Die Anfänge Roms. Harald Haarmann

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Die Anfänge Roms - Harald Haarmann


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die griechischen Kolonisten Süditaliens im Etruskischen als Kreike (← Kraikoi) zu benennen, und diese Namensform wurde auf alle Griechen angewandt, unabhängig von deren Stammeszugehörigkeit. Die Römer unterhielten in der Frühzeit keine direkten Kontakte zu den Griechen im Süden Italiens. Und griechische Waren tauschten sie über die Vermittlung etruskischer Kaufleute ein. Von denen erfuhren sie auch, wie die Leute im Süden genannt wurden, nämlich Kreike, und daraus machten die Römer in ihrer Sprache Graeci.

      Ähnliche Namenbildungen im Sinn von pars pro toto (Teil für das Ganze) findet man auch in anderen Kulturen. Die Franzosen kennen die Deutschen als Allemands, eine Namensform, die sich ursprünglich nur auf den germanischen Stamm der Alamannen bezog. Die Benennung der Engländer im Deutschen leitet sich ab vom Namen eines der Stämme, die an der Landnahme Britanniens beteiligt waren, den Angeln. Im Finnischen heißen die Deutschen saksalaiset, was eine Verallgemeinerung des Stammesnamens der Sachsen ist.

      In dieser Studie werden die multikulturellen Verflechtungen der römischen Zivilisation mit anderen Kulturen ausgeleuchtet, u. zw. mit solchen Kulturen, mit denen die Römer in Langzeitkontakten standen. Im Horizont der Zeit waren diese Kontakte politischen Wandlungen unterzogen, was auch einen Wandel der Prestigewerte in der römischen Öffentlichkeit bewirkte. Die anfängliche Bewunderung der etruskischen Zivilisation schlug in ihr Gegenteil um, in Ablehnung und Tabuisierung.

      Dies hängt wohl in erster Linie mit dem negativen Image des letzten Regenten der etruskischen Königslinie in Rom, Tarquin dem Jüngeren, zusammen. Das negative Image zog sogar sprachliche Veränderungen nach sich. Der lateinische Ausdruck rex, einst glorifiziertes Statussymbol der Könige Roms, verlor diesen Glanz und nahm eine neue Bedeutung an: ›Gewaltherrscher, Tyrann‹. Mit der Vertreibung des letzten Etruskerkönigs im Jahre 510 v. Chr. verbreitete sich eine neue Mentalität, die römisch-republikanisch geprägt war.

      Doch außerhalb der politischen Sphäre normalisierte sich die Einstellung der Römer bald, und die Wertschätzung des etruskischen Bildungsstands blieb als Erziehungsideal lebendig. Auch als Rom in den Auseinandersetzungen mit den etruskischen Stadtstaaten militärisch die Oberhand gewann, veränderte sich die Einstellung der Römer zum etruskischen Kulturerbe nicht, und die meisten waren sich weiterhin des Umstands bewusst, dass die römische Kultur ausgiebig vom etruskischen Einfluss profitiert hatte.

      Wie während der Königszeit, so schickten die römischen Patrizier auch in der republikanischen Epoche ihre Kinder zu etruskischen Lehrern nach Caere (Caisra, Cisra). Gestützt durch etruskisch geprägte Erziehungsideale hielt sich der etruskische Einfluss in vielen Domänen des öffentlichen und privaten Lebens.

      Die Prestigewerte der etruskischen Zivilisation erlebten eine nostalgische Nachblüte, als die Römer zu Beginn der Kaiserzeit im ausgehenden 1. Jahrhundert v. Chr. die historische Retrospektive zur Strategie für ihre Identitätsfindung machten und sich verstärkt an ihre Altertümer erinnerten. Und im Zusammenhang mit dieser Bewegung begann die Beschäftigung mit etruskischer Kultur in den römischen intellektuellen Kreisen en vogue zu sein. Aber das war zu einer Zeit, als sich die meisten Etrusker bereits akkulturiert und römische Lebensgewohnheiten angenommen hatten.

      Die Erinnerung an die Etrusker ist auch über die Antike hinaus durch alle Epochen wach geblieben, obwohl das Interesse an deren Kultur von allerlei Schwankungen des jeweiligen Zeitgeistes abhängig war. Insbesondere Humanismus und Renaissance produzierten allerlei exotisch anmutende Fantasien über die Herkunft der Etrusker. Dazu gehören die Ausführungen im Werk des Dominikaners Giovanni Nanni (1437–1502), besser bekannt als Annius von Viterbo. Annius preist die Etrusker wegen ihrer hochentwickelten Zivilisation. Er deutet Passagen des Alten Testaments aus, macht die Etrusker zu Nachkommen Noahs und lässt sie nach der Sintflut aus dem Osten nach Italien wandern. Der ägyptische Gott Osiris hätte sich in Italien als Vertumnus den Etruskern und als Janus den Latinern eröffnet (Grafton et al. 2010: 339).

      Fantasievolle Erzählungen entstanden auch in der Folgezeit, und diese mischten sich mit Informationen über Funde etruskischer Altertümer, die seit dem 18. Jahrhundert häufiger und systematischer gemacht wurden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten fundierten wissenschaftlichen Studien über die Etrusker und ihre Sprache. Aber es sollte noch lange dauern, bevor sich ein Gesamtbild abzuzeichnen begann (Camporeale 2015: 20 ff. zur Forschungsgeschichte). In den letzten Jahrzehnten sind immer mehr Funde gemacht und ausgewertet worden. Die Flut an immer neuen Daten wächst ständig an. Häufig jedoch hat der moderne Beobachter den Eindruck, dass die Forscher den Wald vor so vielen Bäumen nicht mehr sehen.

      Eine Gesamtdarstellung der Lebensbedingungen der Etrusker fehlt ebenso wie eine umfassende Analyse der Prozesse, über die etruskische Kultur und Sprache im Kontakt mit der römischen Kultur und der lateinischen Sprache auf diese eingewirkt haben. Es geht hier nicht darum, die Entwicklung der etruskischen Kultur und der römischen Kultur als separate Blöcke – entsprechend der konventionellen Kulturgeschichte – darzustellen, sondern vielmehr darum, deren Interaktion auszuleuchten, und dabei das rezeptiv-kreative Potenzial der römischen Kulturgemeinschaft herauszustellen. Die Analysen sollen helfen, den Stellenwert des etruskischen Einflusses zu bemessen, u. zw. unter dem Gesichtspunkt seiner Langzeitwirkung. In der historischen Retrospektive entsteht der Eindruck, dass sowohl Römer als auch Griechen die Rolle der Etrusker verklärt haben, und dass »die Etrusker von der mythischen Tradition dieser beiden Kulturen getarnt worden sind« (Shipley 2017: 15).

      Das etruskische Kulturerbe (und ebenso das über etruskische Vermittlung in die römische Lebenswelt übernommene Kulturerbe der Griechen) blieb erhalten und wurde in vielerlei römischen Transformationen tradiert. Die westliche Welt trat das Kulturerbe der römischen Zivilisation an, und auf diese Weise ist auch vieles vom etruskischen Kulturerbe in spätere Epochen transferiert worden. Es gibt sogar Bereiche des modernen Lebens, in denen die etruskische Komponente gar nicht wegzudenken ist. Ein solcher Bereich ist die Tradition des »Römischen« Rechts. Viele Darstellungen lassen sich darüber aus, wie grundlegend diese Tradition unsere westliche Rechtsauffassung beeinflusst hat.

      Was einer näheren Betrachtung ebenso wert ist, ist der grundlegende Einfluss, der für die Prägung des Römischen Rechts selbst verantwortlich ist. Das ist die vorrömische, etruskisch geprägte Rechtstradition, deren Einfluss auf das öffentliche Leben und die Rechtsordnung während der Königszeit und noch im republikanischen Rom spürbar ist. In der westlichen Tradition des Römischen Rechts gehören lateinische Kernbegriffe wie causa, damnum, norma, titulus (im Sinn von ›Rechtstitel‹), vitium (im Sinn von ›Sachschaden‹ in der Marktwirtschaft) u. a. seit altersher zur juridischen Nomenklatur. All diese und etliche andere Kernbegriffe sind etruskischer Herkunft. Die etruskische Rechtstradition ist nur wenig bekannt und soll hier näher vorgestellt werden.

      Das Gleiche gilt auch für all die anderen Einflussschneisen, über die sich etruskischer Einfluss nachhaltig geltend gemacht hat. Die Etrusker vermittelten den Römern das elementare Know-how zum Aufbau einer Zivilisation im Sinn von »Hochkultur«: Schriftlichkeit, Urbanisierung und Stadtplanung, Architektur (Rundbau, Wasserleitungen), urbane Kommunalverwaltung, Basiselemente des öffentlichen und privaten Rechts, Kalenderwesen, religiöse Feste, Metallverarbeitung (Eisen-, Silber- und Goldschmiedehandwerk), Schiffsbau, Militärwesen, Weinkultur und das Theater. Den etruskischen Fingerabdruck in der Prägung der römischen Zivilisation sichtbar zu machen, ist eine faszinierende Aufgabe, die hier angegangen werden soll.

      Die Namen etruskischer Herrscher, von Kulturschaffenden und politisch einflussreichen Patriziern gehören der Geschichte an, und ihre Bedeutung kommt für bestimmte Perioden zum Tragen. Der Name von zumindest einem Etrusker ist durch alle Zeiten im kulturellen Gedächtnis der Europäer lebendig geblieben. Dieser Etrusker war Maecenas, ein politisch einflussreicher Beamter, der auch die Rolle eines Stellvertreters für Kaiser Augustus übernahm. Maecenas war den Künsten gesonnen, und sein Reichtum ermöglichte ihm eine weitreichende Förderung dichterischer und künstlerischer Talente. Sein Mäzenatentum machte Schule, und sein Name (Maecenas → Mäzen) wurde zum Prestigebegriff im Kulturschaffen (s. Kap. 14).

      Es war ein langer Weg von der rustikalen Idylle auf den sieben Hügeln, als in Italien die Angehörigen vieler Völker lebten


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