis in die Haarspitzen gereizt von den aggressiven Fahrern auf den Straßen der Hauptstadt. Es wurde gedrängelt, gehupt, gerast. Linthdorf kam sich jedes Mal vor als ob er im Autoscooter für Erwachsene unterwegs sei.
Also war er vor ein paar Jahren auf die S-Bahn umgestiegen, hier konnte er lesen, und das langsame Dahinruckeln beruhigte ihn. In letzter Zeit allerdings stiegen auch frühmorgens im Berufsverkehr die »Sänger« und Schnorrer mit zu und nervten mit ihren aufdringlichen Betteleien.
Der junge Moser war inzwischen schon in die nächste Abteilung versetzt worden. Die von ihm angefangenen Listen der Zahntechniker hatte Linthdorf auf seinem Tisch, dazu ein Vermerk, mit wie vielen Moser schon telefoniert hatte. Es blieben noch immer knapp sechzig Namen übrig. Seufzend schnappte sich Linthdorf das Telefon und begann die Liste abzuarbeiten.
Einem Anderen konnte er leider diese Arbeit nicht aufhalsen. Die Abteilung war chronisch unterbesetzt. Die vorhandenen Ermittler waren mit dem täglichen Aufkommen vollkommen ausgefüllt. Der Chef der Abteilung kam jeden Morgen und verteilte neue Aufgaben. Die Arbeitsgruppe für das Tötungsdelikt existierte im Moment nur auf dem Papier, die Verantwortung lag bei Linthdorf, und die zugesagten Einsatzkräfte ließen auf sich warten. Jeder hatte auf seinem Schreibtisch genügend Akten zu liegen. Er holte sich einen starken Kaffee, und begann seine Sisyphusarbeit.
Berlin-Wedding
Noch immer Montag, 16. Januar 2006
Am späten Nachmittag, inzwischen war die Liste auf fünfunddreißig Namen geschrumpft, hatte er Glück. Eine Zahntechnikerin aus dem Norden Berlins schien die Arbeit zu kennen. Jedes Mal musste nach dem Telefonat ein Fax mit der Zeichnung des Gebisses versandt werden. Daher dauerte auch die Bearbeitung der Liste so lange.
Jedenfalls rief diese Zahntechnikerin an und glaubte, ihre Arbeit zu erkennen. Linthdorf war wieder hellwach, notierte sich die Adresse und schwang sich in seinen Daimler. Die Zahnklinik lag irgendwo im tiefsten Wedding. Eine Gegend, die Linthdorf nicht sehr vertraut war. Sein Navigationsgerät schickte ihn durch noch nie gesehene Straßen, die fast durchgängig mit türkischen und libanesischen Geschäften gesäumt waren.
In einer etwas ruhigeren Seitenstraße hielt er an. Die Zahnklinik lag im ersten Stock eines alten Gründerzeithauses. Er stapfte die Treppe hinauf, es roch undefinierbar nach etwas Süßlichem. Kurzes Klingeln. Die Tür öffnete sich. Im bläulichen Neonlicht stand eine zierliche Frau mit straff gekämmten Haar und Designerbrille. Sie war sichtlich verwirrt von dem Riesen vor ihr. Linthdorf zückte seinen Dienstausweis.
»Haben wir miteinander telefoniert?«
»Sind Sie der Kripomann?«
»Ja, bin ich«
»Kommen Sie bitte!«
Linthdorf folgte der kleinen Person in ein Büro, das erstaunlicherweise eine sehr angenehme Helligkeit in warmen Farben ausstrahlte. An den Wänden waren farbige Reprodrucke von Impressionisten in einfachen Rahmen. Das Zimmer war mit Kiefernholzregalen möbliert, darin Ordner und Gipsmodelle von Zahnreihen. Hinter einem Schreibtisch saß eine vielleicht fünfzigjährige Frau mit gepflegtem Äußeren und ernster Miene. Linthdorf wollte gerade zu sprechen ansetzen, da hatte sie ihm schon eine Kladde hingelegt.
»Diese Frau ist die Besitzerin des Implantats, welches Sie mir gefaxt haben. Eine ziemlich aufwendige Arbeit.«
Linthdorf griff sich die Kladde, blätterte, notierte sich Namen und Anschrift. Er versuchte noch ein Gespräch mit der Zahntechnikerin anzufangen: »Erinnern Sie sich noch an die Frau?«
Sie zögerte, am Telefon hatte Linthdorf gesagt, es handele sich um ein Gewaltverbrechen.
»Sie ist tot?«
»Ja, wir fanden sie vor drei Wochen in einem ziemlich üblen Zustand, der eine Identifizierung unmöglich machte.«
»Darf man fragen, wo Sie das arme Ding gefunden haben?«
»In einem Fluss. Wehalb möchten Sie das wissen?«
»Ich kenne sie nur flüchtig. Ihre Mutter war schon bei mir. Die hatte gar keine Zähne mehr mit Anfang Sechzig. Scheint wohl erblich zu sein. Jedenfalls kam sie zu mir mit einem sehr desolaten Gebiss, ich glaube, die meisten Zähne waren rettungslos verloren. Sie war starke Raucherin. Nikotin ist Gift für die Zähne, und wenn die Substanz sowieso schon von Hause aus schlecht ist, nun ja, dann ist der Zustand mit Ende Dreißig ebenso wie er hier ist, ehmm, war.«
»Wann war die Frau das letzte Mal bei Ihnen?«
»Ist schon eine Zeitlang her. Warten Sie, ich schaue mal in meinen Kalender.«
Sie drehte sich zu ihrem Computermonitor, tippte ein paar Mal auf die Tasten. »Ja, hier haben wir sie. Karolin Brakel. Am 15. August letzten Jahres.
»Was haben Sie da bei ihr gemacht?«
»Ein Stück Zahn war abgebrochen. Ich musste das Implantat anpassen an den abgeschliffenen Zahnstumpf. Eine knifflige Sache, da vom ursprünglichen Zahn nur noch ein winziger Stumpf übrig war. Dieser Stumpf sollte das ganze Implantat halten. Es war absehbar, dass sie damit in Kürze wieder hier sitzen würde. So hat sich ja das Problem erledigt.«
Linthdorf erhob sich und dankte für die Informationen. Nun begann die eigentliche Arbeit erst. Er hatte einen Namen, eine Anschrift und auch einen Angehörigen. Mehr, als er zu hoffen gewagt hatte nach dem schleppenden Verlauf der Ermittlungen in den letzten Tagen.
Die Anschrift war gleich um die Ecke, jedenfalls ließ die Postleitzahl darauf schließen. Er entschloss sich zu laufen. Seine zerfledderte Berlinkarte, die ihm schon oft gute Dienste geleistet hatte, zeigte ihm den Weg.
Nur vier Straßen weiter war die Anschrift: Brüsseler Straße 18. Er querte die Müllerstraße mit ihren hektischen Händlern und Dönerbuden, tauchte ein in ein Viertel, dessen bessere Zeiten schon lange vorbei zu sein schienen.
Viele Geschäfte standen leer, die wenigen, die noch belegt waren, boten Secondhandklamotten und anderen Billigkram an. Die Hausnummer 18 machte da keine Ausnahme. Das Schaufenster war staubig, in der Auslage waren ein paar alte Bücher aufgestapelt. Mit Pinsel war auf ein Pappschild mit ungelenken Buchstaben »Antiquariat« geschrieben. Im Hintergrund hatte es sich ein Altachtundsechziger in einem Sessel gemütlich gemacht.
Linthdorf kannte diesen Typus Mensch. Wichtig war ihnen vor allem, dass sie unangepasst waren. Gegenüber dem Staat und seinen Organen waren sie misstrauisch und skeptisch. Meistens bekam man keine brauchbaren Antworten.
Linthdorf hatte es sich angewöhnt, incognito zu bleiben und so vielleicht doch etwas mehr zu erfahren. Er betrat das kleine Ladengeschäft, duckte sich, um nicht anzustoßen, begann in den aufgestapelten Büchern herumzustöbern. Der Ladeninhaber würdigte ihn noch keines Blickes.
Linthdorf zwängte sich zwischen den eng stehenden Regalen durch, blieb vor der Krimiabteilung stehen. Ab und zu kaufte er sich einen Paperpack-Krimi, den er meist innerhalb von ein paar Nächten verschlang.
Die Kommissare in diesen Krimis hatten immer viel Action, wilde Verfolgungsjagden, Affären mit zwielichtigen Frauen und am Ende stets den Mörder gefunden. Dennoch mochte er die Krimikommissare. Speziell die Schweden und die Briten hatten es ihm angetan.
Einen besonderen Ehrenplatz hatten die Krimis des Belgiers Simenon. Dessen Helden Maigret fühlte sich Linthdorf seelisch eng verbunden. Aber das Arbeitsumfeld der Krimihelden war meist geprägt von spektakulären Szenerien. Hier in Brandenburg war alles so durchschnittlich und banal. Kein Vergleich zu der zermürbenden und meistens auch recht monotonen Arbeit eines wirklichen Ermittlers.
Die meiste Zeit verbrachte Linthdorf bei der Durchsicht von Akten, beim Abgleich von endlosen Listen