Nixentod. Thomas L. Viernau

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Nixentod - Thomas L. Viernau


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Rufe des Lautsprechers am Bahnsteig waren eine eigenartige Melodie, die für Linthdorf immer eng mit dem Lebensgefühl hier verbunden war.

      Die neuen Züge waren geräumiger und irgendwie resistent gegen alle Gerüche. Es roch immer gleich darin. Ein wenig erinnerte ihn der Geruch dieser Züge an neu gekaufte Gummistiefel.

      Der Zug war nur spärlich voll. Linthdorf hatte genügend Platz für seine langen Beine, musste sich nicht verrenken auf seiner Sitzbank. Draußen folgten die Stationen im Minutentakt: Frankfurter Tor, Samariterstraße, Weberwiese, Strausberger Platz, Schillingstrasse, Alexanderplatz – Endstation.

      Linthdorf eilte durch das Labyrinth der unterirdischen Gänge unterm Alex, treppauf, treppab, vorbei an ratlos herumstehenden Touristen, die hier unten seltsam verloren wirkten, und an den inzwischen hier heimisch gewordenen Schnorrern und Bettlern, die jeden halbwegs freundlich aussehenden Passanten bedrängten. Er kannte diese kleinen Showeinlagen zur Genüge, wich geschickt den Schnorrern aus und setzte dazu ein total finsteres Gesicht auf. Die imposante Größe flößte dabei genügend Respekt ein, so dass er nahezu unbehelligt durch die Unterwelt kam.

      Endlich tauchte die Oberwelt wieder auf. Linthdorf atmete tief durch. Sein Ziel war das Berliner Polizeipräsidium. Hier residierte sein guter Freund Voßwinkel. Bernd Voßwinkel war zuständig für Gewaltverbrechen in der Hauptstadt, das heißt, er gehörte zu der recht großen Truppe von Ermittlern der 3. Mordkommission, die hier halbwegs für Recht und Ordnung zu sorgen hatten. Allein sein Dezernat umfasste mehr als dreißig Mitarbeiter. Zahlen, von denen Linthdorf in Potsdam nur träumen konnte.

      Das riesige Gebäude in der Keibelstrasse beherbergte mehrere hundert Büros, in denen über tausend Beamte beschäftigt waren. Da es oft zu Koordinierungsproblemen zwischen Berlin und Brandenburg kam bei der Jagd nach den Tätern, die sich aus den jeweiligen Zuständigkeitsbereichen überhaupt nichts machten und munter über Landesgrenzen hinweg ihre Fährten hinterließen, war die Zusammenarbeit der Dienststellen von vitalem Interesse für alle.

      Mit Voßwinkel hatte Linthdorf einen kompetenten Partner bei der Berliner Kripo, der schon oft schnell und unbürokratisch geholfen hatte. Gestern hatte er bereits mit ihm telefoniert und kurz angedeutet, dass er mal wieder Hilfe brauchte.

      Voßwinkel nickte verständnisvoll und machte gleich einen Termin für Linthdorf frei.

      Das Büro von Voßwinkel war ein großer Raum, in dem sechs Schreibtische paarweise aufgestellt waren, dazu jede Menge Regale mit Aktenordnern und ständig schrillenden Telefonen. Linthdorf grüßte die drei im Raume anwesenden Mitarbeiter flüchtig, man kannte sich eben.

      Voßwinkel kam auf ihn zu, schüttelte ihm energisch die Hand und bat Linthdorf an seinen Schreibtisch. Der sportlich durchtrainierte Voßwinkel wirkte neben dem massigen Linthdorf wie ein aufgezogenes Rumpelstilzchen. Seine grauen Haare zu bändigen war für Voßwinkel ein Kunststück, das ihm an jedem neu angebrochenen Tag misslang. Früh am Morgen schaffte er es noch, die wirre Pracht mit Wasser und Kamm zu ordnen, im Laufe des Tages jedoch machten sich die störrischen Haare nach jeder Richtung auf und verliehen ihm ein verwegenes Aussehen. Sein etwas lang gezogenes Gesicht mit der randlosen Brille und der Sesamstraßenfrisur ließen ihn als Intellektuellen erscheinen, auch sein Kleidungsstil ließ Rückschlüsse auf seinen eigentlichen Beruf nicht zu. Meist sprang er im T-Shirt und Jeans im Büro herum sein Pistolenhalfter in Wildwestmanier umgeschnallt. Jetzt im Winter trug er noch eine dünne Jeansweste als Kälteschutz.

      Linthdorf wirkte dagegen wie aus einem bürgerlichen Gesellschaftsstück. Stets trug er ein dezent kariertes Sakko, T-Shirts waren für ihn tabu, dafür gab es Hemden. Ein Schal, der schwarze Mantel und der schwarze Hut vervollständigten sein Outfit. Ihm nahm man den Polizeibeamten schon ab. Wenn die Beiden sich gegenübersaßen, konnte man den Eindruck bekommen, dass hier zwei Welten aufeinanderprallten. Dabei harmonierten sie wunderbar.

      »Na, was haste auf’m Herzen?«, eröffnete Voßwinkel das Gespräch.

      »Tja, ne ganze Menge, wenn du mich so fragst«, Linthdorf holte seine Mappe hervor, schilderte kurz den bisherigen Verlauf und erwähnte auch, dass er in der Weddinger Wohnung der Toten war.

      »Ich brauch deine Hilfe. Kannst du ermitteln, wo sich die Mutter der Brakel gegenwärtig aufhält? Auch den Freund der Brakel müssten wir finden. Irgendetwas scheint da nicht mehr im Lot zu sein. Die Wohnung wurde seit Wochen nicht betreten, als ob alle aus dem Umfeld der Brakel spurlos verschwunden sind. Mir ist das suspekt.

      Ich bin auch der Meinung, dass in der Wohnung ein Kind gelebt haben muss. Die Brakel kann aber nicht die Mutter sein. Bei der Obduktion wurde festgestellt, dass sie niemals schwanger war.«

      Voßwinkel nickte nur, notierte eifrig die Daten aus den Akten.

      »Tja, und wenn du das Umfeld vielleicht auch mal etwas beleuchten könntest. Wovon hat sie gelebt, mit wem hatte sie Umgang, na du weißt ja.

      Ich glaube, da könnte ein Ansatz für weitere Ermittlungen liegen, die etwas erfolgsversprechender sein können als unser bisheriges Tun.

      Nägelein drängt darauf, das Umfeld an der Oder im Auge zu behalten. Er hält fest an seiner Theorie mit Menschenschmuggel und Prostitution. Aber da ist meiner Meinung nach die Brakel nicht die passende Person.«

      »Na mal schau’n, was wir da so rausbekommen.«

      »Außerdem müssten die nächsten Angehörigen der Brakel benachrichtigt werden. Meines Erachtens sind das ihre vier Schwestern, allesamt in Süddeutschland lebend. Sie ist ja eigentlich eine Berlinerin, aber der ganze Vorgang liegt nun mal in unseren Händen.

      Ich glaube, da bist du auch nicht so sehr betrübt darüber, wenn wir da weitermachen.« Linthdorf schaute Voßwinkel direkt an.

      Der nickte erleichtert. Es gab genug unangenehme Dinge zu tun. Er blätterte etwas zerstreut in seinem Notizbuch herum, blickte schließlich hoch und fragte Linthdorf: »Haste noch Zeit für nen Kaffee?« Die Beiden trotteten einträchtig nebeneinander den langen Gang entlang Richtung Kantine.

      Es war ein eigenartiges Bild, so dass sich viele nach ihnen umdrehten. Linthdorf war es gewöhnt, dass er für Aufsehen sorgte dank seiner körperlichen Präsenz, für Voßwinkel jedoch war der Zustand ungewohnt. »Mein Gott, ermitteln mit dir zusammen stelle ich mir auch lustig vor.«

      Potsdam

      Mittwoch, 1. Februar 2006

      Am Mittwoch wartete in seinem Dienstzimmer bereits ein Stapel Faxe auf ihn. Es waren die Rückmeldungen zu den Anfragen über die psychedelischen Buchtitel, die er aus dem Antiquariat mitgenommen hatte. Alles wie er befürchtet hatte, weder literarisch wertvoll noch sonst wie brauchbar. Leere Floskeln mit Allerweltsweisheiten.

      Es gab inzwischen auch ein paar brauchbare Fotos der entstellten Frau aus dem Eis. Damit ließ sich schon etwas mehr anfangen. Er stellte das Material zusammen zu einem Rundschreiben, welches an alle Polizeidienststellen in Brandenburg und Berlin gehen sollte.

      Ebenfalls hatte er ein Amtshilfeersuchen an die Berliner Kripo verfasst. So hoffte er, etwas mehr über die letzten Tage der Toten herauszubekommen.

      Die Ermittlungen in Berlin konnte er nicht einfach so fortführen. Immerhin war Berlin ja ein anderes Bundesland mit anderen Zuständigkeiten. Als Brandenburger LKA-Mitarbeiter hatte Linthdorf für Ermittlungen in der großen Nachbarstadt von Potsdam jedes Mal eine spezielle Genehmigung zu beantragen. Das war lästig, da oftmals die Wege der Verdächtigen dorthin führten.

      Die scherten sich wenig um fiktive Verwaltungsgrenzen. Es gab diverse Vordrucke im LKA, die nur ausgefüllt zu werden brauchten. Aber irgendwie waren diese nervigen Bürokratiehemmnisse für ihn ein Grund zu grollen. Längst hätte man die Arbeit der beiden Landespolizeien zusammenlegen können.

      Die Geschwister der Brakel hatte er inzwischen auch benachrichtigt. Diese Augenblicke waren besonders nervend. Irgendwie musste er sich jedes Mal zusammenreißen, wenn er den Angehörigen den unerwarteten und gewaltsamen Tod eines ihnen nahestehenden Menschen mitzuteilen hatte. Es gab auch keine Routine bei solchen Momenten, jedes Mal reagierten die Menschen anders auf die Nachricht.

      Linthdorf


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